Donnerstag, 25. April 2024

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Kindheit in Nepal
Die Kindsgöttinnen von Kathmandu

Religion ist der Bindekitt in Nepal - ein Land, das unruhige Zeiten hinter sich hat. In der buddhistischen Tradition des Landes beschützt die Göttin Taleju das Land und seine Bewohner. Diese Schutzgöttin manifestiert sich immer wieder in einem Mädchen, das dann als Kindsgöttin, als Kumari verehrt wird von den Königen und Regierungschefs des Landes.

Von Jürgen Webermann | 02.06.2017
    Die Kindgöttin Junika in prächtiger Gewandung auf einem Thron, von Kerzen umgeben. Bild: Jürgen Webermann
    Junika ist die derzeitige Kindsgöttin in Kathmandu (Jürgen Webermann)
    Als ihr Besucher noch vor der Tür zum Tempel in Kathmandu steht, da darf Junika noch ein neun Jahre altes Kind sein. Sie schaut einen Comicfilm, im Innenhof des Tempels ist das zu hören.
    "Das dritte Auge"
    Ein paar Minuten später ist Junika eine Kumari. Eine Kindsgöttin. Sie sitzt stumm in einem rotgoldenen Gewand auf einem kleinen Thron, Augen und Stirn geschminkt, ein leer wirkender Blick nach vorn. Das Audienzzimmer ist abgedunkelt. Besuchern drückt Junika einen roten Punkt, ein Tika, auf die Stirn.
    "Das Tika ist das dritte Auge, durch das die Kindsgöttin alles sehen kann. Entweder sie, oder der Gott der Schöpfung und Zerstörung, Shiva."
    Ramis Bharracharia ist Junikas Vater.
    "Wir dürfen sie nicht mehr beim Namen nennen"
    "Aber wir ,als Eltern, dürfen sie nicht mehr beim Namen nennen - für uns ist sie nur noch die Kumari, die Göttin. Das wird auch später so bleiben. Den weltlichen Namen wird sie nur noch in offiziellen Dokumenten führen."
    Junikas Vater Ramis steht vor Bildern von Kindgöttinnen. Bild: Jürgen Webermann
    Junikas Vater Ramis ist stolz, dass seine Tochter zur Göttin gewählt wurde (Jürgen Webermann)
    Selbst eine Umarmung durch Mutter oder Vater ist tabu. Junika wird auch von ihren Eltern angebetet. Spielen darf sie nur mit ihrem kleinen Bruder und ihrer älteren Schwester. Vor fünf Jahren hatte ein Tempel-Komitee das Kind zur Göttin gewählt.
    "Das Komitee wählt die Mädchen nach 32 Kriterien aus. Aus 400 Haushalten schauen sie sich Mädchen im Alter zwischen vier und acht Jahren an. Ein Guru lädt die Mädchen zu Pujas, zu Zeremonien. Dann wird gewählt. Die Mädchen müssen zum Beispiel makellos schön sein. Sie dürfen keine Narben haben. Ich bin sehr stolz, der Vater einer Kumari zu sein."
    Der König ging in die Knie
    Kindsgöttinnen gelten in Nepal als die Inkarnation von Taleju. Für viele Nepalesen ist Taleju eine Schutzgöttin, verehrt von Hindus und Buddhisten gleichermaßen. Die Tradition ist jahrhundertealt. Sogar die Premierminister des Landes, darunter beinharte Kommunisten, besuchen die Kumaris. Früher, als Nepal noch eine Monarchie war, ging der König nur vor der Kindsgöttin auf die Knie.
    "Ich musste gehen lernen"
    Eine Kumari ist so lange Göttin, bis ihre erste Menstruation einsetzt. Dann wird sie zurück ins weltliche Leben gestoßen. Chanira erinnert sich noch gut an diesen Tag. Sie war zehn Jahre lang Kumari, bis zum 15. Lebensjahr.
    "Der Übergang ins normale Leben war schwer. Für mich war es sogar ein Schock, mein Alltag bestand ja bisher nur daraus, angebetet zu werden. Als Kindsgöttin konnte ich gar nicht aus dem Tempel heraus. Und wenn, dann nur zu religiösen Anlässen. Und da wurde ich getragen, als Göttin. Das Erste, was ich also lernen musste, war selbstständig zu gehen. Ich brauchte jemanden, der meine Hand hält und mir das beibringt. Ich musste lernen, mit Menschen zu sprechen, mich in Gruppen zu verhalten, alles eigentlich. Jeden Tag."
    Manchmal wünschte sich Chanira, wieder in einer Sänfte getragen zu werden.
    "Ja, die ersten Monate lang war das so…"
    Die Studentin Chanira steht vor einem Bild von sich als Kindgöttin. Bild: Jürgen Webermann
    Chanira war zehn Jahre lang Göttin (Jürgen Webermann)
    Chanira war die erste Kumari von Kathmandu, die einen Lehrer empfangen und mit ihm sprechen durfte. Das Oberste Gericht in Nepal hatte verfügt, dass auch Göttinnen ein Recht auf Schulbildung haben. Das war 2008. Viele Kumaris waren bis dahin im weltlichen Leben geradezu verloren. Chanira studiert jetzt Wirtschaftswissenschaften.
    "Aber auch an der Uni werde ich nicht normal behandelt. Da ist viel Respekt, auch bei den Lehrern. Sie behandeln mich anders als die anderen Studenten. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ich finde das nicht so gut. Ich will doch einfach nur eine normale Studentin sein."
    Doch Chanira bereut nichts. Ihr Leben als Kumari bezeichnet sie als "Segen". Manchmal besucht sie die jetzige Kindsgöttin Junika. Bis zum Tempel sind es keine 50 Meter.
    Vater wacht über den Zutritt zur Göttin
    Junika wird wohl noch einige Jahre Göttin bleiben. Aufstehen um sechs Uhr, dann Segnungen, Audienzen, Mittagessen, Schulunterricht für drei Stunden, Hausaufgaben und - wenn Zeit bleibt - Spielen mit den Geschwistern, das ist ihr Alltag im Tempel. Ihr Vater Ramis wacht darüber, wer Zutritt zur Göttin hat.
    "Ich war vorher ein einfacher Handwerker. Dann hatte ich einen Laden. Aber es war schwer, über die Runden zu kommen. Seit meine Tochter Kumari ist, sind wir in den Tempel gezogen und kümmern uns um sie."
    Nach wenigen Minuten ist die stumme Audienz bei Junika vorbei. Die Tür schließt sich und wer danach lange genug im Innenhof wartet, kann dabei zuhören, wie die Göttin wieder zum Kind wird. Ganz offensichtlich hat sie sich wieder vor den Fernseher gesetzt, um den Comicfilm weiter zu schauen.