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Kinderraub in Argentinien
Großmutters Suche voller Schmerz

Zwischen 1976 und 1983 ermordete Argentiniens Militärjunta tausende Oppositionelle, raubte 500 ihrer Babys und übergab sie fremden Familien. Die Großmütter machten sich auf die Suche - bis heute fanden sie 122 Enkel. So wie den 38-jährigen Ignacio, Enkel von Estela de Carlotto. Sie ist Präsidentin der Großmütter der Plaza de Mayo. Beide trafen sich 2014 zum ersten Mal.

Von Victoria Eglau | 29.04.2017
    Die Großmütter der Plaza de Mayo
    Die Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo während einer Demonstration anlässlich des 40. Jahrestages der argentinischen Militärdiktatur in Buenos Aires. (picture alliance/dpa/Foto: Javier Gallardo)
    "Ich habe meinen Enkel mehr als 36 Jahre lang gesucht. Nie habe ich die Hoffnung aufgegeben. Aber ich fragte mich mit Sorge, beim wem er wohl aufwuchs, wie es ihm ging und wie er erzogen wurde."
    Estela de Carlotto ist eine alte Dame, 86 Jahre alt. Die lange Suche nach ihrem Enkel begann 1978, zwei Jahre nach dem Militärputsch in Argentinien. Carlottos Tochter Laura, die einer linken Studenten-Organisation angehörte, war in ein Geheimgefängnis der Diktatur verschleppt worden. Im August 1978 übergab ein Polizist der Mutter Lauras Leiche – die Militärs hatten sie umgebracht. Aber durch eine Mitgefangene erfuhr Estela de Carlotto, dass ihre Tochter zuvor ein Kind zur Welt gebracht hatte.
    Die Tochter ermordet, der Enkel geraubt
    Juni 2014: Der Pianist Ignacio Hurban aus der argentinischen Kleinstadt Olavarría erhält von einer Bekannten den Hinweis, er sei adoptiert. Ignacio fällt aus allen Wolken. Seine Zieheltern, einfache Landarbeiter, hatten ihm nichts erzählt. Er war ihnen als Baby von ihrem Chef ausgehändigt worden – einem Großgrundbesitzer mit Verbindungen zum Militär.
    Der Enkel Ignacio Montoya Carlotto.
    Der Enkel Ignacio Montoya Carlotto. (Deutschlandradio / Victoria Eglau)
    Sofort zieht Ignacio in Erwägung, er könnte eines der fünfhundert geraubten Kinder sein. Denn geboren wurde er 1978 – während der Diktatur also, als die Militärs politische Gegner verschwinden ließen und sich ihre Babys aneigneten.
    "Als ich begann, nach meinen Wurzeln zu forschen, ging es mir nicht in erster Linie darum, herauszufinden, wer meine leiblichen Eltern waren. Ich tat den Schritt vor allem, weil ich wusste, dass mich vielleicht eine Familie suchte."
    Ein Gen-Test bringt Klarheit
    Ignacio Hurban fuhr nach Buenos Aires, zur Organisation der Großmütter der Plaza de Mayo. Zu jenen Frauen also, die seit vierzig Jahren nach ihren verschwundenen Kindern und geraubten Enkeln suchen. Ignacio ließ einen Gentest machen, im August 2014 erhielt er das Ergebnis: Seine leibliche Großmutter war Estela de Carlotto.
    Estela de Carlotto
    Estela de Carlotto, Präsidentin der Großmütter der Plaza de Mayo. (Deutschlandradio / Ellen Häring )
    "Immer, wenn ein Enkel wiedergefunden wird, ist das eine große Nachricht, über die sich viele Argentinier freuen. Mein Fall sorgte für besonders viel Aufsehen, weil meine Oma die Präsidentin der Großmütter ist."
    Estela de Carlotto ist in Argentinien sehr bekannt. Dutzende von Malen hatte sie vor Fernsehkameras bekanntgegeben, dass ein weiteres geraubtes Kind gefunden worden war, bis sie schließlich ihrem eigenen Enkel begegnete.
    Zerrissen zwischen Zieheltern und Familie
    Eigentlich mahne ich die Großmütter immer zur Zurückhaltung, wenn sie zum ersten Mal ihre Enkel treffen. Schließlich kennen sie uns nicht und können daher keine Gefühle für uns haben. Aber ich konnte nicht anders und habe meinen Enkel fest umarmt. Er sagte: "Langsam, langsam." Wir haben dann zum ersten Mal miteinander geredet.
    Und zum Abschied sagte er: "Tschau, Oma", erinnert sich Carlotto lächelnd. Inzwischen sind fast drei Jahre vergangen. Ignacio hat seinen Nachnamen geändert, er heißt nun Montoya Carlotto – wie seine von den Militärs ermordeten Eltern. Doch den Vornamen, den ihm seine Zieheltern gaben, hat er behalten. Dabei hieß Ignacio ursprünglich Guido.
    "Irgendwann wurde mir klar, dass ich Ignacio bin und kein anderer. Ich bin mit diesem Namen großgeworden, er ist Teil meiner Identität."
    Tiefe Identitätskonflikte der Kinder
    122 geraubte Enkel und Enkelinnen sind bis heute identifiziert worden, meist erst als Erwachsene. Die plötzliche Erkenntnis, Kind von Diktaturopfern zu sein, hat diese Argentinier in tiefe Identitätskonflikte gestürzt.
    "Jede Geschichte ist anders. Manche Enkel haben das Gefühl, ihre wahre Identität gefunden zu haben. Ich empfinde es anders: Ich habe meine Identität gefestigt, als ich erfahren habe, wer meine leiblichen Eltern waren."
    Etwa versteht der Pianist und Komponist Ignacio Montoya Carlotto erst jetzt sein künstlerisches Talent: In seiner leiblichen Familie gibt es noch mehrere andere Musiker. Ignacio muss heute den Spagat zwischen zwei Welten bewältigen: zwischen seinen Zieheltern, bei denen er, wie er sagt, eine glückliche Kindheit verbracht hat, und seiner Großmutter.
    "Die Geschichte der Großmütter und ihrer Suche ist voller Schmerz: Viele Jahre des Kampfes und der Ungewissheit. Als ich meine Oma 2014 kennenlernte, war das wie bei null anzufangen. Wir waren viel länger getrennt, als wir zusammen sein werden. Sie sehnt sich natürlich danach, die verlorene Zeit aufzuholen."
    Kinderraub-Prozess: Großmutter gegen Zieheltern
    Estela de Carlotto weiß, dass das unmöglich ist. Die 86-Jährige genießt jeden Augenblick, den sie mit ihrem Enkel verbringen kann. Doch wenn er ihr Babyfotos von sich zeigt, tut ihr das auch weh.
    "Ich durfte ihn niemals als Kleinkind erleben. Die Leute, bei denen mein Enkel aufgewachsen ist, verurteile ich nicht und spreche sie auch nicht frei. Sie haben mir die Möglichkeit genommen, ihn selbst aufzuziehen. Aber sie taten es wohl ohne böse Absicht."
    Dennoch: Ignacios Zieheltern müssen sich nun vor Gericht verantworten, weil sie ihn als ihr eigenes Kind in die Geburtsurkunde eintragen ließen. Und Estela de Carlotto tritt in dem Prozess als Klägerin auf – Kinderraub darf nicht ungesühnt bleiben. Ihr Enkel versteht das, aber fühlt sich trotzdem als Opfer:
    "Die Situation macht mich traurig. Ich bin der einzige von all den Personen in meiner Geschichte, der nie etwas entscheiden durfte. Und auch jetzt treffe nicht ich die Entscheidungen."