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Kinderbuch "Bruder Wolf"
Vom eigenen Familiendrama

Ihre eigene Familiengeschichte hat die portugiesische Autorin Carla Maia de Almeida in dem Buch "Bruder Wolf" aufgearbeitet. Es handelt von Arbeitslosigkeit, Verarmung und dem Auseinanderbrechen einer Familie - und ist ein poetisches Gesamtkunstwerk geworden.

Von Christine Knödler | 30.07.2016
    Schloss Blutenburg vor den Toren Münchens ist ein pittoresker Ort: ein altehrwürdiges Gemäuer mit Kirche, Hof, Schänke. Im Schloss ist die Internationale Jugendbibliothek beheimatet. Ein kleiner See vor den Mauern macht die Idylle perfekt. Wenn von hier aus überhaupt etwas fliegt, sind es weiße Schwäne. Und gelegentlich weiße Raben. Dann nämlich, wenn die internationale Kinder- und Jugendliteratur zum White-Ravens-Festival eingeladen ist. Eine der Gäste war die portugiesische Journalistin, Übersetzerin und Autorin Carla Maia de Almeida. Ein bisschen scheu, dabei überaus aufmerksam und zugewandt, berichtet sie von ihrem Schreiben. Später wird sie aus dem ersten ihrer Bücher lesen, das gerade auf Deutsch erschienen ist: "Bruder Wolf".
    "Wenn es kalt war, regnete oder die Sonne schien, hatte das mit der Jahreszeit zu tun. Jacken, Stiefel, Kapuze, Handschuhe, Schals, Sandalen, T-Shirts, Hosen, alles Arten, sich der Zeit entsprechend anzuziehen. Das verstand ich. Das war leicht. Sogar wenn Schwarzer Elch auf dem Sofa vor dem Fernseher saß und mit zusammengebissenen Zähnen sagte: "Wir leben in unregierbaren Zeiten", wusste ich, ob das gut oder schlecht war, allein schon an der Art, wie er den Sender wechselte. Gelangweilt, zap, ärgerlich, zap, zap, am Boden zerstört, zap, zap, zap. Aber "zur falschen Zeit geboren sein", nein, das verstand ich nicht."
    Zu dieser falschen Zeit ist Bolota ein Kind, acht Jahre alt. Sie versteht so gut wie nichts von dem, was ihrem Vater, dem sie den Namen eines Indianerhäuptlings gibt - "Schwarzer Elch" -, ihrer Mutter, ihren Geschwistern, ihrem geliebten Hund passiert. Also nimmt sie sieben Jahre später die Spurensuche auf, die zur Sinnsuche wird und Bolota zur Erzählerin ihres eigenen Familiendramas macht. Und zwar zu einer Erzählerin erster Güte.
    Bolota ist eine empathische Beobachterin
    Denn Bolota verwandelt nicht nur geistreich Realität in Fantasie, sie ist zudem eine überaus empathische Beobachterin und unermüdliche Sammlerin. Ihr entgehen die Dinge, die nicht stimmen, so wenig, wie die Stimmungen, die Stimmen. Sie hört, was gesagt wird, und was nicht, stattdessen seltsam im Raum zu schweben beginnt, bis es sich wie eine Staubschicht auf die Möbel und Menschen legt.
    Dass die Räume kleiner werden, die Möbel rarer, die Menschen müder, dass sie schließlich lauter schweigen als sprechen, sind nur einige von Bolotas Beobachtungen. Was sie zu erzählen hat, ist die Geschichte eines sozialen Abstiegs. Die Stationen: Arbeitslosigkeit, Verarmung, das Auseinanderbrechen einer Familie.
    Ein poetisches Gesamtkunstwerk
    Realistischer Stoff also, der zum sozialkritischen Rührstück taugen würde, doch Carla Maia de Almeida hat daraus ein poetisches Gesamtkunstwerk gemacht. Der eigenwillige Rhythmus und Klang – zap, zap, zap –, die bildreiche Sprache, von Claudia Stein in allen Zwischentönen übersetzt, die Verweise und Anspielungen, die Illustrationen des portugiesischen Grafikdesigners António Jorge Goncalves sind nur einige der Bau- oder eher Edelsteine dieses außergewöhnlichen Textes. Der führt auf zwei Ebenen Erinnertes und Erlebtes eng:
    "Ich wusste, dass ich zwei Stimmen brauchen würde: Die eine, um die Geschichte aus dem unschuldigen Blickwinkel von Bolota zu erzählen, als sie acht Jahre alt ist, und die andere, die der 15-jährigen Bolota, in der Erinnerung wiederhergestellt wird und das, was passiert ist, gestaltet."
    Ein organischer Prozess sei das gewesen, sagt die Autorin und kramt aus ihrer Tasche einen Stapel Papier mit Listen, Zeitleisten, Figurenkonstellationen. Sie sehen aus wie Baupläne einer komplexen Konstruktion. Der trägt auch die visuelle Gestaltung des Buches Rechnung. Blau hinterlegt ist der Rückblick der 15-jährigen Bolota. Die Perspektive der Achtjährigen steht auf weißem Grund. Pechschwarz wird der, als Weiß und Blau aufeinandertreffen, als die letzte Hoffnung des Vaters platzt, Wirklichkeit, Traum, Albtraum nahtlos ineinander übergehen und in einer Katastrophe enden. Das alte Familienhaus, das Schwarzer Elch wieder bewohnbar machen wollte, ist eine Ruine. Den Rang des Stammeshäuptling hat er damit endgültig verspielt. Den "Sommer der Großen Durchquerung der Todeswüste", wie Bolota das folgerichtig im Ton alter Indianerlegenden nennt, wird er nicht überleben, aber als Held in die Ewigen Jagdgründe eingehen.
    Doch zuvor sind Vater und Tochter zu einer Reise aufgebrochen, die alles wieder gut machen sollte. Dabei machen sie auch bei einer Freundin des Vaters halt:
    "Eigentlich war die Tolle Taube gar nicht besonders toll, und sie sah auch nicht aus wie eine Taube. Sie hatte einen Körper wie ein Vogel Strauß und ein Gesicht wie ein Wellensittich, das war nicht zu übersehen. Kaum waren wir aus dem Auto gestiegen, kam sie angehopst und umarmte Papa, machte: Hiii! Hiii! und gab ihm lauter Küsschen auf die Wange. Diese Küsse waren nicht wie die von Blanche, eher wie die von einem Wellensittich. Als würde sie Vogelfutter von einem Teller aufpicken – pick, pick, pick."
    Eine Utopie, die nicht erreicht wird
    Das ist halbtraurig, vor allem aber komisch. Und wieder spielt die Autorin mit Sound und Silben – pick, pick, pick –, kreist Erfahrung ein, deutet an: das Ende der Liebe der Eltern genauso wie die Reise, die Schwarzer Elch zur Expedition erklärt hat. Flucht und Aufbruch zugleich ist es eine Reise Richtung Utopie, zum Nirgend-Ort, an dem das Leben gelingen möge. Bolota und Schwarzer Elch steuern ihn an, aber erreichen ihn nicht. Wie auch? Es ist das Wesen jeder Utopie.
    Unausgesprochen und kunstvoll ist das hoch gepokert, und die Frage stellt sich, für wen die Autorin eigentlich geschrieben hat. Die wird fast kämpferisch:
    "Ich war mir irgendwann sicher, dass diese Geschichte für Teenager, junge Erwachsene und Erwachsene sein würde. Ich wusste, dass sie nicht für Kinder funktioniert. Sie ist nicht für Kinder gedacht. Aber ich habe bei dieser ganzen Diskussion gemischte Gefühle: Einerseits möchte ich nicht als Kinderbuchautorin etikettiert werden, andererseits glaube ich, dass Kinder- und Jugendliteratur literarisch sein muss. Sie muss bei guten Festivals vertreten sein, sie braucht Platz in den Medien. Und die einzige Art, das zu erreichen, ist zu bekennen: Ja, ich bin Kinderbuchautorin, obwohl ich für Menschen jeden Alters schreibe."
    Dafür hat Carla Maia de Almeida viel riskiert und ganz gewonnen. Am Ende ist Bolota nicht nur eine Erzählerin erster Güte geworden. Wie eine Geologin hat sie Schicht für Schicht ihrer Familiengeschichte abgetragen und Satz für Satz ein neues Fundament errichtet, um irgendwann Neues erzählen zu können.
    Denn der Weiße Rabe Carla Maia de Almeida, der vom See vor Schloss Blutenburg aus gestartet ist, fliegt hoch und weit. Zum Glück ist er nun auch im deutschsprachigen Raum gelandet.
    Carla Maia de Almeida: "Bruder Wolf"
    Aus dem Portugiesischen von Claudia Stein. Mit farbigen Bildern von Jorge António Goncalves, Sauerländer 2016, 160 Seiten, Preis: 14,99 Euro, ab 12 Jahren