Mittwoch, 24. April 2024

Archiv

Kindheit in Afghanistan
Ein Leben auf der Flucht

Qais Akbar Omars Kindheit und Jugend in Afghanistan waren von Bürgerkrieg und Taliban-Regime überschattet. In seinem Buch "Die Festung der neun Türme" beschreibt er nun, wie er und seine Familie diese Zeit überstanden.

Von Sabina Matthay | 01.09.2014
    Als die Taliban 2001 aus Afghanistan vertrieben wurden, war Qais Akbar Omar noch keine 20 Jahre alt, doch das Extremisten-Regime und der Bürgerkrieg zuvor hatten den jungen Mann zutiefst verstört. Deshalb stellt Omar eine Warnung an den Beginn seiner Memoiren:
    "Lange hatte ich den Kummer in meinem Herzen eingesperrt. Nun habe ich ihn an euch weitergegeben. Ich hoffe, ihr seid stark genug, diese Bürde zu tragen."
    Diese Geschichte einer afghanischen Familie beginnt mit dem Abzug der sowjetischen Armee 1989 und endet mit der Ankunft des US-geführten Bündnisses 2001. Seine frühe Kindheit verbrachte Qais Akbar Omar im geräumigen Haus des verehrten Großvaters in Kabul, zusammen mit seinen Eltern und Geschwistern, den sechs Onkeln und deren Familien, wie in Afghanistan üblich. Es waren idyllische Jahre in einer Stadt, die es heute nur noch in der Erinnerung gibt:
    "Kabul war damals wie ein einziger großer Garten. Bäume, deren Äste einander an den Wipfeln berührten und so eine Reihe hoher Arkaden aus Blättern bildeten, säumten die breiten Alleen; überall in der Stadt gab es gepflegte Parks, in denen langstielige, rosafarbene Malven mit leuchtend orangenen Ringelblumen und Rosen in Hunderten von Farbschattierungen um die Aufmerksamkeit der Spaziergänger wetteiferten."
    Dieses Idyll wurde von den Mudschaheddin zerstört, die 1991 das Marionettenregime der Sowjets in Afghanistan stürzten. Die Anführer der Fraktionen repräsentierten ethno-linguistische Gruppen und richteten bald die Waffen gegeneinander.
    "In ganz Afghanistan begann das Chaos auszubrechen. Afghanen, die ein bisschen Geld hatten oder Verwandte im Ausland, verließen ihre Heimat. Andere, die blieben, wurden Opfer von Gewalttätigkeiten oder ihrer Habe beraubt. Wir hörten von Frauen, die von Soldaten eben der Warlords vergewaltigt worden waren, die wir noch ein paar Monate zuvor über den Islam und seine Bedeutung für die Moslems und für Afghanistan hatten reden hören."
    Albträume bis heute
    Obwohl die Herrschaft der Mudschaheddin kürzer war als das folgende Regime der Taliban, widmet Qais Akbar Omar ihr zwei Drittel seines Buchs:
    "Die Menschen im Westen wissen von den Taliban, aber sie wissen nicht, was die Afghanen vor den Taliban durchgemacht haben, nämlich fünf Jahre Bürgerkrieg."
    Die Suche nach Sicherheit führte die Familie auf eine Odyssee quer durch den Norden Afghanistans. In der Provinz Samangan kam sie bei Nomaden unter, in Bamiyan hauste sie in den Höhlen hinter den riesigen Buddha-Statuen, die die Taliban später sprengten, in Mazar-e Sharif lehrten turkmenische Nachbarn Qais das Teppichweben. Schließlich kehrte der Clan zurück nach Kabul, in die "Festung der neun Türme", der das Buch seinen Titel verdankt. Außerhalb dieses Horts der Sicherheit erlebte der junge Qais Dinge, die ihm bis heute Albträume bescheren. Einmal hielt beispielsweise ein Milizführer den Jungen und seinen Großvater in einem Haus fest, in dem beide vor Jahren zu einer Verlobungsfeier eingeladen waren:
    "( ... ) dort, wo damals das Podium für die Musiker gestanden hatte, war nun ein großes Loch, in dem Dutzende von Männer- und Frauenköpfen sowie andere abgetrennte Körperteile lagen. Ich sah in diese Gesichter, und sie starrten aus offenen Augen zurück."
    Das Chaos der Mudschaheddin sei schwerer zu überleben gewesen, schreibt Omar, als das Regime der Taliban. Doch bereits seine erste Begegnung mit den radikalen Islamisten flößte ihm Furcht ein, er hielt sie für Vampire:
    "Solche Menschen hatte ich noch nie gesehen, weder im Traum, noch im Film, und auch in Romanen und Geschichtsbüchern waren sie mir noch nie begegnet. Sie sahen zwar aus wie Afghanen, trugen aber ungewöhnlich große schwarze oder weiße Turbane und überlange Hemden, die ihnen bis über die Knie gingen. Und sie hatten Peitschen bei sich. Ihre Augen waren mit einem Kajal-Stift schwarz umrandet, und ihre Bärte waren ungepflegt und lang."
    Qais Akbar Omar verwebt seine Erlebnisse mit Tempo und Spannung, Witz und Poesie anschaulich zu einer fesselnden Erzählung. Trotz aller Schrecken ist dies auch eine Geschichte der Liebe und der Solidarität, die seiner Familie das Überleben in schweren Zeiten ermöglichten. Denn auch das sei Afghanistan, sagt Qais Akbar Omar:
    "In den letzten zwölf Jahren sind viele Bücher über Afghanistan erschienen, meist von Ausländern, die unsere Kultur und unsere Bräuche nicht gut kennen. Dem wollte ich etwas entgegensetzen. Gewiss, jeden Tag geschieht Furchtbares in Afghanistan, aber es ereignen sich auch alle möglichen schönen Dinge."
    "Die Festung der neun Türme" ist die Liebeserklärung eines talentierten Autors an seine Heimat. Doch den Schwur, den er im Prolog ablegte, dass er nämlich allen Schwierigkeiten zum Trotz bleiben und beim Aufbau Afghanistans helfen werde, hat er bereits brechen müssen. Qais Akbar Omar lebt heute in den USA. Denn er fürchtet die Warlords von einst, die sich rechtzeitig mit dem Westen gegen die Taliban verbündeten und deshalb trotz ihrer Gräueltaten während des Bürgerkriegs ungeschoren geblieben sind.
    "Derzeit habe ich nicht vor, nach Afghanistan zurückzukehren. Denn die meisten Leute, über die ich in dem Buch schreibe, sind immer noch in der Regierung und an der Macht. Wer weiß, was noch kommt. Im Augenblick versuche ich, nicht weiter aufzufallen."
    Quais Akbar Omar: "Die Festung der neun Türme. Die Geschichte meiner afghanischen Familie"
    Übersetzung: Leon Mengden, C. Bertelsmann Verlag, 512 Seiten, 19,99 Euro
    ISBN: 978-3-570-10167-4