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"Kinderschutz gibt es nicht zum Nulltarif"

Die Vorsitzende der Jugend- und Familienministerkonferenz, Manuela Schwesig, hat die Bundesregierung aufgefordert, mehr Geld für Präventionsprogramme gegen Missbrauch auszugeben. Zu oft blieben Stellen von Kinder- und Jugendtherapeuten unbesetzt. Auch vor diesem Hintergrund dürfe man Länder und Kommunen nicht finanziell ausbluten lassen, warnte die SPD-Politikerin.

Manuela Schwesig im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 23.04.2010
    Dirk-Oliver Heckmann: Canisius-Kolleg, Odenwaldschule, katholische Kirche, der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen hat in der Vergangenheit eine Dimension eingenommen, die erschreckend ist, und nur Menschen mit Hang zur Realitätsverweigerung gehen wohl davon aus, dass das Problem ein Problem der Vergangenheit ist. Aber immerhin: Die Politik ist offenbar aufgewacht und will das Thema angehen. Die Bundesregierung setzte mit der SPD-Politikerin Christine Bergmann eine Missbrauchsbeauftragte ein und lud zu einem sogenannten Runden Tisch ein unter Federführung von Familienministerin Schröder, ihrer Kollegin im Justizressort Leutheusser-Schnarrenberger und Bildungsministerin Annette Schavan.

    Vor dieser Sendung hatte ich die Gelegenheit, mit der stellvertretenden SPD-Vorsitzenden Manuela Schwesig zu sprechen. Sie ist die Sozialministerin in Mecklenburg-Vorpommern und Teilnehmerin des Runden Tisches gegen sexuellen Missbrauch. Sie habe ich zunächst gefragt, ob sie eine Erklärung dafür hat, dass Opferorganisationen mit jahrzehntelanger Erfahrung wie Zartbitter beispielsweise nicht eingeladen sind.

    Manuela Schwesig: Ich habe dafür keine Erklärung. Ich weiß, dass viele Opferverbände darüber enttäuscht sind. Aber wer eingeladen wird, entscheiden die drei Bundesministerinnen, die diesen Runden Tisch initiiert haben.

    Heckmann: Was müsste der Runde Tisch bringen, um als Erfolg bezeichnet werden zu können?

    Schwesig: Ich glaube, dass die drei Bundesministerinnen mit diesem Runden Tisch massiv hohe Erwartungen natürlich geweckt haben, bei den Opfern vor allem, aber natürlich auch bei der Bevölkerung, die zwar den Konsens hat, dass so etwas nicht sein soll, sexueller Missbrauch, sexuelle Gewalt, aber wo es ja offensichtlich so ist, dass es eben nicht Einzelfälle sind, dass sich das durch die Gesellschaft zieht, dass es Gewalt gegen Jugendliche gibt, In Familien, aber eben auch in Institutionen, und diesen Erwartungshaltungen gerecht zu werden, das wird eine sehr, sehr große Aufgabe werden.

    Heckmann: Ist da eine zu hohe Erwartungshaltung geweckt worden?

    Schwesig: Das kann man wirklich erst beurteilen, wenn heute der Runde Tisch stattgefunden hat, wenn vor allem auch die Ziele formuliert werden. Das, glaube ich, ist ganz wichtig. Ich finde es zum Beispiel schwierig, "nur" über sexuellen Missbrauch zu reden. Ich persönlich rede da auch lieber über sexuelle Gewalt, weil Missbrauch würde bedeuten, dass man auch Kinder gebrauchen kann. Das sehe ich auch nicht so. Aber neben der sexuellen Gewalt fanden oft auch andere Misshandlungen statt. Ich glaube, dass man dies nicht voneinander trennen kann. Ich habe mehrere Dinge, die dort für mich wichtig sind: zum einen, dass wirklich die Botschaft von dem Runden Tisch ausgeht, dass solche Taten strafrechtlich verfolgt werden müssen und dass Opfer dazu ermutigt werden, auch diese Anzeigen zu erstatten.

    Zweitens, dass natürlich die Institution wie gerade die katholische Kirche Verantwortung dafür übernimmt, dass sie zu großen Teilen nicht richtig gehandelt haben. Und das aller Wichtigste, dass die Opfer Anlaufstellen haben, wo sie beraten werden können, und dass das klare Signal vom Runden Tisch ausgeht, dass wir solche Taten ächten, dass nicht die Scham und die Schuld bei den Opfern ist, sondern dass die Scham und die Schuld bei den Tätern sein muss. Das ist in vielen Fällen heute nicht so. Das muss uns auch gelingen, und vor allem müssen wir uns die Frage stellen, was können wir für die Zukunft tun, dass es diese Taten so wenig wie möglich gibt und dass vor allem, wenn es sie gibt, so schnell wie möglich geholfen wird, aufgeklärt wird und nicht so vertuscht, wie das offensichtlich in der Vergangenheit der Fall war und wie wir es heute auch noch nicht ausschließen können.

    Heckmann: Also Stichwort Prävention. Aber kann man sexuellen Missbrauch oder sexuelle Gewalt, wie Sie sagen, überhaupt verhindern?

    Schwesig: Man wird es sicherlich nicht hundertprozentig verhindern können, aber es ist ganz entscheidend, ob wir gute Präventionsprogramme vor Ort haben, die Kinder und Jugendliche stark machen, stark machen, nein zu sagen, wenn ihnen etwas nicht gefällt, stark machen, sich Hilfe zu suchen. Diese Programme gibt es vor Ort, da hat sich auch in den letzten Jahren, muss man sagen, einiges getan, aber diese Programme sind natürlich abhängig oft von der Finanzierung. Wir brauchen die Opferberatungsstellen, die helfen, wenn jemand Opfer war, sie zu begleiten bei Gerichtsverhandlungen. Wir brauchen viel mehr Kinder- und Jugendtherapeuten, das ist ein echtes Problem. Wir haben viel zu wenig. Diese Stellen sind oft nicht besetzt. Und dann muss man einfach sehen, das kann man alles nur auch mit Geld beantworten. Da muss sich vor allem die Bundesregierung klar darüber sein, dass es diesen Kinderschutz nicht zum Nulltarif gibt und dass dieser ganze Runde Tisch da nichts wert ist, wenn sie da nicht verstärkt Gelder einsetzen, und das bedeutet auch, dass man Kommunen und Länder nicht ausbluten lassen, kann finanziell, so wie es derzeit die Bundesregierung auch tut.

    Heckmann: Inwieweit müssen Gesetze geändert werden, Stichwort Verjährungsfristen beispielsweise?

    Schwesig: Wir müssen über die Verjährungsfristen reden, denn es kann nicht sein, wenn Opfer sich erst heute ermutigt fühlen, Täter anzuzeigen, dass es dann aus diesen formalen Gründen nicht geht. Da muss man auf alle Fälle ran.

    Was uns Ländern auch vorschwebt, ist seitens der Jugend- und Familienministerkonferenz - und die Kultusminister haben sich ja jetzt auch so geäußert -, dass wir ein erweitertes Führungszeugnis brauchen für die Menschen, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben im Job, sei es in Schulen. Wir haben es bereits in Heimen, aber zum Beispiel müssen wir auch darüber nachdenken, ob das nicht auch für Ehrenamtler gelten muss, in Vereinen, in Verbänden. Hier muss eine ganz starke Transparenz her. Ich glaube, nur wenn wir es schaffen, ein klares Signal zu setzen, dass jeder aufklären will, dass wir so etwas nicht dulden, dann kann man auch wieder ein Vertrauen schaffen, denn natürlich gibt es jetzt auch ein hohes Misstrauen in der Bevölkerung, ob unsere Kinder und Jugendliche genug geschützt sind.

    Heckmann: Abschließend gefragt, Frau Schwesig: Wie groß ist Ihre Hoffnung, dass der Runde Tisch wirklich etwas bringt, oder wird der Runde Tisch eine Kommission mehr sein mit herzlich wenig Ergebnissen?

    Schwesig: Ich glaube, dass die Beauftragte gegen Missbrauch, Christine Bergmann, mit ihrer Anlaufstelle viel erreichen wird, alleine, dass die Opfer sich dort melden können. Ob der Runde Tisch wirklich diese Erwartungshaltung erfüllt, das wird man wirklich sehen. Wir werden uns als Länder dort einbringen. Aber hier muss vor allem die Bundesregierung sich darüber im Klaren sein, dass auch der Bund viel, viel mehr tun muss. Ein paar Gesetzesänderungen, das wird es nicht sein. Wir brauchen vor allem Prävention und ich finde, es müsste jetzt endlich mal entschieden werden, dass Kinderrechte ins Grundgesetz gehören. Kinder haben ein Recht auf Schutz, auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, und sie sind eigene Persönlichkeiten, nicht nur kleine Anhängsel von Erwachsenen, auf denen man auch mal im Zweifel herumtreten kann. Dieses Signal, Kinderrechte ins Grundgesetz, wenn da sich endlich auch die CDU einen Ruck geben könnte, wenn wir das hinkriegen könnten, das wäre auch ein Riesenmeilenstein.