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Kinder mit Migrationshintergrund
Unerkannt hochbegabt

Dass vielleicht nicht Rebekka oder Moritz die intelligentesten Kinder in der Klasse sind, sondern Selda oder Onur – das kommt vielen nicht so in den Sinn. Hochbegabte Kinder mit Migrationshintergrund werden deshalb immer noch viel zu selten erkannt. Forscher der Uni Nürnberg wollen das ändern.

Von Andrea Lueg | 24.11.2014
    Unterricht an der Heinz-Brandt-Sekundarschule in Berlin-Weißensee.
    Bei Kindern mit Migrationshintergrund wird häufig erst gar keine Hochbegabung vermutet. (picture alliance / dpa / Stephanie Pilick)
    In einem Hörsaal der Uni Köln haben es sich heute keine Studierenden an den abgeschabten Klapptischen bequem gemacht, sondern Eltern und Lehrer. Vorwiegend mit türkischem Background. Die Ostas sind gleich mit der ganzen Familie zum Workshop über hochbegabte Migrantenkinder in Köln gekommen, die Eltern mit beiden Söhnen, 13 und 16 Jahre alt.
    "Die sind begabt für uns als Eltern und die sind auch gut in der Schule. Der Jüngere war erste Klasse, direkt dritte Klasse übersprungen, der geht auch aufs Gymnasium. Deswegen kucken wir, vielleicht sind unsere Söhne auch begabt und kucken wir, was wir machen können, deswegen sind wir hier."
    Grundsätzlich finden sich unter den türkischstämmigen Schülern natürlich genauso viele Hochbegabte wie unter den deutschstämmigen. 30.-90.000 müssten es in Deutschland sein, meint Seminarleiter Marold Reutlinger vom Lehrstuhl für Pädagogische Psychologie und Exzellenzforschung an der Uni Nürnberg:
    "Wenn man allerdings in die Fördermaßnahmen reinschaut, in die Beratungsstellen, schulpsychologischen Diagnostikstellen, findet sich dort weniger als ein Prozent Personen mit Migrationshintergrund, das heißt, die meisten werden einfach nicht erkannt und nicht unterstützt und nicht gefördert."
    Die Ursachen dafür sind vielfältig: "Es sind einmal Stereotype, die vorherrschen, sowohl bei Eltern als auch bei Lehrkräften, dass ein hochbegabtes Kind eben keinen Migrationshintergrund hat."
    Die Stereotype besagen, dass Migranten weniger gut in der Schule sind, weniger intelligent und sie auch weniger Bildungschancen haben. Dieses falsche Bild von Lehrern und Eltern wirkt sich dann auch auf die Kinder aus: Sie haben geringe Erwartungen an sich selbst, weniger Selbstvertrauen, unter Umständen auch eine geringere Motivation. Das führt wiederum zu geringerem Schulerfolg. Und so geht der Kreislauf weiter. Zudem haben Migrantenkinder zum Teil ein Sprachdefizit und somit auch bei Intelligenztests Nachteile.
    Sprachfreie IQ-Tests gibt es in Deutschland kaum und die wenigen, die in Deutsch und Türkisch vorliegen, stammen aus den 50er-Jahren und sind heute nicht mehr brauchbar.
    Stereotype im Kopf
    Nur wenige Lehrkräfte haben in ihrer Ausbildung mit dem Thema Hochbegabung zu tun gehabt, mit Hochbegabung bei Migranten schon gar nicht. Sie wissen unter Umständen nicht, das begabte Kinder nicht unbedingt immer durch tolle Leistungen auffallen.
    "Was bekannt ist, dass Symptome von ADS und ADHS teilweise mit Verhaltensmustern von gelangweilten hochbegabten Kindern sehr ähnlich sind. Da ist es für die Lehrkräfte sehr wichtig, das unterscheiden zu können, hängt aber auch sehr stark mit den Erfahrungen zusammen, die Lehrkräfte mit hochbegabten Kindern sammeln konnten."
    Selma Yavash unterrichtet an einer Hauptschule in Köln-Wesseling und will wissen, wie sie Begabung bei ihren Schülern besser erkennen kann.
    "Als ich diesen ersten Vortrag mir angehört habe, sind ein paar Schüler in meinen Kopf gekommen, wo ich sagen könnte jetzt, vielleicht waren diese Schüler ja hochbegabt, die aber leider falsch diagnostiziert wurden und ohne Abschluss die Schule verlassen haben."
    Dabei hilft es in diesem Fall nicht unbedingt, wenn es mehr Lehrkräfte mit türkischem Hintergrund an den Schulen gäbe. Denn auch die, so vermutet Marold Reutlinger, haben die gleichen Stereotype im Kopf.
    "Man kennt's aus anderen Bereichen, dass eben zum Beispiel auch weibliche Lehrkräfte trotzdem das Stereotyp mit verankert haben und auch dementsprechend handeln, dass Mädchen weniger begabt in Mathe sind, selbst wenn die Lehrkraft ne weibliche Mathematik-Lehrkraft ist, somit ist dadurch nicht automatisch eine bessere Situation gegeben."
    Fünf Workshops der Nürnberger Forscher wurden im Deutsch-Türkischen Wissenschaftsjahr finanziert. Damit wollen Marold Reutlinger und seine Kollegen vor allem Lehrkräfte sensibilisieren und dazu bringen, sich bei Migrantenkindern weniger auf Defizite zu fokussieren und dafür mehr auf Potenziale und Begabungen. Auch in der Lehrerausbildung könnte noch viel getan werden und an Forschung zum Thema fehlt es sowieso. Die Workshops waren eigentlich nur ein erster Schritt.