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Kindesmissbrauch
Den Schleier der Passivität durchbrechen

Jährlich werden Zehntausende Kinder und Jugendliche Opfer von Missbrauch. Eine unabhängige Expertenkommission hat jetzt ihre Arbeit aufgenommen, um die Fälle in Heimen, Schulen und Familien aufzuarbeiten. Und sie soll dafür sorgen, dass Kinder und Jugendliche künftig besser geschützt sind. Eine Kultur des Hinschauens soll entstehen.

Von Christiane Habermalz | 03.05.2016
    Ein kleines Mädchen sitzt an eine Wand gelehnt neben ihrem Schulranzen und hält sich die Hände vors Gesicht.
    Eine Expertenkommission will Missbrauchsfälle in Heimen, Schulen und Familien aufarbeiten. (picture alliance / dpa / Nicolas Armer/dpa)
    Es ist Zufall, dass gerade heute in Dortmund ein 29-jähriger Kita-Erzieher wegen des sexuellen Missbrauchs einer Vierjährigen vor Gericht steht und gleichzeitig ein pensionierter Pfarrer in Hürth von einem Kirchengericht wegen mehreren Missbrauchsfällen in den 70er Jahren verurteilt wurde. Er war erst 2011 angezeigt worden.
    Die beiden Vorfälle illustrieren auf bestürzende Weise die Aktualität des Themas. 100.000 Kinder und Jugendliche werden jährlich zu Opfern. Noch immer werde in Deutschland zu viel weggeschaut, bagatellisiert und verdrängt, erklärte Johannes-Wilhelm Rörig, Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Missbrauchs:
    "Unabhängige Aufarbeitung und die Arbeit der Unabhängigen Aufarbeitungskommission sind auch deshalb so unendlich wichtig, weil Politik und Gesellschaft die riesige Dimension des sexuellen Kindesmissbrauchs noch begreifen müssen, um ihre Prioritäten neu zu setzen und damit endlich auch in Deutschland zu einem Rückgang der Fallzahlen zu kommen."
    Betroffene mussten lange auf Kommission warten
    Rörig gab heute, gemeinsam mit anderen Mitgliedern, den offiziellen Startschuss für die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs. Sie soll bis 2019 mehr Informationen über Ausmaß, Strukturen und Hintergründe von Missbrauch in Institutionen und im privaten Umfeld aufklären - sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik. Lange hätten Betroffene auf die Einsetzung einer Kommission warten müssen, betonte Rörig.
    "Jetzt endlich ist die Tür geöffnet, um systematisch und unabhängig Täter, Verharmloser und Unterstützer besser zu erkennen, verborgene Wahrheiten ans Licht zu befördern, Missbrauchsopfern Genugtuung zu geben und in der Kindheit erlittenes Unrecht gesellschaftlich anzuerkennen."
    Weltweit ist die Kommission zudem die erste, die nicht nur den Kindesmissbrauch in Institutionen, also Heimen, Internaten, Sportvereinen und Kirchen, sondern auch im familiären Umfeld aufarbeiten möchte. Dies sei besonders schwierig weil hier das Kartell von Schweigen und Verdrängen besonders stark sei. Der Kommission werden sieben ehrenamtliche Mitglieder angehören, darunter Pädagogen, Psychologen, Juristen und Betroffene. Den Vorsitz führt die Frankfurter Familienforscherin Sabine Andresen. Mathias Katsch vom Betroffenenrat war selber Schüler am Canisius-Kolleg.
    "Auf gesellschaftlicher Ebene geht es darum, zu klären, weshalb über Jahrzehnte in Ost wie West diese Verbrechen an Kindern und Jugendlichen weitgehend ignoriert und auf Meldungen von Opfern nur unzureichend reagiert wurde. Diesen Schleier auch Wahrnehmungsverweigerung und Passivität müssen wir durchbrechen."
    Reaktion auf Fälle am "Canisius-Kolleg"
    Im Zentrum der Arbeit der Kommission sollen Anhörung von Betroffenen sein, aber es sollen auch Akten und Archive gesichtet und öffentliche Hearings zu bestimmten Themen veranstaltet werden. Der Bundestag hatte sich im vergangenen Sommer für die Einsetzung der Kommission ausgesprochen, auch als Reaktion auf die Erkenntnisse über jahrelangen systematischen Missbrauch in der katholischen Eliteschule Canisius-Kolleg.
    Die Kommission wird bei ihrer Arbeit auf die Kooperation von Institutionen und Ämtern angewiesen sein, denn um Zeugen vorzuladen und Akteinsicht zu verlangen, hätte es eine gesetzlichen Verankerung benötigt, die Kommission hätte dann wie eine Art Tribunal agieren können. Diese hatte die große Koalition jedoch aber abgelehnt. 2017 will die Kommission einen Zwischenbericht vorlegen – bis dahin werde man sehen, ob das Mandat der Kommission für ihre Arbeit ausreichend sei, sagte Rörig.