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Kindheit mit Schrecken

Schwedische Kinderbücher bilden ein eigenes Sternenbild in der Gutenberggalaxis, und die prominentesten Sterne darin sind die Titel von Astrid Lindgren. Bewohnt sind diese Welten von staatsgläubigen Erwachsenen einerseits und kleinen, exzentrischen Personen andererseits wie Pippi Langstrumpf oder Karlsson, die den braven Bürgern auf´s Dach steigen. Lindgrens junge Anarchisten machen den anständigen Familien die Kinder abspenstig und gehen mit ihnen, den artigen Thomas und Annikas dieser Welt, auf Entdeckungsfahrt.

Hartmut Kasper | 14.11.2003
    Man ruft Juchhe, was soll man dazu sonst auch sagen.
    Stellen wir uns nun aber vor, Pippi träte als homosexuelle Alleinunterhalterin im Varieté auf, Annika wäre nach einer Gruppenvergewaltigung in Richtung Amerika geflohen und Thomas hätte Selbstmord begangen. Dann wären wir angekommen in der Kinderwelt, die der schwedische Komödiant und Theaterautor Jonas Gardell in seinem Roman "Ein Komiker wächst heran" schildert.

    Gardells Geschichte von Kindheit bietet etwas wie die schwarze Variante zur Pippi-Langstrumpf-Konstellation, eine Geschichte, in der die Kindheit kein sanft leuchtender Stern ist, sondern ein Black Hole, das die Menschen verschlingt.
    Auch hier spielen drei Kinder die Hauptrollen, und darunter ist eine komische Figur; sie heißt Juha, ein zwölfjähriger Junge, der seinen Auftritt vor der Klasse 6 immer dann hat, wenn die sogenannte lustige Stunde auf dem Stundenplan steht und die Schüler Sketche aufführen dürfen.

    Allerdings sind die Scherze des erblühenden Komikers nicht unbedingt jugendfrei, sondern obszön und rassistisch. Nur das jedoch sichert ihm eine begrenzte Immunität in einer Gruppe Gleichaltriger, für die das Heranwachsen ein Art Kriegsspiel ohne jeden Spaß ist, ein Kampf um Macht und Vorherrschaft, wenigstens aber ums Überleben.

    So ist Juhas Lustigkeit zunächst nichts als Notwehr. Mit dieser Strategie überlebt der Witzbold immerhin die Kindheit, anders als sein Klassenkamerad Thomas.

    Dieser Thomas ist als Sohn einer Deutschen stigmatisiert dort in Sävbyholm, einer Vorstadt Stockholms. In einer der gespenstischsten Szenen des Romans hat seine ihn allein erziehende Mutter sämtliche Klassenkameraden über deren Eltern auf ein Kinderfest eingeladen; da die Eltern angeschrieben waren, ist Erscheinen Pflicht. Thomas, als Halbblut Prügelknabe, weiß, dass die Prügel nach dem Fest alle vorangegangene übersteigen wird. Seine Mutter begreift erst im Lauf der Feier mit Schrecken, welche Folgekosten ihr Sohn wird zahlen müssen. Am Ende des gescheiterten Festtags hält der Sohn die Mutter tröstend in den Armen.

    In solchen heillosen Bildern erstarrt der Text immer wieder, etwa, wenn der Freitod von Thomas als Intermezzo während der Zeugnisausgabe bekannt gegeben wird oder wenn Juha erfährt, wie die Herren der Klasse gemeinschaftlich über seine Jugendfreundin Jenny hergefallen sind. Jenny, das unhübsche Mädchen, ist die dritte dieser um ihr Überleben kämpfenden Zwangsgemeinschaft, von der in der Klasse als von den "drei peinlichen Schweinchen" die Rede ist.

    Einer der Täter selbst berichtet viele Jahre später dem erwachsenen Juha von diesem perversen Angriff, denn es gibt Juha zweimal im Roman, einmal als den Zwölfjährigen, dessen katastrophale Kindheit aus einiger Distanz dargestellt wird, dann als den Erwachsenen, der zugleich Ich-Erzähler seiner Gegenwart und Kommentator seiner Vergangenheit ist.

    Der erwachsene Juha ist – wie der Autor Jonas Gardell – Komödiant geworden. Während jedoch die elenden Witzchen des jungen Juha dem Leser mitgeteilt werden, hört man vom aktuellen Programm des professionellen Komikers kein Wort. Der erwachsene Erzähler enthüllt stattdessen mehr und mehr vom Motor seiner Lustigkeit.

    Zu Beginn des Romans verspricht das Ganze noch, sich in Richtung Schwarze Komödie zu entwickeln. Man wird in Juhas Familie eingeführt und in ihre grotesken Rituale. Haustiere wie das bisswütige Zwergkaninchen werden im Rahmen von Familienausflügen zur Einschläferung gefahren; die Mutter ist zwar Atheistin und schimpft, wenn der Vater mit den Kindern "Tod und Auferstehung Jesu" spielt, andererseits versucht sie allen Ernstes, mittels Verwünschungen die Konkurrenten von Ski-As Ingemar Stenmarks aus dem Rennen zu werfen; der endlose Streit der Eltern geht unter im Lärm einer täglichen Radioshow mit dem Titel "Witze ohne Unterlass"; seitenlanges Türenschlagen.
    Die einzige Insel der Ruhe, die Juha findet, sein einziger Heilsbezirk ist ein Buch, das ihn immer wieder zu Tränen rührt: Astrid Lindgrens "Die Brüder Löwenherz".

    Doch je weiter die Erzählung in die Kindheit vordringt, desto mehr verblasst alles Komödiantische zu Gunsten der puren Schwärze.

    Sogar Juhas Lehrerin, die wie alle Lehrerfiguren doch etwas wäre wie eine geborene Karikatur, bringt keine Lacher, wenn sie unter bizarren Vorwänden aus dem Klassenzimmer flieht, um einen Schluck aus der Flasche zu nehmen und im Kartenraum darauf zu warten, dass eine höhere Behörde sie auf eine andere, die richtige, die wahre Stelle versetzt.
    Alle verlieren. Selbst die Quälgeister der Klasse gehen im Leben kläglich unter. Doch nicht einmal da stimmt versöhnlich.

    "Ich erinnere mich an unsere Kindheit in Sävbyholm als ein einziges Grausen", resümiert der Ich-Erzähler. "Diese Kinder aus Sävbyholm. Sie sind wie Gespenster." Sicher ist Gardells Komiker nicht der erste, den bei der Wiedervorlage seiner Kindheit statt milder Wehmut das Grausen packt. Aber er beweist, dass die Verwirrung der Zöglinge immer noch ein großes und literarisch ergiebiges Thema ist.

    Jonas Gardell
    Ein Komiker wächst heran
    Kiepenheuer & Witsch, 256 S., EUR 8,90