Freitag, 29. März 2024

Archiv

Fehlbildungen bei Neugeborenen
"Vorsicht vor Verunsicherung von Schwangeren"

In Nordrhein-Westfalen häufen sich Fälle fehlgebildeter Hände bei Neugeborenen. Auf ganz Deutschland bezogen seien hier keine Auffälligkeiten bekannt, sagte der Geburtsmediziner Wolfgang Henrich von der Berliner Charité im Dlf. Ein Fehlbildungsregister wäre aber wissenschaftlich hoch interessant.

Wolfgang Henrich im Gespräch mit Jasper Barenberg | 19.09.2019
Porträtbild von Wolfgang Henrich, Direktor der Klinik für Geburtsmedizin an der Charité
Wolfgang Henrich ist Direktor der Klinik für Geburtsmedizin an der Charité (picture alliance/ dpa/ Christoph Soeder )
Jasper Barenberg: Für die Eltern dürfte es ein Albtraum sein, wenn ihr Kind mit einer Fehlbildung zur Welt kommt. In einem Krankenhaus in Nordrhein-Westfalen ist das gleich dreimal geschehen, und zwar innerhalb von wenigen Wochen. Die Säuglinge wurden jeweils mit einer fehlgebildeten Hand geboren. Auffällig erschien die ungewöhnliche Häufung den Verantwortlichen in Gelsenkirchen gleich. Ob sie Zufall ist oder ob die Fälle eine gemeinsame Ursache haben, ist im Moment völlig unklar.
Könnte eine verpflichtende Registrierung von solchen Fällen für mehr Klarheit sorgen? Nach Nordrhein-Westfalen wollen jetzt auch alle anderen Länder Informationen einholen, alle Krankenhäuser abfragen, ob ähnliche Fehlbildungen dort aufgefallen sind. Die Klinik in Gelsenkirchen hat Kontakt zu Fachleuten der Berliner Charité aufgenommen. Zu ihnen gehört auch Dr. Wolfgang Henrich, Kinderarzt und Direktor der Klinik für Geburtsmedizin. Schönen guten Morgen.
Wolfgang Henrich: Ja, schönen guten Morgen!
Barenberg: Bei dieser entscheidenden Frage, Zufall oder nicht, hat ja ein erster Vergleich der betroffenen Familien in Gelsenkirchen von den Medizinern dort keinen Hinweis auf eine mögliche Ursache gebracht. Wie können Sie an der Charité jetzt helfen?
Henrich: Zunächst darf ich korrigieren. Ich bin kein Kinderarzt. Ich bin Leiter der Klinik für Geburtsmedizin der Charité und leite dort auch den Bereich der pränatalen Diagnostik und Therapie. Wir sind eine Klinik mit 5.500 Geburten in einem Einzugsgebiet von 42.000 Geburten in ganz Berlin und sind ein Zentrum, wo wir grundsätzlich sehr, sehr viele Kinder auch mit angeborenen Fehlbildungen geschickt bekommen, so dass ich, um einmal zunächst Entwarnung geben zu dürfen, aus unserer Region bisher keine Häufung in irgendeiner Weise feststellen konnte, dass jetzt mehr Kinder mit angeborenen Hand- oder Extremitäten-Fehlbildungen geboren wurden.
Warum die Charité mit in das Gespräch gekommen ist, liegt letztendlich daran, dass wir auf unserem Gelände in der Charité ein großes Institut für Embryo-Toxikologie haben. Das ist ein Institut, was sich insbesondere damit auseinandersetzt, welche Medikamente in der Schwangerschaft und Stillzeit beispielsweise zugelassen sind, ob es da irgendwelche Häufungen gibt von Auffälligkeiten bei der Einnahme von entsprechenden Medikamenten in Schwangerschaft oder Stillzeit.
Deswegen ist die Charité ins Gespräch gekommen. Es ist aber auch nicht so, dass die Charité jetzt irgendwelche Fälle untersucht, sondern ich will mal sagen, es sind Netzwerke, die es gibt bei den Medizinern, wo man natürlich dann Anfragen stellt, gibt es dort Häufungen beispielsweise in der Region, gibt es mehr Anfragen von Eltern zu diesem Thema, oder von Ärzten. Das ist ansonsten bisher nicht der Fall gewesen.
"Nicht bekannt, dass sich das auffällig gehäuft hätte"
Barenberg: Aber das heißt auch, wenn ich Sie da richtig verstehe, dass Sie zur Aufklärung jetzt der Fälle in Gelsenkirchen zunächst einmal, so habe ich das jetzt verstanden, gar nicht so viel beitragen können?
Henrich: Ja, so ist es. Wir können beitragen, dass wir selbst natürlich jetzt noch aufmerksamer sind und in unserer pränataldiagnostischen Experten-Society, will ich mal sagen. In ganz Deutschland haben wir 40 hervorragende Pränataldiagnostiker, die auf höchstem Niveau sonografieren. Und dann noch mal viele, viele weitere Hunderte, die in den Praxen arbeiten und die differenzierte Ultraschalldiagnostik machen, um beispielsweise angeborene Fehlbildungen schon vor der Geburt auch festzustellen. Da ist bisher nicht bekannt geworden, dass sich das in irgendeiner Weise sehr stark auffällig gehäuft hätte.
Ich will auch noch mal die Gelegenheit nutzen, hier wirklich zu sagen: 96 Prozent der Kinder kommen gesund zur Welt. Meine Vorredner haben es im vorherigen Beitrag sehr schön gesagt: 1:2.000 ist die Wahrscheinlichkeit für solche Fehlbildungen. Das ist nicht so sehr häufig, kann man sagen. Die Ursachen wurden auch genannt. Diabetes ist eine Ursache beispielsweise, das wurde erwähnt, aber auch der Alkohol zum Beispiel ist ein wichtiger Faktor, der schädigend wirkt. Denn viele Frauen – zwischen der vierten und achten Schwangerschaftswoche werden die Extremitäten letztendlich schon zum Teil ausgebildet – wissen zu diesem Zeitpunkt vielleicht nicht, dass sie schwanger sind und dann auch nicht entsprechend gesundheitsbewusst leben. Alkohol und Nikotin ist ein großes Problem. Auch bestimmte Medikamente wie Antiepileptika sollten da sehr behutsam eingesetzt oder eventuell umgestellt werden.
Ich wäre noch sehr, sehr vorsichtig mit einer Verunsicherung von Schwangeren zum jetzigen Zeitpunkt. Nichts desto trotz ist es vollkommen korrekt: Wenn ein solcher Cluster auftritt in einer kleinen Klinik von drei Fällen, muss man eine dezidierte Einzelfallanalyse machen. Man muss sich genau anschauen, gibt es Gemeinsamkeiten mit Medikamenteneinnahmen, dem Gesundheitsverhalten oder dem Wohnort beispielsweise. Letztendlich muss man zugeben: In den 60er-Jahren – das ist jetzt knapp 60 Jahre her – kam Thalidomid auf und 13 beobachtete Fälle waren der Anlass, genauer hinzuschauen. Irgendwann kam man darauf, dass es einen Zusammenhang gab. Aber das ist doch sehr vorsichtig zu betrachten.
Register wünschenswert
Barenberg: Herr Dr. Henrich, das ist ein sehr, sehr seltenes Phänomen, ganz klar. Es verstört natürlich wegen der Häufung. Wir wissen ja auch, dass es in Frankreich zwischen dem Jahr 2000 und 2014 ungewöhnlich viele Fälle von Fehlbildungen der Arme gegeben hat. Da gab es jetzt, soweit ich das gelesen habe, intensive Untersuchungen und es gibt bisher keine Erklärung. Müssen Sie uns auch heute Morgen sagen, dass es sein kann, dass trotz aller Bemühungen man unter Umständen nicht wird feststellen können, ob es eine gemeinsame Ursache gibt?
Henrich: Das ist anzunehmen. Die Franzosen werden daran sicherlich auch hart gearbeitet haben. Und wenn sie nicht zu einem Ergebnis gekommen sind, dann ist das möglicherweise zu befürchten. Vielleicht verschwinden auch diese Cluster wieder und das Phänomen tritt nicht weiter auf.
Zu dem Thema Register vielleicht noch ein Wort. Wir haben eine große Diskussion um die Sammlung von Daten, Gesundheitsdaten von Patienten oder von Schwangeren möglicherweise auch. Ich denke mir, das ist eine grundsätzliche Entscheidung, ob man solche Daten erfassen möchte. Und vor allen Dingen auch, dass man das anonym natürlich machen kann. Wissenschaftlich und akademisch ist das natürlich hoch interessant, so ein Mainzer Register, wie es leider zurzeit, glaube ich, nicht mehr geführt werden kann aus finanziellen Gründen, so etwas aufleben zu lassen und deutschlandweit auszurollen. Das ist sicherlich eine wünschenswerte Geschichte.
Barenberg: Stimmen Sie auch den Medizinern, Ihren Kollegen in Mainz zu, dass es gar kein nationales Register braucht, was ja möglicherweise sehr aufwendig wäre, auf die Beine zu stellen, sondern dass es völlig ausreichend wäre und sehr hilfreich, sehr wertvoll, wenn man das in einigen Regionen installieren würde. Und dann hätte man gleich eine viel bessere Grundlage, sollten solche Häufungen auftauchen?
Henrich: Ja, das in einer Region zu erfassen, ist sicherlich schon mehr, als gar nichts mehr es zu erfassen. Auf der anderen Seite: Ich könnte mir vorstellen, es gibt 750 Geburtskliniken in Deutschland. Und wenn Kinder geboren werden, dann werden die registriert und genauso Fehlgeburten oder Totgeburten oder auch Schwangerschaftsbeendigungen bei irgendwelchen komplexen Fehlbildungen. Es wäre heutzutage im Rahmen der Digitalisierung, meines Erachtens, der digitalen Datenerfassung ein leichtes, anonym Daten zu erfassen und die auch entsprechend wissenschaftlich und auch im Interesse der Gesellschaft und der Schwangeren auszuwerten.
Aber das ist eine politische Entscheidung, ob man so etwas macht. Da möchte ich mich gar nicht so sehr einmischen. Das muss auch auf eine finanzielle Basis gestellt werden. Aber es gibt ja andere Länder, die da wesentlich fortschrittlicher sind, in Skandinavien, die wirklich von der Geburt bis zum Lebensende Gesundheitsdaten erfassen und daraus natürlich hervorragende epidemiologische Studien machen.
Aber das ist ein heißes Thema. Da will ich mich eigentlich gar nicht zu sehr aus dem Fenster hängen. Das ist eine politische und gesellschaftliche Entscheidung. Das Ganze müsste natürlich datengeschützt entsprechend erhoben werden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.