Cynthia und Luz arbeiten an den Wochenenden und an manchen Tagen unter der Woche in der Ziegelei von Santa Barbara. Der Ort liegt etwas außerhalb von Cajamarca, einer Stadt im Norden Perus mitten in den Anden, auf rund 2700 Meter Höhe. Gemeinsam mit anderen Kindern schaufeln die Mädchen groben Sand durch ein Sieb oder tragen getrocknete Lehmziegel in ein überdachtes Gebäude. Sie arbeiten, weil sie das Geld brauchen, um zur Schule zu gehen und die Eltern keines haben, sagen sie.
"Die Sonntage sind ziemlich anstrengend, wir werden sehr müde und ja, so gehen wir in die Schule."
Gemeinsam verdienen sie an einem Sonntag 5 Soles, ungefähr 1 Euro 50. Je nach Auftragslage kommen sie auch unter der Woche ein paar Mal.
Schauplatzwechsel. In einem Restaurant in Lima, im Stadtteil Barranco, treffe ich den ersten Kämpfer für Kindergewerkschaften: den ehemaligen Arbeiterpriester Alejandro Cussiánovich. Er erzählt von einem Erlebnis, das seine Wahrnehmung von arbeitenden Kindern veränderte. Bis dahin sah er sie als Opfer, Kinderarbeit als etwas, das es abzuschaffen galt. Dann, 1958, lernte er als Lehrer einen Schüler kennen, der ständig zu spät in die Schule kam. Eines Tages fragte er ihn nach dem Grund dafür.
"Und er hat mir geantwortet: 'Ich stehe jeden Tag um vier Uhr auf und gehe 22 km nach Carabayllo, um von den Bauern Gemüse zu holen und es dann ins Restaurant zu bringen, wo meine Mutter arbeitet. Ich komme nach Hause zurück, lasse alles für meine Mutter dort, frühstücke und gehe in die Schule'. Nach der Schule ging er wieder zu seiner Mutter ins Restaurant und half, bis der letzte Betrunkene gegangen war. Und danach fing er an, seine Hausaufgaben zu machen und schlief dabei immer ein."
"Wir brauchen mehr menschenwürdige Arbeit für junge Leute"
Der springende Punkt für Cussiánovich: der Junge war stolz darauf, seiner Mutter zu helfen und war trotz der Arbeit ein guter Schüler.
In Lateinamerika haben sich gegen Ende der 1970er-Jahre soziale Bewegungen in Armenvierteln formiert. Aus christlich orientierten Organisationen von jungen Arbeitern entstanden in Peru erste Kinderarbeiterorganisationen, die es bis heute gibt. Die Kinder wollen arbeiten: nicht nur weil die Familien das Geld brauchen, sondern auch, weil sie sich durch ihre Mithilfe als gleichwertige Mitglieder der Gemeinschaft erfahren. Allerdings fordern sie faire Bedingungen: keine zu schwere Arbeit, keine gefährliche Arbeit, Zeit für die Schule, gerechten Lohn.
Bolivien erlaubt seit 2014, dass Kinder bereits ab dem 10. Lebensjahr leichten, selbstständigen Arbeiten "im familiären und sozialen Rahmen" nachgehen und ab 12 Jahren für Erwachsene arbeiten dürfen.
Dabei hat Bolivien, ein Land mit 850.000 arbeitenden Kindern - wie auch die meisten anderen Staaten weltweit – Abkommen gegen Kinderarbeit unterzeichnet. Mit seiner Regelung verstößt es gegen die ILO-Richtlinien zum Mindestalter für Kinderarbeit, sagt Simon Steyne von der Internationalen Arbeitsorganisation.
"Bolivien hat eine Arbeitsinspektion mit nur 69 Beamten. Wir brauchen mehr menschenwürdige Arbeit für junge Leute, die das Mindestalter für die Arbeit erreicht haben, aber noch nicht 18 sind. Aber sie wollen das nicht. Es soll kein Mindestalter geben. Alle Kinder sollen arbeiten dürfen. Und wir sagen: die Regierung hat eine Verantwortlichkeit die Menschenrechte der Kinder zu schützen."
Auf die Realität der Familien und Kinder eingehen
Das Arbeiten zu verbieten und damit den Lebensunterhalt zu gefährden, ist sinnlos und gefährlich, halten Kritiker der ILO entgegen. Geld verdienen müssten die Kinder aus existenziellen Gründen ja trotzdem. Kinder, die arbeiten, benötigten vielmehr Schutz von Staat, Gewerkschaften oder NGOs.
Experten wie Manfred Liebel verlangen deshalb mehr Flexibilität in der Frage des Mindestalters, um auf die Realität der Kinder und ihrer Familien eingehen zu können. Er ist Gründer und Leiter des Masterstudienlehrgangs Kindheitsstudien und Kinderrechte an der Freien Universität in Berlin.
"Diese Konvention selber wird, und zwar gerade von unabhängigen Wissenschaftlern, in Frage gestellt, ist aber leider nach wie vor oberste Richtschnur. Und die liegt immer den Stellungnahmen der ILO zugrunde."
Die Konvention sei also sinnlos und erschwere pragmatische Ansätze, die den Kindern tatsächlich helfen könnten. Wichtig ist, sagen Experten, dass die Kinder in kritischen Situationen von Erwachsenen unterstützt werden. Denn wenn sie illegal arbeiten und ausgebeutet werden, gibt es oft keine Instanz, an die sie sich wenden können.
Kinder singen Kinderrechte in einem Workshop. NGOs fördern solche Projekte, damit die Kinder lernen, für ihre Rechte einzutreten. Manfred Liebel, der früher solche Workshops geleitet hat, gehört heute zu den prominentesten Verfechtern für Kinderarbeit. Er ist immer wieder von den Kindern überrascht: von ihrer Resilienz und oft auch Weisheit, mit denen sie ihren eigenen Lebensumständen begegnen. Der Soziologe erinnert sich an ein Treffen von 100 Kindern in Nicaragua, die ihren Vorstand wählen wollten: 8 Jungen und 2 Mädchen, lautete der erste Vorschlag.
"Und als es dann im Plenum zur Diskussion kam: Ein Mädchen, 12 Jahre alt, hat vorher nie den Mund aufgekriegt, fing plötzlich an zu reden: Das geht nicht, wieso sollen wir nur zwei sein. Sie hat eine feministische Rede losgelassen und sich durchgesetzt. Das ist das Ergebnis dieser spezifischen Situation, wo Kinder untereinander sind und die Möglichkeit haben, ihre Angelegenheiten selber zu regeln. Nicht da, wo Erwachsene ihnen ständig sagen, was sie zu tun haben, sondern da, wo sie das Gefühl haben, sie können selbst entscheiden."