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Kernkraft wird "auch länger in Deutschland eine Rolle" spielen

Kanzlerin Merkel ist auf "Energie-Reise" - doch wohin soll sie führen? Günther Oettinger räumt den erneuerbaren Energien zwar Priorität ein - die Kernkraft wird aus seiner Sicht als Brückentechnologie in der EU aber noch Jahrzehnte Bestand haben.

19.08.2010
    Gerwald Herter: Nun bin ich mit dem EU-Kommissar für Energiefragen, mit Günther Oettinger (CDU) verbunden. Guten Morgen, Herr Oettinger.

    Günther Oettinger: Guten Morgen, Herr Herter.

    Herter: Nach Auffassung der Bundesregierung ist die Kernkraft eine Brückentechnologie. Ist das auch die Auffassung der Europäischen Kommission?

    Oettinger: Wir haben auf europäischer Ebene, zumal durch den vierten Vertrag, eine weitgehend umfassende Kompetenz für Energiepolitik, die wir auch nutzen wollen. Es gibt ganz wenige Ausnahmen. Eine ist, dass der Energiemix, das heißt, die Frage, wie irgendwelcher Strom gewonnen wird, ob durch Kohleverstromung, ob durch Gasverstromung, ob durch erneuerbare Energien, ob durch Kernkraft, dass dies Sache der nationalen Gesetzgebung bleibt. Das heißt, wir leben in Europa mit Österreich (in Österreich gab es noch nie Kernkraft seit dem Volksentscheid unter Bruno Kreisky), und wir leben mit Frankreich (in Frankreich werden 85 Prozent des Stroms aus Kernenergie gewonnen und die Franzosen bauen neue Kernkraftwerke), und Deutschland ist mitten drin und die Brückentechnologie, das heißt Kernkraft zu nutzen, bis erneuerbare Energien so weit sind, tragen wir inhaltlich mit und die Kompetenz des Bundestages, des Deutschen Bundestages bleibt.

    Herter: Also das ist auch Ihre persönliche Meinung, das kann eine Brückentechnologie sein?

    Oettinger: Ja. Ich glaube, dass die erneuerbaren Energien unsere Zukunft sind, und deswegen haben wir auch für 2020 in ganz Europa 20 Prozent erneuerbare Energien in der Gesamtbilanz vorgesehen. Das macht beim Strom dann eine Größenordnung von 35 Prozent aus erneuerbaren Energien notwendig. Aber der Weg dorthin und gar zu einer Welt, in der nur erneuerbare Energien Strom gewinnen, dauert noch viele Jahre, und deswegen ist die Brücke eine großartige Idee.

    Herter: Ja. Die Renaissance, so nenne ich das mal, der Kernenergie in Osteuropa, auch in osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten, steht dieser Entwicklung natürlich entgegen. In der Tschechischen Republik, in Rumänien und Bulgarien werden neue Atomreaktoren geplant und gebaut. Halten Sie das denn dann für richtig?

    Oettinger: Wir haben in Europa bei den Mitgliedsstaaten 27 an der Zahl und davon haben derzeit 15 Kernkraft im Energiemix. Zwei kommen neu hinzu, Italien plant und Polen plant. Zehn werden keine Kernkraft einsetzen. Ich gehe davon aus, dass im Energiemix Kernkraft für die nächsten Jahrzehnte eine Rolle spielt und sicher auch länger in Deutschland eine Rolle spielt. Aber daneben werden wir in wachsendem Umfang Energie aus Wind und Energie aus Sonne benötigen, und wenn ein Land wie Deutschland in dem Bereich noch mehr investiert und auch die Förderungen verstärkt eröffnet hat, ist dies ein guter Teil der europäischen Energieevidenz.

    Herter: Aber was wird Deutschland denn dagegen tun können, dass billiger Atomstrom aus osteuropäischen Ländern eine Energiewende verhindert? Einfach die Stromleitungen kappen?

    Oettinger: Nein, das geht nicht. Wir haben den Binnenmarkt. Das gilt für Waren und Güter, für Dienstleistungen, für Finanzdienstleistungen und für Strom. Und es ist mein Bestreben, den Binnenmarkt noch verstärkt auszubauen. Wir haben derzeit noch technische Grenzen, indem in vielen Bereichen die Transportmöglichkeiten nicht ausgebaut sind, zum Beispiel zwischen Spanien und Frankreich oder Frankreich und Deutschland. Der Binnenmarkt wird kommen und es bleibt dann eine Möglichkeit der nationalen Politik, erneuerbare Energien entsprechend zu fördern, dass ihre Markteinführung und auch im Wettbewerb der Preisvergleich mit anderen Energiequellen, namentlich der Kernkraft, möglich bleibt.

    Herter: Aber es gibt keine Möglichkeit, wenn ich Sie recht verstanden habe, Kernenergie zum Beispiel zu diskriminieren. – Nun plant die Bundesregierung eine Brennelementesteuer und die großen Energieversorger in Deutschland haben durchblicken lassen, man könnte da in Luxemburg dagegen klagen, oder sich bei der Kommission beschweren.

    Oettinger: Das wird man dann sehen. Wir werden diese Frage prüfen, wenn wir wissen, wie und worauf die Brennelementesteuer in Deutschland begründet ist. Noch liegt kein Gesetzentwurf vor. Aber ich gehe davon aus, dass der Binnenmarkt von uns durchgesetzt wird. Das ist unser Bestreben. Wir haben einige Verfahren dafür laufen und werden dies auch durch technische Maßnahmen, durch Interkonnektoren, durch Kuppelstellen zwischen den Grenzen entsprechend unterstützen. Und in der Tat: man kann den Import von Strom nicht verhindern, im Gegenteil, und es entscheidet der Exporteur, aus welcher Technik der Strom hergestellt wird.

    Herter: Da wir gerade beim Wettbewerb sind. Das ist ja das, was in der Europäischen Union ausgebaut wird, auch von Ihren Vorgängern ausgebaut wurde. In Deutschland herrscht ein Oligopol. Es gibt dort vier große Stromversorger, also ein Wettbewerb, der stärker sein könnte. Ist Ihnen das ein Dorn im Auge?

    Oettinger: Das betrachten wir, sowohl was den Strompreis anlangt, wie was die Möglichkeit anlangt, den Stromanbieter zu wechseln. Es liegt nicht nur an den Herstellern, es liegt nicht nur an den vier großen Unternehmen, es liegt auch an uns Verbrauchern. Wenn Sie einmal sich selbst prüfen: Wir wissen genau bescheid, welchen Preis Wurst und Fleisch und Brot haben, und vergleichen genau Autos, Gebrauchtwagen, Neuwagen, wenn wir ein Auto kaufen, oder auch weiße Ware und braune Ware, oder auch die Miete, oder auch den Urlaub. Nur beim Strom sind wir eigentlich nicht sehr verbraucherbewusst. Das gilt sowohl für die Stromeffizienz, die Einsparung im Haushalt oder die Nutzung zu Tageszeiten, wo Strom in genügendem Maße bereit steht und billiger ist. Das gilt aber auch für den Anbieter. Das heißt, wir müssen auch den Verbraucher, uns, den Marktteilnehmer informieren, bilden, ihm Bewusstsein verschaffen. Nur dann wird der Wettbewerb auch im Inland entstehen.

    Herter: Da rufen Sie also zum Stromwechseln auf, zum Wechseln der Anbieter auf. – Auf Ihrer Website, Herr Kommissar, ist das Ergebnis einer Umfrage nachzulesen. Demnach ist eine große Mehrheit der EU-Bürger dafür, dass es EU-Bestimmungen für radioaktive Endlager geben sollte. Gehören Sie auch zu den Befürwortern?

    Oettinger: Ja. Wenn ich vorher sagte, dass der Energiemix Sache der Mitgliedsstaaten bleibt, so kann man jetzt hier anfügen, dass die Endlagerung eine Kompetenz der Europäischen Union ist, die wir jetzt auch nutzen wollen. Wir bereiten in diesen Tagen in intensiver Arbeit eine Direktive vor, einen Entwurf vor für ein europäisches Gesetz, in dem wir die Standards für die Endlagerung von Atomabfällen genau festlegen wollen, und zwar sowohl die technischen Standards, die bautechnischen Standards, wie die geologischen Standards, aber auch die Standards für den Betrieb und die Kontrolle und die Sicherheit während der Nutzung eines Endlagers. Ein zentraler Punkt wurde schon erwähnt: wir wollen keinen nuklearen Export. Das heißt, der Weg, dass wir Atomabfälle in Drittstaaten exportieren und dies bezahlen, darf nicht der Weg der Europäischen Union sein.

    Herter: Aber kleinere Länder im Baltikum, Slowenien und zum Beispiel die Slowakei, betreiben Kernkraftwerke. Glauben Sie, dass in jedem dieser kleinen Länder geeignete Endlagerstätten gefunden werden können?

    Oettinger: Das wird sich zeigen. Wir werden wie gesagt unsere geologischen Standards als Beispiel an sehr hohen Kriterien festmachen. Wir gehen davon aus, dass die große Mehrzahl unserer Mitgliedsstaaten diese erfüllen kann. Und wo dies nicht möglich wäre, oder wo sich die Menge nicht ergibt, halte ich auch Kooperationen zwischen den Mitgliedsstaaten für denkbar. Dass der eine die Aufgabe wahrnimmt und der andere im Nachbarland die andere Aufgabe wahrnimmt, das halte ich für denkbar. Aber nicht der Export in Drittstaaten.

    Herter: Also europäische Endlager sind notwendig für radioaktiven Müll?

    Oettinger: In jedem Fall, und zwar dort, wo Kernkraftwerke sind, aber nicht nur dort. Auch Länder, die keine Kernkraftwerke haben, haben atomaren Müll in der Großgerätemedizin, in der industriellen Forschung und in anderen Bereichen. Das heißt, atomarer Müll entsteht überall und jeden Tag. Deswegen sind jetzt Endlager notwendig und wir müssen dringend dafür sorgen, dass diese Streitigkeiten und diese Moratorien, die Vertagungen und Verzögerungen ein Ende haben.

    Herter: Das hieße auch, dass größere Länder mit verschiedenen geologischen Gegebenheiten kleinere Länder, die Atomkraftwerke betreiben, unterstützen müssten?

    Oettinger: Nicht zwingend. Es kann auch umgekehrt sein. Und wenn, dann nur freiwillig. Das heißt, jedes Land ist für seinen atomaren Müll verantwortlich, muss dafür ein Endlagerkonzept planen, erarbeiten und dann auch umsetzen, bauen und in Betrieb nehmen. Ob es mit Nachbarländern, egal wie klein, wie groß, kooperiert, und wenn ja wie, bleibt dann Sache der Mitgliedsstaaten.

    Herter: Das war EU-Energiekommissar Günther Oettinger im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Vielen Dank, Herr Oettinger.

    Oettinger: Ich danke auch. Einen guten Tag!