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Kernteilchen unter der Lupe

Physik.- Atomkerne bestehen aus Protonen und Neutronen – das ist seit den 30er-Jahren bekannt. Dennoch: Viele Eigenschaften des Neutrons sind noch nicht detailliert erforscht. Um das Kernteilchen genauer untersuchen zu können, haben Physiker am Europäischen Forschungsreaktor in Grenoble ihm eine Falle gebaut.

Von Frank Grotelüschen | 07.10.2011
    "Das Gebäude hat 60 Meter Durchmesser. Es ist das größte Reaktorgebäude in der westlichen Welt."

    Peter Geltenbort zeigt nach oben, auf das Kuppeldach des Europäischen Forschungsreaktors ILL in Grenoble. Obwohl der Meiler viel weniger Leistung hat als ein Kernkraftwerk – seine Kuppel ist deutlich größer.

    "Das Gebäude ist deswegen so groß, weil wir neben dem Reaktor auch noch Platz für Instrumente haben, um Forschung zu betreiben."

    Dann schaut Physiker Geltenbort nach unten - in ein Wasserbecken ähnlich einem Swimmingpool. Ein blaues Leuchten zeigt: Der Reaktor läuft.

    "Der Reaktor ist 15 Meter unterhalb von uns. In dem Reaktor werden unheimlich viele Neutronen erzeugt, die man hernimmt, um Materie zu untersuchen, zum Beispiel in der Chemie, in der Biologie, in der Polymerphysik. Neutronen können unheimlich tief in Materie eindringen, ohne die Materie zu zerstören."

    Peter Geltenbort aber will mit den Reaktorneutronen nicht irgendwelche Materialproben durchleuchten. Ihn interessiert das Neutron an sich, seine grundlegenden Eigenschaften.

    "Zum Beispiel wie lange es lebt und ob es ein elektrisches Dipolmoment besitzt. Solche grundlegende Fragen versuchen wir hier am ILL zu beantworten."

    Um sie in aller Ruhe vermessen zu können, müssen die Forscher die Neutronen einfangen und in Fallen sperren. Nur: Der Reaktor erzeugt heiße Neutronen, und die sind schnell, über 2000 Meter pro Sekunde, rund 8000 Stundenkilometer. Um die Raser einfangen zu können, muss man sie erst mal abbremsen, und zwar in zwei Stufen. Stufe 1: ein Behältnis mit flüssigem Deuterium, minus 255 Grad Celsius kalt. Hier müssen die schnellen Neutronen durch.

    "Wie Billard-Bälle muss man sich das vorstellen. Wenn die Neutronen mit den Deuterium-Molekülen zusammenstoßen, verlieren sie Energie. Nach ein paar Zusammenstößen haben sie dieselbe Temperatur wie das Deuterium. Sie haben dann Geschwindigkeiten von etwa 700 Meter pro Sekunde."

    Dann geht's in Stufe 2: die Neutronenturbine. Anders als eine Flugzeugturbine beschleunigt sie nicht, sondern bremst ab, läuft quasi rückwärts. Das Prinzip, erklärt Geltenbort, findet sich auch in einem Tennis-Match.

    "Wie wenn Sie im Tennis einen Stoppball spielen wollen, wenn der Ball auf Sie zukommt: Sie ziehen Ihren Schläger zurück und nehmen dem Tennisball Energie weg. Genau dasselbe machen wir mit dieser Turbine, die die Neutronen runterkühlt auf Geschwindigkeiten von fünf Metern pro Sekunde. Wir Menschen können schneller rennen als so ein ultrakaltes Neutron!"

    Jetzt sind die Kernteilchen langsam genug, um von den Physikern eingefangen werden zu können. Die Falle: eine luftleer gepumpte Tonne aus Edelstahl.

    "Das wichtigste Experiment ist die Suche nach einem elektrischen Dipolmoment vom Neutron. Das Neutron ist elektrisch neutral, besteht aber aus drei Quarks, die elektrische Ladung tragen, positiv und negativ. Und die Ladung ist nicht gleichmäßig verteilt."

    Besitzt das Neutron tatsächlich so ein Dipolmoment, müsste es sich in einem elektrischen Feld ausrichten wie die Nadel im Kompass. Bislang haben Geltenbort und seine Leute zwar noch nichts gefunden. Doch zumindest wissen sie nun, wie groß das Dipolmoment maximal sein kann.

    "Wenn man sich vorstellt, dass ein Neutron so groß ist wie unsere Erde, dann heißt das, dass im Zentrum der Erde der positive Ladungsschwerpunkt und der negative Ladungsschwerpunkt weniger als drei Mikrometer, das heißt weniger als eine Haarstärke voneinander entfernt sind."

    Noch präziser soll ein neues Experiment sein, das die Physiker gerade vorbereiten und mit dem sie das verflixte Dipolmoment des Neutrons ein für allemal aufspüren wollen.

    "Mit dem neuen Experiment sollte das vielleicht erreichbar sein in den nächsten fünf bis zehn Jahren. Wir hoffen schwer, dass wir endlich mal was von Null Verschiedenes finden."

    Was dann gravierende Folgen haben dürfte für die Fundamente der Physik. Denn spüren die Forscher das Dipolmoment tatsächlich auf, wäre dies durch das etablierte Weltbild der Physik, das Standardmodell, nicht zu erklären. Eine neue Theorie müsste her, die sog. Supersymmetrie – womit die Lehrbücher der Physik neu geschrieben werden müssten.