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Kigalis Stadtteil Nyamirambo
Wandel eines früheren Ganovenviertels

22 Jahre nach dem Völkermord steht Ruanda immer noch zwischen Vergangenheitsbewältigung und Zukunftsorientierung. Die Bewohner des Stadtteils Nyamirambo in der Hauptstadt Kigali haben ihrem Viertel bereits ein neues Gesicht gegeben. Früher stand es für Drogenhandel und Prostitution, heute für Zusammenhalt und Fortschritt.

Von Tilo Mahn | 06.11.2016
    Straßenszene in Ruandas Hauptstadt Kigali
    Ruandas Hauptstadt Kigali (dpa/picture alliance Michael Kappeler)
    Jado steht zwischen zwei grünen Pfeilern vor dem Eingangstor der Moschee. Er spricht über Religion und die muslimische Minderheit in Kigali, der Hauptstadt Ruandas. Dabei erzählt er, wie sich während des Völkermordes in Ruanda vor über 22 Jahren Menschen in der Moschee versteckt hatten, um den grausamen Verfolgungen zwischen Hutu und Tutsi zu entkommen. Vier Querstraßen weiter den Hügel hinab ist Jado, der mit vollem Namen Juan de Diyu Imanirakiza heißt, geboren und aufgewachsen.
    Seinen Gästen stellt er sich als Jado aus Nyamirambo vor. Nyamirambo ist eines der ältesten Stadtviertel Kigalis. Hier ist die Geschichte des winzigen afrikanischen Landes lebendig. Heute, wo aus einstigen Zufluchtsorten wie der Moschee wieder ein Ort zum Beten und Verweilen geworden ist, führt Jado Touristen durch sein Heimatviertel. Vorbei an seinem Geburtsort in einem der niedrigen Häuser in Nyamirambo.
    "Dieses Viertel war früher ein verruchter Ort und hatte einen schlechten Ruf. Es gab viel Ärger, weil Muslime hier häufig nicht arbeiten durften. Also haben viele von ihnen in Nyamirambo auf andere Weise versucht, Geld zu verdienen: Mit Drogenhandel und Prostitution. Es gab auch viele Überfälle. Und Frauen, besonders muslimische, hatten kaum eine Chance, hier einen vernünftigen Job zu finden. Zuerst hieß es immer: 'Bist Du Muslimin?' Herkunft und Religion waren extrem entscheidend, ob man hier Arbeit findet."
    Zwischen Diskriminierung und Freundschaft
    Jado hat in seinem Viertel häufig Diskriminierung aufgrund von religiöser und ethnischer Herkunft miterlebt. Genauso spricht er aber über Freundschaft und Zusammenhalt. Nyamirambo im Südosten von Kigali steht für ihn und die anderen Bewohner für einen Platz, an dem sich das eigentliche Leben der Hauptstadt abspielt: Mit all seinen Problemen, Konflikten und seiner Vielfalt. Offiziell gibt es heute keine unterschiedlichen Ethnien mehr im Land. Es gibt nur noch Ruander. Das Gesetz zum sogenannten Divisionismus schreibt das vor. Plakate mahnen an jeder Straßenecke.
    Auf dem Weg durch Nyamirambo sieht man heute Kinder Fußball spielen auf den staubigen Straßen. Sie bolzen auf Tore aus Stangen zwischen den Türen der kleinen Läden. Davor stehen niedrige Öfen aus Ton, auf denen die Ruander ihr Gemüse und Getreide kochen.
    Junge Männer sitzen vor den Häusern auf Steinvorsprüngen und spielen mit Kronkorken Brettspiele auf einem selbst bemalten Spielfeld. Der Blick von hier über die Häuserdächer reicht bis in die grünen Hügel am Rande der Stadt. Ein neues Ruanda soll hier in Kigali entstehen. Die Regierung will ein fortschrittliches Land präsentieren. So wie es die Vision 2020 vorsieht, die das kriegsgebeutelte Land in einen afrikanischen Vorzeigestaat verwandeln soll. Laut dem Plan sollen hier bald die einfachen Lehmbauten Platz machen für gläsern blitzende Wolkenkratzer. In der Stadt der tausend Hügel löst die Zukunft gerade die Vergangenheit ab. Nur Jados Nyamirambo will nicht so recht ins Bild passen.
    "Von meiner Kindheit an habe ich hier bis heute viel miterlebt. Schon während meiner Schulzeit hat mich das Viertel stark geprägt. Hier in Ruanda kommt man mit entsprechend guten Noten nach der Grundschule in eine Art Internat. Normalerweise aber eher Kinder von reichen Eltern, nicht wir aus Nyamirambo. Ich hatte aber gute Noten und bekam also die Chance, auf ein staatliches Internat zu gehen. Dort haben mich Mitschüler sofort nach meinem Namen gefragt und woher ich komme. Als ich ihnen von diesem Viertel erzählt habe, sind alle erstmal erschrocken."
    Image des Stadtteils hat sich gewandelt
    Dabei hat sich Nyamirambo längst von seiner Vergangenheit befreit. Heute prägen das Stadtbild die Boutiquen, Friseursalons, Schneiderstuben und die traditionellen Milchbars, in denen man aus riesigen Stahlbehältern frische Buttermilch serviert bekommt. An kleinen Ständen bieten Verkäufer Früchte, Maiskolben oder die typischen kleinen Pfannkuchen an. Das Leben findet auf der Straße statt.
    Mitten in all dem Gewusel steht etwas zurückversetzt an einer der Straßen das National Women´s Center. Von hier aus startet Jado seine Touren, wenn er Touristen durch sein Viertel führt. Denn dieser Ort steht wie kaum ein anderer für den Zusammenhalt und Gemeinschaftssinn in Nyamirambo. Die heutige Präsidentin des Women´s Center, Marie Aimée Umugeni, hat das Sozialprojekt zusammen mit anderen Frauen vor knapp zehn Jahren gegründet. Um den Frauen im Viertel eine neue Perspektive zu geben.
    "Nach dem Völkermord in Ruanda gab es hier im Land viel mehr Frauen als Männer. Denn meist wurden zuerst die Männer getötet. Also waren nach Ende des Massakers viele Frauen Witwen oder ihre Männer saßen als Verbrecher im Gefängnis. Die Frauen waren quasi allein im Land und sagten sich: Lasst uns zusammentun und zusehen, dass wir das Land wieder aufbauen und unsere Kinder groß ziehen. Unsere Männer können uns nicht mehr helfen. Also müssen wir uns selbst um unsere Familien kümmern."
    Viele der Frauen waren aus Nyamirambo geflüchtet und haben sich erst nach Jahren im Viertel wieder gefunden. Eine kleine Gruppe hatte sich daraufhin regelmäßig getroffen, um sich gegenseitig von ihrem Schicksal zu erzählen. Aus losen den Treffen in privaten Häusern hat sich eine Art Gemeinde von und für Frauen entwickelt. Die Beteiligten wollten die Veränderungen im Land auch als Chance für sich selbst ergreifen. Nach der Rückkehr in ihre Heimat haben Marie Aimée Umugeni und die anderen Frauen so wieder neuen Mut geschöpft.
    "In unserem Land waren die Frauen lange Zeit nicht gleichberechtigt mit Männern. Sie wurden klein gehalten. Als das im Land Thema wurde und Stimmen laut wurden, dass Frauen auch Geld verdienen können für ihre Familie, änderte sich das allmählich. Das war dann auch unsere Chance und wir haben uns klar gemacht: Wenn wir als Frauen zusammenstehen, können wir etwas erreichen. Wir wollten Frauen Mut machen, sich zu stützen und zusammen zu arbeiten."
    Frauen unterstützen sich gegenseitig
    Die Gemeinschaft im Viertel hat über die Jahre hinweg gehalten. Frauen unterschiedlichen Alters, die sich nur von der Straße kannten, sind zusammengerückt. Aus den Treffen ist die Idee für einen gemeinsamen Ort zum Arbeiten und Geld verdienen entstanden.
    Eine Kooperative sollte ihnen erlauben, gemeinsam über die Runden zu kommen. Die Einnahmen aus einem Handwerksbetrieb sollten auf alle Mitglieder gleichermaßen verteilt werden. Bernadette Kamugwera war eine der ersten Frauen, die im neu gegründeten National Women´s Center arbeiten konnte.
    "Ganz am Anfang gab es noch das kleine Gemeinschaftszentrum, das jungen Frauen und Müttern Weiterbildungsmöglichkeiten angeboten hat. Dort konnten wir verschiedene Berufe in Ansätzen lernen. So gab es beispielsweise auch rudimentäre Computerkurse. Schon damals haben wir aber auch nebenbei Dinge mit typisch ruandischem Handwerk hergestellt. Nach und nach haben dann immer mehr Frauen in der Gruppe professionelles Nähen gelernt. Und wir haben uns entschieden, zusammenzuarbeiten. Daraus ist dann die Kooperative entstanden."
    Viele der Frauen waren damals vereinsamt, verwitwet und über Jahre hinweg alleine und orientierungslos. Im Women´s Center haben sie Stück für Stück mit alten Nähmaschinen, Tischen und Stühlen einen Werkraum eingerichtet. So konnten viele wieder in einen festen Tagesrhythmus zurückkehren. Die Frauen haben heute neben Arbeit und Verdienst auch die Möglichkeit, sich auszutauschen und mit und von anderen zu lernen: Englischkurse, Nähunterricht an der vollautomatischen Maschine und eine Bibliothek mit Büchern auf Englisch, Französisch und in der Landessprache Kinyarwanda geben ihnen neue Möglichkeiten, Bildung und Struktur im Leben. Für Marie Aimée Umugeni sind das entscheidende Voraussetzungen.
    "Einige der Frauen hier sind von der Schule geflogen und haben es nie geschafft, eine Ausbildung zu beenden und Lesen und Schreiben zu lernen. Wir wollten das nachholen, weil wir uns gedacht haben: Auch sie müssen lesen und schreiben können, wenn sie zum Beispiel in einer Bank Dokumente unterschreiben sollen. Also gibt es hier seitdem diesen Unterricht und gleichzeitig das System, unsere Einnahmen zu teilen. Jeder zahlt monatlich 1000 ruandische Franc, also gut einen Euro, ein. Wir sammeln alles und geben den Überschuss an eine von uns weiter. Damit diejenige in neue Geschäftsideen investieren kann."
    Tourismus bringt mittlerweile Geld ein
    Geld für das Projekt kommt aus dem Verkauf der Handwerksprodukte, aus Spenden und ausländischen Fördergeldern - und seit einigen Jahren auch aus dem Tourismus. Besucher aus aller Welt zahlen für die Führungen mit Jado und anderen. Die Einnahmen teilen sich die Touristenführer und Mitarbeiter der Kooperative. So konnte Marie Aimée Umugeni für die Werkstätten immer mehr vollautomatische Nähmaschinen kaufen und die Auswahl an Tüchern und Stoffen immer weiter vergrößern.
    In offenen Werkstätten, getrennt durch eine dünne Wand, sitzen Frauen auf Hockern oder auf dem Boden. Mit Nadel und Faden in der Hand sticken sie kleine Ornamente auf die Taschen und Etuis. Im Hintergrund läuft Musik aus dem Radio. Draußen auf der Straße knattern Motorräder vorbei. Wenn Bernadette Kamugwera ihre Nähmaschine mit dem Fußpedal startet, blickt sie erst konzentriert auf die Spindel mit dem Faden - dann verharrt ihr Blick fast regungslos auf dem Ansatz der Nadel, an dem die Muster auf dem Stoff entstehen.
    "So, wie wir hier arbeiten, ist das fast mit einer Universität zu vergleichen. Jeden Tag lernen wir neue Dinge. Und das quasi wie in Arbeitsgruppen. Was wir hier bisher geschaffen haben, verdanken wir vor allem unserer vorherigen Ausbildung."
    Lebhaftes Viertel mit hoher Lebensqualität
    Auf seiner Tour durch Nyamirambo führt Jado seine Gäste vorbei an Werkstätten und Geschäften, in denen Verkäufer die Kleidung und Produkte der Frauen präsentieren und anpreisen. Musik dringt aus den kleinen Geschäften. Frauen tragen ihre Einkäufe in großen Flechtkörben auf dem Kopf nach Hause, häufig mehrmals die gleiche Strecke. Immer wieder die vielen Treppenstufen hinauf und hinab zum kleinen Marktplatz. Aus überdachten Hallen dringt Stimmengewirr bis hoch an die Straßen, durch die Jado seine Gäste führt.
    "Dieses Viertel ist nach wie vor ein sehr lebhafter Stadtteil. Hier bekommt man alles, was man will. Wohnungsmieten sind sehr günstig, überhaupt nicht vergleichbar mit dem Rest Kigalis. Das Leben hier ist eigentlich sehr entspannt. Man kann locker mit 300 ruandischen Franc, also nicht einmal 50 Cent, durch den Tag kommen. Überall gibt es Essen zu jeder Zeit, nach Mitternacht oder früh morgens. Das Leben hier ist wirklich bunt."
    Die Auffahrt aus Lehm zu Nyamirambos Hügel-Labyrinth soll bald einer befestigten Zufahrtsstraße weichen. Auch Nyamirambo soll ordentlicher und strahlender werden, wenn es nach der ruandischen Regierung geht. Doch die Bewohner hier leben nach wie vor ihren eigenen Rhythmus. Mit Produkten aus ihrer Heimat handeln die Bewohner in Markthallen und nutzen weiter ihre handwerklichen Fähigkeiten beim Bohnen pulen oder Maniok-Blätter stampfen. Viele von ihnen träumen wie Bernadette Kamugwera davon, eines Tages ein eigenes kleines Geschäft zu eröffnen.
    "Wir wollen authentisch afrikanisch bleiben. Was wir produzieren, ist zuallererst für hier, für unsere Nachbarschaft, unsere Umgebung bestimmt. Aber natürlich kommen auch Besucher aus anderen Ländern vorbei. Denen können wir dann original afrikanische Produkte zeigen und hoffentlich auch verkaufen. Diejenigen, die hier vorbeikommen, nehmen dann auch ein Stück Erinnerung an Ruanda aus Afrika mit."
    Bewohner wollen authentisch afrikanisch bleiben
    In Ruanda, dem Land der tausend Hügel, kehrt der Fortschritt mit europäischem Gesicht und von Regierungsseite angeordneten Projekten und Aufräumarbeiten ein. In Nyamirambo geben winzige Friseurläden und verwinkelte Stoffgeschäfte eine Antwort auf die Frage nach den afrikanischen Wurzeln Ruandas. Einheitliche, schillernde Bürofassaden aus Kigalis Stadtzentrum stehen hier bunt bemalten Wänden mit Postern, Bildern und Fotos entgegen. Die Bewohner des kleinen Stadtteils wollen sich und anderen beweisen, dass sie ihr Schicksal und die Zukunft Ruandas selbst in die Hand nehmen können.