Dienstag, 23. April 2024

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Kinderbücher in Braille-Schrift
Sams und das Doppelte Lottchen in Blindenschrift

In Leihbüchereien gibt es Kinderbücher in Braille-Schrift - der Blindenschrift. Zu kaufen aber gab es die Geschichten von Janosch, Astrid Lindgren oder Erich Kästner bislang nicht. Iris Waßong ist dabei, das zu ändern: Jeder sollte lesen dürfen, meint die zweifache Mutter und ehemalige Blindenbetreuerin. Kinderbuchautor Janosch fand die Idee von Anfang an super.

Von Leila Knüppel | 01.07.2016
    Farbfoto von Erhebungen der Figuren in einem Kinderbuch für Blinde
    Die Erhebungen der Figuren in dem Kinderbuch für Blinde "Kleine Katze Nina" von Erwin Moser (imago/epd)
    Iris Waßong greift sich ein Buch aus dem Regal in ihrem Arbeitszimmer: "Hier haben wir jetzt: Hexe Lili zaubert Hausaufgaben." Sie schlägt es auf: Weiß die Seite eins, zwei, drei. Das ganze Kinderbuch voll weißer Seiten. Kein schwarzer Buchstabe, kein Bild. Dafür kleine, ins Papier eingeprägte Punkte: Braille-Schrift, die blinde Menschen ertasten und so lesen können. Letztlich gehe es darum, sagt Iris Waßong, "den blinden Kindern Bücher zu geben, die sie nie hatten. Sie können sie ausleihen. Aber kaufen konnten sie bis dato nicht. Es gab keins, was sie in der Hand halten konnten und sagen konnten: Das ist mein Buch."
    Waßong schiebt das Buch zurück ins Regal, quasi ins Lager. Sie sei die Einzige, die das angepackt habe, "die Bücher kommerziell zu verkaufen. Man hat eigene Kinder und weiß, wie gerne die lesen. Und will es dann den blinden Kindern ermöglichen."
    In fast allen Truhen, Holzschränken, Kommoden des alten Einfamilienhauses stehen Bücher für den Onlineverkauf von Waßongs Eine-Frau-Unternehmen.
    In dem ehemaligen Kinderzimmer ihrer ältesten Tochter hat Waßong sich mit zusammengesuchten Möbeln ihren Arbeitsplatz eingerichtet, an der Tür ein Schild befestigt: "Chef-chen". Auch wenn das mit Kinderbüchern und bunten Spielfiguren vollgestellte Zimmer kaum wie ein Büro aussieht - dies ist Verlagssitz, Druckerei und Lager, alles in einem.
    Der einzige Verlag, der Bücher für blinde Kinder herstellt
    "Ist alles relativ unkonventionell", räumt die Chefin ein. "Braille Kinderbücher" ist der einzige Verlag, der Bücher für blinde Kinder herstellt und verkauft. Denn ansonsten bieten nur Büchereien Entsprechendes zum Verleih. Iris Waßong setzt sich an den Schreibtisch: ""Nehme ich jetzt mal Janosch", murmelt sie.
    Durch das Fenster kann sie in den Garten sehen, wo ihr Mann gerade werkelt, ihre beiden Töchter sind unterwegs, in der Stadt. Waßong öffnet eine Textdatei und beschreibt: "Ich setze mir die Datei erst einmal in Schwarzschrift, damit der Blindendrucker es möglichst gut erkennt. Wenn der Schritt dann vollzogen ist, wird das Ganze in eine RTFC-Datei umgesetzt."
    Vor sechs Jahren hat Waßong angefangen, Kinderbücher in Blindenschrift herauszugeben. Damals erkrankte ihre Tochter schwer. Waßong musste ihren bisherigen Beruf als Betreuerin von blinden Jugendlichen aufgeben, zu Hause bleiben. Sie erinnert sich voll Wehmut: " "Wir sind von Arzt zu Arzt gerannt, haben eine Verdachtsprognose bekommen…". Die Stimme der 45-jährige wird leiser, verstummt irgendwann: Ihrer Tochter geht es noch immer nicht besser. Sie streicht sich durch ihr langes graues Haar - und erzählt dann lieber weiter von ihrem Verlag: "Nur zu Hause sein und nur für das Kind da sein, das wollte ich auch nicht", erklärt sie. Sehr idealistisch sei sie gewesen, ihr Mantra: "Du musst nichts verdienen, Hauptsache, es bringt was, was du machst. Ich habe im allerersten Monat 20 Euro verdient. Ich glaube, ich habe ein einziges Buch verkauft."
    Das Buch: "Guten Tag, kleines Schweinchen" von Janosch. Ihn hatte Waßong angerufen, um eine Lizenz gebeten. Mit Erfolg: "Er fand die Idee super."
    Mittlerweile hat sie Lizenzverträge mit vielen großen Verlagen geschlossen. Von jedem verkauften Buch erhalten diese meist zehn Prozent. Bis zu dreizehn neue Bücher im Jahr nimmt Waßong in ihr Angebot auf: "Irgendwann habe ich gedacht, ich geh weiter: ‚Räuber Hotzenplotz’, ‚Das doppelte Lottchen’, ‚Das Sams’. Dass man mehr im Jugendbuchbereich macht, weil es da auch nicht genug gibt."
    Welche Schrift braucht mein Kind?
    20 bis 40 Euro kostet ein Buch. So richtig von den Blindenbüchern leben kann Waßong aber noch nicht. Wenn sie Glück hat, bleiben 600 Euro im Monat übrig, sagt sie. Und stellt sich die unternehmerische Sinnfrage: "…ob das richtig ist, was ich tue. Denn letztendlich zählt ein Beruf nur als Beruf, wenn genug Geld reinkommt. ‚Meinen Sie, das bringt was? Wie geht es denn weiter?’ Ich denke irgendwann, irgendwann wird man davon leben können."
    Dann fügt sie einige Leerzeilen in das Braille-Dokument ein. Mehr Platz zwischen den Buchstaben soll es dem Leseanfänger leichter machen, die Zeichen zu entziffern.
    Die Brailleschrift hat Waßong noch während ihrer Arbeit als Betreuerin gelernt. Was jetzt von Vorteil sei, denn:
    "Viele Eltern wissen nicht: Welche Schrift braucht mein Kind? Zum Beispiel: Der Junge sitzt im Rollstuhl, die Hände kann er noch bewegen, aber er hat Koordinationsprobleme. Wie können sie helfen, was können sie anbieten? - fragen die dann. Und dann erkläre ich: Wir setzen eine Zeile frei – und setzen hinter jedes Wort ein zusätzliches Leerzeichen."
    Ihre Bücher passt sie den individuellen Bedürfnissen ihrer Kunden an: "Jeder soll lesen dürfen, egal, was er für ein Problem hat."
    Waßong klickt auf "Drucken". Laut rattert das Gerät los. Eigentlich sieht der Drucker fast genauso wie ein Tintenstrahlgerät aus. Nur dass er hier winzige Punkte in das Papier hineinstanzt: eine Buch-Widmung - auch ein individueller Wunsch einer Kundin. Iris Waßong liest vor:
    "Lieber Alexander. Alle Gute zum Geburtstag, deine Oma. Das drucke ich dann mit rein. Und dann sind Kinder, Eltern, alle zufrieden. Und die Dankbarkeit, das kriegt man sonst nicht zurück."