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Kinderbuchklassiker aus der DDR
Das Subversionspotenzial zeitlos guter Kinderbücher

"Alfons Zitterbacke" oder "Der Zauberer der Smaragdenstadt" - die meisten DDR-Kinderbücher sind im Westen nahezu unbekannt. Nur im Osten liefen Neuausgaben dieser Klassiker bislang gut. Doch schon seit geraumer Zeit versuchen Verleger, die besten von ihnen unter die Leute zu bringen.

Von Nils Kahlefendt | 22.09.2018
    2 Kinderbuchklassiker der DDR
    Zwei Kinderbuchklassiker der DDR (Cover: Eulenspiegel Kinderbuchverlag und Leiv Verlag / Hintergrund: dpa / picture-alliance / Ralf Hirschberger)
    Kaum einer der namhaften Autorinnen und Autoren der DDR war sich zu schade, für Kinder zu schreiben. Das begann mit Brecht, Hacks und Strittmatter und hörte mit Günter Kunert, Franz Fühmann, Christoph Hein oder Thomas Rosenlöcher nicht auf. Dazu kam die handwerkliche Qualität von Spitzen-Illustratoren wie Klaus Ensikat, Egbert Herfurth, Volker Pfüller oder Manfred Bofinger. Das Spektrum der Themen reichte von Mythen-Adaptionen und Kunstmärchen bis zu phantastischer Literatur, Kinder- und Jugendromanen und Bilderbuchgeschichten.
    Der Markt für DDR-Klassiker ist geteilt
    Fast 30 Jahre nach der Wende zeigt sich der Markt in Bezug auf Autoren und Texte der DDR-Kinderliteratur streng zweigeteilt: Während sich im Osten gerade Neuausgaben von Bilderbuchklassikern noch immer sehr gut verkaufen, sind sie im Westen weitgehend unbekannt geblieben. Umgekehrt laufen die wenigen mutigen Neu-Interpretationen berühmter DDR Kinderliteratur-Texte durch zeitgenössische Illustratorinnen, wenn überhaupt, nur im Westen, im Osten liegen sie wie Blei in den Regalen. Die Suche nach Gründen und Ursachen beginnt in einer Leipziger Buchhandlung, die inzwischen selbst schon Geschichte ist. Ein Kunde an der Kasse fragt:
    "Würden Sie mir einen Spaß erlauben, dass Sie einen einmal signieren? Damit ich weiß, dass ich mal einen bei Ihnen gekauft habe? Die anderen haben nämlich meine Freunde gekauft bei Ihnen, und da war ich nie dabei. Unterschreiben sie einfach mit Ihrem Namen. Schreiben Sie doch einfach: Gekauft bei … Das ist viel lustiger und schöner!"
    Eine Buchhandlung in Leipzig muss schließen
    So etwas hat Siegfried Jahn, Betreiber der Buchhandlung Interart in der Leipziger Königshofpassage, in fast 50 Jahren Berufspraxis noch nicht erlebt: Ein Kunde, der das Objekt seiner Begierde – ein Sammelband der DDR-Comiczeitschrift "Mosaik" - von ihm, dem Buchhändler, signieren lassen möchte! Doch zum Wundern ist keine Zeit. Jahn steht heute zum letzten Mal im Laden. 23 Jahre betrieb er die auf Kinderbücher, vor allem solche aus DDR-Produktion und ihre Wiederauflagen, sowie ein Indianistik-Sortiment ausgerichtete Buchhandlung in der immer schicker werdenden Passage. Ein Exot. Als er 1995 aufsperrte, lief das kleine Regalbrett mit DDR-Kinderliteratur so gut, dass er sich in der Nische einrichtete. Kunden sind nicht nur die in die Jahre gekommenen Kinder der DDR, sondern auch viele Mütter und Väter, die nach 1989 geboren wurden.
    Ein großer Fundus an Kindergeschichten
    "Ich bin mit "Sherlock Holmes" und "Die ???" groß geworden. Ich bin mir aber sehr, sehr sicher, dass ich schon "Der kleine Angsthase" von Elisabeth Shaw kannte. Ich hab’s damals verschlungen, hab’s aber gar nicht wahrgenommen als Kinderbuch aus dem Osten."
    Andrea Baron, als Lektorin bei Beltz in Weinheim zuständig für das Imprint Der KinderbuchVerlag, weiß nicht, wie es dieses Lieblingsbuch ins Schlafzimmer ihrer bei Hamburg wohnenden Oma geschafft hat. 1963 erschienen, war es Shaws erstes Werk für Kinder – und wurde aus dem Stand zu einem Klassiker der DDR-Kinderliteratur. Bis 1990 kamen im Ostberliner Kinderbuchverlag, in dem die weit überwiegende Mehrheit aller DDR-Kinderbücher erschien, 20 Auflagen mit rund 736.000 Exemplaren heraus. Bei Beltz ging der Titel über 130.000mal über die Ladentheke. Damit gehört der "Kleine Angsthase" zu jenen DDR-Rennern, die bis heute überlebt haben.
    "Der Kinderbuchverlag Berlin hat ja seit 1949 Kinderbücher gemacht, und damit auch die meisten Kinder- und Jugendbücher in der DDR gestellt. Das heißt, es gab einen riesigen, riesigen Fundus an deutscher Kinderbuchgeschichte. Weswegen Beltz es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Bücher neu aufzulegen. Und das Imprint "Der KinderbuchVerlag" bei Beltz gegründet hat."
    Zu Nachwende-Zeiten war der stark verkleinerte Verlag, in dem von 1949 bis 1989 rund 300 Millionen Bücher erschienen, von der Treuhand an die Münchner Meisinger-Verlagsgruppe verkauft worden; 2002 übernahm Beltz & Gelberg.
    "Also, das sind ja verschiedene Verlage gewesen, die zum Kinderbuchverlag dazugekommen sind. Das war ja dann noch die Edition Holz, der Verlag Karl Nietzsche und der Postreiter Verlag. Wo dann insgesamt ein sehr großer Bestand zusammengekommen ist. Ich hab’ mir mal das Verzeichnis angeschaut: Da kam ich auf eine Zahl von 3.980 Titeln! Das kommt natürlich nicht ganz hin; da sind auch Anthologien enthalten, Neuauflagen, Sonderausgaben, neu illustrierte Bücher und so weiter. Das heißt, der Fundus ist nicht ganz so groß, aber entspricht schon ungefähr einer ziemlich großen fünfstelligen Zahl, aus der man wirklich viel schöpfen kann."
    Ost-Klassiker erscheinen im Westen
    Pro Jahr erscheinen rund zehn Titel, die in einer eigenen Vorschau präsentiert werden. Der Löwenanteil wird im Osten abgesetzt; von dort erhält Baron auch regelmäßig Anregungen fürs Programm.
    "Manchmal ist das noch ganz, ganz altmodisch per Brief, wird an mich herangetreten, oder per Telefon oder e-Mail. Und das sind tatsächlich manchmal die Autoren selbst, die manchmal sogar an ein Jubiläum erinnern, oder einfach sagen, dass es ihr Lieblingsbuch war und dass sie das gerne wieder neu aufgelegt sehen würden. Weil sie natürlich auch mitbekommen, dass Beltz die Titel neu auflegt. Oder eben die Erben treten auf einen zu. Oder tatsächlich - vor allem dann in Ostdeutschland - Leser oder auch Buchhändler, die irgendwelche Lieblinge noch aus den alten Zeiten haben, die sie gerne wiederhätten. Es ist also ein bisschen eine Mischung aus Detektivarbeit und Zuarbeit von Externen."
    Zum 100. Geburtstag des Buchgestalters und Illustrators Werner Klemke erschien im März 2017 ein Band mit Andersen-Märchen; die bislang unveröffentlichten Illustrationen fanden sich im Nachlass des Altmeisters im Offenbacher Klingspor Museum. Die Hebung dieses Schatzes war ein glücklicher Ausnahmefall. In der Regel beschränkt sich der Verlag auf die Neuauflagen der alten Hits.
    Bestseller bleibt Bestseller
    Dass Bilderbuchgeschichten wie Elisabeth Shaws "Angsthase" oder Hannes Hüttners 1969 erschienene Geschichte "Bei der Feuerwehr wird der Kaffee kalt" mit Bildern von Gerhard Lahr dominieren, kann nicht verwundern: Ihr Sinngehalt erscheint eher unpolitisch, was sie auch für die neuen Zeiten empfiehlt.
    "Das heißt, Autoren oder Illustratoren, die damals schon Bestseller-Garanten waren, sind es weiterhin bis heute. Eben, weil die Namen irgendwie familiär klingen, weil sie bei vielen noch Erinnerungen wachrufen. Oder eben sich in vielen Haushalten schon befunden haben und deswegen einen Wiedererkennungswert haben, wenn man die zum Beispiel auf der Messe oder im Buchhandel sieht."
    Ein neuer Verlag für die Helden der Kindheit
    In einer unscheinbaren Mall im Leipziger Nordosten treffen wir Steffen Lehmann, der mit dem Leipziger Kinderbuchverlag, abgekürzt LeiV, ebenfalls Titel aus der Backlist des alten Kinderbuchverlags verlegt. Das Gros seines Umsatzes macht LeiV jedoch mit Kinderbuchklassikern aus Osteuropa.
    "Der LeiV Verlag wurde ja 1991/92 gegründet. Ging eigentlich aus einer Import-Abteilung vom LKG, Leipziger Kommissions- und Großbuchhandel hervor. Mit der Ansage: Wir schwimmen mal 1991 so richtig gegen den Strom. Und verlegen russische Kinderbücher. Zu einer Zeit, als das nicht so ganz selbstverständlich war. Das heißt also, die Kundschaft wollte erst mal nach dem Zusammenbruch des Ostens Bücher, Literatur aus der anderen Hemisphäre."
    Doch auf die Helden aus der Kindheit ist Verlass. LeiV setzt auf die Bücher des russischen Schriftstellers Alexander Melentjewitsch Wolkow, allen voran "Der Zauberer der Smaragdenstadt": Der eiserne Holzfäller ohne Herz, das Mädchen Elli, das kein Zuhause mehr hat, ein Scheuch, dumm wie Stroh und ein Löwe, der sich vor jeder Maus fürchtet - die Geschichte dieser vier Geschöpfe auf der Suche nach dem Glück hat seit ihrem erstmaligen Erscheinen in der DDR im Jahr 1964 unzählige Leser begeistert.
    "Wir sind natürlich ganz bewusst auch ein bisschen kommerziell rangegangen, damals schon. Weil wir gesagt haben: Also, wenn wir einen Verlag ins Leben rufen wollen, muss der sich tragen. Und das kann also nur gehen, wenn man gleich Renner hat. Wenn ich den Namen Wolkow nenne, weiß man, zumindest im Osten, worum es geht."
    Der Zauberer von Oz im Osten
    Dort gilt der Mathematik-Lehrer Wolkow zwar als Autor des Kinderbuchs, doch das Original stammt aus Amerika: 1939 kommt in den USA "Der Zauberer von Oz" in die Kinos, mit Judy Garland in der Hauptrolle. Im Osten erscheint das Buch mit dem türkisfarbenen Einband 40 Jahre lang nahezu unverändert, obwohl die noch vom Originalverlag beauftragte Übersetzung eines russischen Muttersprachlers schon in den Sechzigern arg holperte. Als sich LeiV 2005 zu einer behutsamen Neufassung des Texts entschloss, ging ein Aufschrei erzürnter Eltern und Großeltern durch die ostdeutschen Bundesländer. Der Verlag kehrte ab der 13. Auflage zur Ur-Version zurück – und nicht nur das:
    "Wir hatten in der "Erstversion" nach 1991 die ganzen - ich sag’s mal jetzt: "roten" oder sehr "sowjetischen" Nachwörter rausgenommen... Und die kann man jetzt auch wieder finden in den jetzigen Ausgaben Weil, wenn schon original, dann richtig original! Dieser Spaß musste halt dann sein!".
    Alfons Zitterbacke
    So bleibt LeiV auf gut gehende, scheinbar zeitlose Ost-Klassiker abonniert – von Wolkow über den "Kleinen Maulwurf" des Tschechen Zdenek Milar bis zu Gerhard Holtz-Baumerts "Alfons Zitterbacke". Der zehnjährige Alfons, ein liebenswerter Pechvogel, der es allen recht machen will, und damit oft auf kuriose Weise scheitert, gehörte zu den populärsten Kinderbuch-Helden der DDR. Bereits 1966 wurde die Lausbuben-Geschichte von der DEFA ins Kino gebracht. Gerade wird "Alfons Zitterbacke" mit Devid Striesow und Alexandra Maria Lara neu verfilmt. Alfons will immer noch ins All fliegen – er möchte nun aber nicht mehr Kosmonaut, sondern Astronaut werden und ist, logisch, ein großer Alexander-Gerst-Fan. Für Verleger Steffen Lehmann indes ist der Erfolg des Altbewährten Segen und Fluch gleichermaßen.
    "Wir bemühen uns immer wieder, davon wegzukommen. Und ich habe auch bei den Russen tolle Sachen gesehen, moderne Sachen, experimentelle Sachen. So als Verleger hat man ja dann immer so paar Visionen, und fliegt dann ab. Aber dann holt einen der Kontostand wieder auf den Boden der Tatsachen zurück."
    Das Einfache, das schwer zu machen ist
    "Ich habe keine Kinder und kenne folglich keine und habe aus diesen beiden Gründen wenig Mühe, mir meine gute Meinung über sie zu erhalten."
    Trotz oder womöglich wegen solcher Sätze war der im August 2003 verstorbene Dramatiker, Lyriker und Essayist Peter Hacks auch ein begnadeter Autor von Kinderbüchern. Titel wie "Der Bär auf dem Försterball" oder "Jules Ratte" waren zu DDR-Zeiten populär, ebenso die irgendwo zwischen Traum und Wirklichkeit angesiedelten, mit Sprache spielenden "Geschichten von Henriette und Onkel Titus". "Nichts ist verwirrender als das normale, alltägliche Leben", weiß Titus. Und baut schon mal eine Nähmaschine zur Denkmaschine um, die für seine Nichte die Schularbeiten erledigt.
    "Eines Tages begegnete Onkel Titus Henriette auf der Straße. Und sagte: ‚Gehst du eigentlich schon in die Schule?’ ‚Nein’, sagte Henriette. ‚Ich komme aus der Schule. ‚Aha’, sagte Onkel Titus. ‚Das ist etwas Anderes.’ Und dann fragte er: ‚Seit wann besuchst du diese Anstalt?’ ‚Seit fünf Jahren’, sagte Henriette. ‚Merkwürdig’, sagte Onkel Titus. ‚Warum hast du mir nie etwas davon erzählt?’ ‚Weil’, sagte Henriette, ‚es kaum wert war, davon zu reden.’ Sie gingen zusammen nach Hause, und als sie bei Tisch saßen, fing Onkel Titus von neuem an: ‚Was machst du denn so in der Schule?’, fragte er. Henriette sagte: ‚Ich denke, ich denke.’ ‚Warum sagst du zwei Mal ich denke’, fragte Onkel Titus. ‚Weil ich zwei Mal denke’, sagte Henriette. ‚Einmal hier. Und einmal in der Schule. Ich hätte auch sagen können: In der Schule denke ich. Denke ich.’"
    Was für ein hypertropher Dialog, selbst das schöne Wort "Anstalt" kommt vor! Hacks’ Kinderbücher sind mindestens so klug und doppelbödig formuliert wie seine Dramen, Gedichte und Essays. Für Eulenspiegel-Verleger Matthias Oehme, der zahlreiche Kinderbücher von Hacks wieder zugänglich gemacht hat, sind die Texte von zeitloser Qualität:
    "Das Schöne daran ist: Sie sind sowohl für Kinder als auch für Erwachsene hör- und lesbar, gar keine Frage! Es sind nicht gesuchte Redewendungen, es sind keine aufgesetzten Albernheiten oder Geschichten. Es ist ganz realistisch. Und ganz phantastisch. Es ist das, was wahrscheinlich wirklich ganz schwer zu machen ist. Und ehrlicherweise - natürlich, ein Mann mit Genrebewusstsein wie Hacks hat die Unterschiede gesehen. Aber ehrlicherweise muss man sagen: Es ist kein Unterschied zur Literatur für Erwachsene. Es ist, der da spricht: Hacks. Es ist nie tümelnd, es ist nie kindertümelnd, es ist nicht anschmeißerisch, wie manche Kinderbuchautoren das versuchen. Er hat sich nie gemein gemacht und nie den Kindern gewissermaßen auf ihrem Niveau anbequemt. Sondern diese Texte ziehen die Kinder auf sein Niveau."
    Der Eulenspiegel Verlag
    Hacks’ Zusammenarbeit mit Eulenspiegel beginnt Mitte der 1990er Jahre mit der Wiederveröffentlichung eines von ihm nachgedichteten dänischen Kinderbuch-Klassikers, Egon Mathiesens "Affe Oswald". Den in der Folge wieder- oder neu veröffentlichten Kinderbüchern aus Hacks’ Feder ist auf dem bundesdeutschen Markt höchst unterschiedlicher Erfolg beschieden: Während die "Geschichten von Henriette und Onkel Titus" mit den klassischen Illustrationen von Eberhard Binder-Staßfurt floppten, reüssierte eine von den Schauspielerinnen Carmen-Maja und Jennipher Antoni eingelesene Hörbuch-Auswahl. Auch "Der Flohmarkt", eine von Klaus Ensikat neu illustrierte Gedichtsammlung für Kinder, läuft prächtig – während der "Affe Oswald", ein Lieblingsprojekt Oehmes, zum doppelten Fiasko wurde.
    "Nach Jahren kuckt man ins Lager und sagt: Die sind alle noch da! Versuchen wir, sie zu verramschen. - Wir haben das nicht verramscht gekriegt. Was blieb? Zum Schluss haben wir sie makuliert. Nach 'ner ganzen Weile von Jahren gab’s immer wieder Leute, die sagten: Na, da ist doch aber mal ne Idee! Und: Kann man das nicht noch mal auflegen? Daraufhin haben wir’s nochmal aufgelegt. Wir haben die gleiche Erfahrung gemacht. Und es ist auch genauso wieder gelaufen: Lange am Lager. Verramscht? Nein, ging nicht. Makuliert."
    Sind die technischen Möglichkeiten, die uns mit der Digitalisierung zugewachsen sind, nicht eine Chance, neue Funken aus Kinderbuchklassikern zu schlagen? Ein Dresdner Startup adaptierte die phantastische Hacks-Erzählung "Meta Morfos" für eine mehrsprachige Kinderbuch-App. Sie schaffte es damit auf die Nominierungsliste für den Deutschen e-Book-Award 2015, konnte sich jedoch nicht am Markt durchsetzen. Matthias Oehme ahnt, warum das so ist:
    "Wer kauft das Kinderbuch? Es kauft die Oma, es kauft die Tante, es kauft der Onkel. Wenn’s hoch kommt. Es sind schon meist nicht mehr die Eltern, die’s machen. Sondern das ist ja das klassische Geschenkbuch. Und das sind die Leute, die hängen an bestimmten Vorstellungen, an bestimmten Erinnerungen, an bestimmten Texten, an bestimmten Autoren, und so weiter. Insofern ist also ein Programm, das sehr stark an Tradition sich orientiert, jedenfalls erst mal kein falsches Programm."
    Kinderbuch-Klassiker, für den Westen neu illustriert
    Soll man also, in der Hoffnung auf nostalgiegetriebene Eltern und Großeltern, die alten Hits nachauflegen, so lange es irgend geht, wie der KinderbuchVerlag, LeiV oder Eulenspiegel es tun? Dass es auch einen anderen, vermutlich dornigeren, aber sehr reizvollen Weg gibt, mit den Klassikern umzugehen, erfahren wir von Thomas Gallien. Der in Bonn aufgewachsene Lektor, der seit 1995 im Rostocker Hinstorff Verlag arbeitet, hatte Anfang der Nullerjahre ein Problem: DDR-Autoren wie der 1984 verstorbene Franz Fühmann waren nahezu in der Versenkung verschwunden; Neuausgaben ihrer einst gefeierten Bücher kaum verkäuflich. Kein Geringerer als Peter Härtling machte Gallien auf Fühmanns "Märchen auf Bestellung" aufmerksam. In dem zuerst 1982 bei Hinstorff – dezidiert nicht für Kinder - erschienen Buch findet sich auch die Geschichte "Anna, genannt Humpelhexe". Sie geht auf den von der Stasi beargwöhnten Kontakt des Schriftstellers zu behinderten Kindern und Jugendlichen in den Samariteranstalten Fürstenwalde zurück.
    "Sieben Hasensprünge hinter dem Ende der Welt, in einem Wald, wo die Kiefern weiße Blätter und die Birken schwarze Nadeln tragen, liegt heute noch eine Hexenschule. In diese Hexenschule ging auch Anna Humpelbein. Eigentlich hieß sie ja nur Anna, aber weil ihr rechtes Bein länger war als das linke, und ihr linkes Bein kürzer als das rechte, nannten sie ihre Mitschüler und Lehrer eben: Anna Humpelbein. Dieser Name verdross das Hexenmädchen. Und noch mehr verdross sie, dass die gleichbeinigen Hexenkinder sie wegen ihres Humpelns verspotteten. Am meisten aber ärgerte sie sich, dass auch ihre Mutter, die berühmte Hexe Rapunzel, ihr riet, zum Hexendoktor zu gehen, und sich das ein wenig längere Bein ein wenig kürzer hobeln zu lassen."
    Raus aus der DDR-Nische
    "Mein Gedanke - und der Gedanke des Verlags - war dann eigentlich: Gut, Fühmann ist unbekannt. Also, wenn ich jetzt mit einem Fühmann-Kinderbuch komme, wird das vermutlich kaum einen interessieren. Wenn ich jetzt aber zu diesen Fühmann-Texten wen stelle... also, eine Illustratorin zum Beispiel nehme, die bekannt ist - habe ich den Effekt, dass ich über die Illustratorin auf den Fühmann wieder aufmerksam machen kann. Und dann war es auch so, dass Peter Härtling sagte, er macht mir’n Nachwort zu dem Band. Und es sei doch egal, was er schreibt. Hauptsache, er steht vorne drauf."
    Der Coup funktionierte: "Anna, genannt Humpelhexe", illustriert von Jacky Gleich, wurde zu einem der erfolgreichsten Kinderbücher im Hinstorff Verlag. Gekauft wird es eher im Westen der Republik.
    "Wir haben ja immer noch – immer noch, finde ich! - diese Zweiteilung so bisschen Ost-West. Gerade im Kinderbuch! Die Bücher des Kinderbuchverlags, die noch so aufgelegt werden, wie sie in der DDR waren, müssen Sie im Westen gar nicht verkaufen! Das kauft kaum einer. Im Osten ist das der totale Renner. Wir machen die Erfahrung, dass diese neu illustrierten Bücher eher im Westen laufen als im Osten."
    Während Fühmanns Sprachspiel-Klassiker "Die dampfenden Hälse der Pferde im Turm zu Babel" von 1978 auch in der Hinstorff-Neuausgabe unverändert mit den kongenialen Illustrationen von Egbert Herfurth erscheint und lediglich um ein Glossar mit DDR-Begriffen erweitert wurde, gewann der Verlag für Plenzdorfs "Gutenachtgeschichte", Fühmanns Nacherzählung antiker Stoffe oder die aus den "Dampfenden Hälsen" ausgekoppelte Geschichte "Am Schneesee" renommierte Illustratorinnen wie Stefanie Harjes, Susanne Janssen und Kristina Andres.
    "Ich will, dass diese Autoren in ihrer herausragenden Qualität, mit herausragenden Illustratoren ergänzt, wirklich noch mal unter die Leute gebracht werden. Weil ich finde, dass sie aus dieser DDR-Nische herausgeholt gehören. Die gehören zu dem Kanon der Kinder-Literatur, und Erwachsenen-Literatur dann auch, bei Fühmann. Und dann finde ich, gehört da auch eine vorzügliche Illustration dazu. Eine Illustration, die eben darauf angelegt ist, auch Leute anzusprechen, die die DDR nur noch aus den Geschichtsbüchern kennen."
    Der Geruch der Bücher
    Die Illustratorin Gerda Raidt, 1975 in Berlin geboren, hat die DDR noch bewusst erlebt. Sie ist mit Büchern aufgewachsen; ihr Vater, ein Physiker, war ein leidenschaftlicher Vorleser. Von den "Kinder- und Hausmärchen" der Brüder Grimm mit Werner Klemkes meisterhaften Illustrationen bis zu Fühmanns Sprachspielen – selbst der Geruch dieser Bücher ist Raidt noch gegenwärtig.
    "Ich führe das auch fort. Meine Kinder kennen alle diese alten Bilderbücher, auf jeden Fall! Oder wenn wir Märchen vorgelesen haben, dann aus diesem Märchenbuch. Aber manche, da ist es auch schwierig… Da merk’ ich jetzt: Da vergeht immer mehr Zeit. Und wenn es so direkt ‚DDR-Anbindung’ hat, muss man ganz viel erklären."
    Berufsbedingt hat Raidt einen genaueren Blick auf die Bücher, die sie sich zum Teil antiquarisch wiederbesorgt.
    "Jedes Mal, wenn ich die zur Hand nehme, sehe ich jetzt was Anderes. Also, mir ist zum Beispiel neulich aufgefallen, dass die, die sind so unaufgeregt, also, es reicht, dass die ein gutes Buch sind. Die müssen nicht das allerbeste sein, oder noch besser als jemals, und noch die Konkurrenz ausstechen. Sondern es reicht einfach, wenn es ein gutes Buch ist. Das sieht man denen, glaub’ ich, an. Viele sind relativ zeitlos, finde ich."
    Warum das so ist, hat Peter Hacks in seinem Aufsatz "Was ist ein Drama, was ist ein Kind?" auf den Punkt gebracht:
    "Das von der hohen Kinderliteratur gemeinte Kind ist das poetisierte Kind: eine Ausdehnung des bloß naturalen Kindes auf den unschuldigen, nicht festgelegten, zukunftsgerichteten Menschen. In einen solchen Menschen kann man Kunst und Hoffnung setzen."
    Von hier scheint es nicht mehr weit bis zu Kästners zu Tode zitiertem Diktum, nachdem man für Kinder genau so schreiben müsse wie für Erwachsene – nur besser. Hacks hatte dafür nur Spott übrig. Doch letztlich war es, jenseits platter Indoktrination, auch diese kulturpolitische Wertschätzung, die die erste Riege der DDR-Schriftsteller und Illustratoren involvierte und aus Kinderbüchern Kinderliteratur machte. Die Illustratorin Gerda Raidt ist inzwischen allerdings skeptisch über den Ausgang dieses pädagogisch-ästhetischen Großversuchs:
    Wie erzieht man ein Volk?
    "Das hat ja eigentlich nicht geklappt. Das Projekt, dass man das Volk damit zu gutem Geschmack oder so erzieht. Weil, als dann Wende war, dann haben die Leute praktisch den größten Scheiß gekauft! Was meine Eltern dann teilweise auch meinen Kindern für doofe Bücher gekauft haben (lacht) - also, das "erzieherische Projekt" ist irgendwie danebengegangen, würde ich sagen."
    "Eine Frage: Kann ich mit Karte zahlen? … Ich finde das sehr schade, dass Sie zumachen!"
    "’Nichts ist unendlich’… Gerd Michaelis. Kennen Sie das noch?"
    "Natürlich! [singt]: Als ich fortging war die Straße leer - kehr’ wieder um …"
    "Sehr gutes Lied."
    Für Siegfried Jahn von der Buchhandlung "Interart" ist die Geschichte hier zu Ende. Für uns Leser und all die, die als Verleger, Lektoren, Verlagsvertreter, Buchhändler oder Illustratoren mit den alten Kinderbuch-Helden aus DDR-Zeiten beschäftigt sind, geht sie weiter. Lust am Lesen ist Lust auf Veränderung. So gesehen, haben die besten Geschichten und Bilder von damals noch immer ein ordentliches Subversions-Potenzial. Auch in Zeiten, da Bücher nur noch ein Medium neben anderen sind, und statt des Zensors Vertreter und Marketingabteilung über das Wohl und Wehe eines Titels entscheiden, sollten wir nicht auf sie verzichten.
    Literatur (in Auswahl)
    Hans Christian Andersen: Märchen
    Illustriert von Werner Klemke.
    Aus dem Dänischen von Albrecht Leonhardt.
    Beltz – Der KinderbuchVerlag, Weinheim. 213 Seiten, 19,95 Euro.
    Elizabeth Shaw: "Der kleine Angsthase"
    Beltz – Der KinderbuchVerlag, Weinheim. 16 Seiten, 12.95 Euro.
    Hannes Hüttner, Gerhard Lahr: "Bei der Feuerwehr wird der Kaffee kalt"
    Beltz – Der KinderbuchVerlag, Weinheim, 32 Seiten, 12.95 Euro.
    Alexander Wolkow, Leonid Wladimirski: "Der Zauberer der Smaragdenstadt
    LeiV, Leipzig, 184 Seiten, 14,90 Euro.
    Gerhard Holtz-Baumert: "Alfons Zitterbacke"
    LeiV, Leipzig, 144 Seiten, 12 Euro.
    Peter Hacks: "Geschichten von Henriette und Onkel Titus"
    Gelesen von Carmen-Maja und Jennipher Antoni.
    Eulenspiegel Verlag, Berlin, 70 Minuten, 12.99 Euro.
    Peter Hacks: "Der Flohmarkt. Gedichte für Kinder"
    Illustriert von Klaus Ensikat.
    Eulenspiegel Verlag, Berlin, 80 Seiten, 14.99 Euro.
    Franz Fühmann, Jacky Gleich: "Anna, genannt Humpelhexe"
    Hinstorff Verlag, Rostock, 48 Seiten, 9.90 Euro.
    Franz Fühmann, Kristina Andres: "Am Schneesee"
    Hinstorff Verlag, Rostock, 24 Seiten, 14.99 Euro.
    Franz Fühmann, Egbert Herfurth: "Die dampfenden Hälse der Pferde im Turm von Babel"
    Hinstorff Verlag, Rostock, 360 Seiten, 19.90 Euro.