Freitag, 19. April 2024

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Kinkel: Gemeinsam hilflos und mitverantwortlich

Nach Ansicht des früheren Bundesaußenministers Klaus Kienkel hat die internationale Gemeinschaft und Europa während des Bosnien-Kriegs von 1992 bis 1995 schwere Versäumnisse auf sich geladen. Das habe sicherlich auch daran gelegen, dass man sich nicht zu einem gemeinsamen und massiveren Vorgehen hätte entscheiden können.

Moderation: Dirk Müller | 23.07.2008
    Dirk Müller: "Ihr müsst wissen, dass ihr Bosnien-Herzegowina in die Hölle stürzt und das muslimische Volk in den Untergang. Das muslimische Volk kann sich nicht verteidigen, wenn es zum Krieg kommt." Das war Radovan Karadzic im Oktober 1991 vor dem Parlament. Nur ein halbes Jahr nach dieser Sitzung und der Unabhängigkeitserklärung der Bosniaken stürzt Karadzic selbst das Land in den Krieg, organisiert gemeinsam mit Slobodan Milosevic den Aufmarsch serbischer Soldaten gegen muslimische Einheiten in Bosnien. Politisch hautnah miterlebt hat die damalige Entwicklung Klaus Kinkel als deutscher Außenminister. Wir sind gleich mit ihm verabredet.

    Fast alle atmen tief durch und sagen "Endlich!", aber es gibt auch serbische Nationalisten, die ihn immer noch verehren - Radovan Karadzic, der meistgesuchte mutmaßliche Kriegsverbrecher des Balkankonflikts. Nach fast 13 Jahren ist er am Montagabend festgenommen worden, auch ein Signal von Belgrad aus, nun schneller, konstruktiver auf die Europäische Union zuzugehen. Slobodan Milosevic, Ratko Mladic, der immer noch gesucht wird, und Radovan Karadzic, Namen, die Anfang bis Mitte der 90er-Jahre Europa und die Welt in Atem gehalten haben. Alle drei Serben haben damals auch Klaus Kinkel in Atem gehalten, damals Bundesaußenminister.

    Klaus Kinkel: Guten Morgen!

    Dirk Müller: Herr Kinkel, es wurde gemordet, hingeschlachtet, ethnisch gesäubert. Wie oft haben Sie damals Ohnmacht verspürt?

    Kinkel: Leider Gottes sehr oft. Wir waren und sind ja immer noch nicht im Sicherheitsrat, der sozusagen die Oberherrschaft über die Art und Weise, wie mit den Dingen umgegangen worden ist auf dem Balkan, hatte. Aber natürlich war ich auch als deutscher Außenminister stark involviert und entsetzt über das, was da abgelaufen ist und in der Tat zu oft hilflos.

    Müller: Warum waren Sie hilflos?

    Kinkel: Weil wir im Grunde wenig ausrichten konnten. Wir waren nicht diejenigen, die das Heft des Handelns in der Hand hatten. Trotzdem hat es mich unendlich - damals schon - bedrückt, und wenn ich ehrlich bin, ist das heute noch so, dass man immer wieder darüber nachdenkt, ob man nicht doch hätte helfen können, ob man nicht doch hätte durch massiveres, gemeinsames Vorgehen vieles verhindern können. Es war nicht so und damit müssen wir leben.

    Müller: Über wen, Herr Kinkel, haben Sie sich in der westlichen Welt am meisten geärgert?

    Kinkel: Ach Gott, das kann ich so nicht sagen, wir saßen ja pausenlos zusammen, wir haben alles mögliche unternommen, wir haben Pläne geschmiedet, wir wollten, wir wollten helfen. Es war nur in beschränktem Umfang möglich. Es hatte natürlich auch ganz entscheidend damit zu tun, dass wir damals die Russen nicht auf unsere Seite bekommen haben.

    Müller: Welche Rolle haben die Franzosen, haben die Engländer gespielt?

    Kinkel: Ich möchte keine Anklage erheben. Wir waren gemeinsam letztlich hilflos und wenn Sie so wollen auch ein klein wenig mitverantwortlich.

    Müller: Warum war man Anfang der 90er-Jahre ... Sie haben jetzt ein Beispiel genannt, Sie haben den Sicherheitsrat angeführt als ein Argument, Sie haben die russische Rolle, also die Rolle Moskaus angeführt als ein Argument, aber dennoch - jetzt, 15 Jahre danach, 15, 16 Jahre danach leuchtet es doch vielen, die das damals nicht mitbekommen haben, nicht ein, warum man hilflos war. Wer war denn hilflos?

    Kinkel: Es war so, dass die Vereinten Nationen irgendwo, irgendwie nicht handlungsfähig waren. Ich will aber nicht alles dahin schieben. Auch wir Europäer, die wir ja eine große Verantwortung getragen haben, konnten uns nicht zu militärischen, gemeinsamen Maßnahmen durchringen. Man hat erst spät, sehr spät die NATO eingesetzt damals, im Kosovo, als es ganz besonders schwierig geworden war. Vielleicht hätte man früher handeln müssen und es war natürlich auch besonders tragisch, dass dann Dinge wie in Srebrenica geschehen sind, wo UNO-Soldaten quasi hilflos zugeschaut haben, vielleicht zuschauen mussten, wie 8000 Muslime ermordet wurden.

    Müller: Sie haben gesagt, Sie wollen keine Anklage erheben, aber können Sie das bestätigen, stimmt es, so wie es teilweise nachzulesen ist, dass vor allem der Widerstand aus Paris, der Widerstand aus London dazu geführt hat, dass die Internationale Staatengemeinschaft nicht schneller eingegriffen hat?

    Kinkel: Ich sage noch mal, es war schwierig, alle auf einen Nenner zu bringen und es waren eben auch noch die Querverbindungen aus vorausgegangenen Zeiten, die da bestanden und die mit dazu beigetragen haben, dass man nicht zu einem einheitlichen Eingreifen kam.

    Müller: Zurückreichend bis zum Zweiten Weltkrieg?

    Kinkel: Ja, zurückreichend bis zum Zweiten Weltkrieg, wenn ich mir das nachträglich alles noch mal genau überlege.

    Müller: Waren Sie wütend?

    Kinkel: Ja, ich war wütend, sehr sogar, und wir haben uns auch durchaus oft im Kreis der Außenminister erregt unterhalten, dass es uns nicht gelungen ist, die Lage in den Griff zu bekommen. Das war so ein bisschen wie in Ruanda und Burundi, wo man auch eben Ende des 20. Jahrhunderts hilflos zugesehen hat. So ganz hat mich das bis heute nicht losgelassen.

    Müller: Viele haben damals schon gesagt: politisches Versagen der Europäer, historisches Versagen?

    Kinkel: Vielleicht ja. Es war ja nach dem Zweiten Weltkrieg eines der schlimmsten Massaker, das da noch stattgefunden hat, Sarajewo, Srebrenica und dann diese furchtbaren Vorkommnisse in den Lagern in der Region Prijedor im Nordwesten Bosniens. Ich muss nur allerdings auch sagen, dass wir so über die Einzelheiten nicht jeweils unterrichtet waren. Ich will damit keine Entschuldigung irgendwie nachträglich äußern, aber es war schon manchmal so, dass man sich gewünscht hätte, man hätte mehr gewusst. Wir waren als Deutsche jedenfalls nicht in der Lage, dort irgendwo die Headlinerschaft zu übernehmen. Es wäre wahrscheinlich nur in der Tat mit der NATO gegangen und es war sehr, sehr schwer, mit den Russen zurande zu kommen und es war natürlich auch sehr, sehr schwer, die Europäer auf eine Linie zu bringen.

    Müller: Sie haben in der damaligen Situation einmal gesagt, Herr Kinkel: "Wir müssen die Serben in die Knie zwingen". Das hat sehr heftige Reaktionen ausgelöst. Viele haben zugestimmt und andere, gerade aus diplomatischer Sicht, haben gesagt, das hätte er nicht sagen dürfen, der Außenminister - die Funktion, die Sie damals bekleidet haben. Haben Sie das bereut, das gesagt zu haben?

    Kinkel: Ich habe es nicht so gesagt, soweit ich mich erinnere, sondern ich habe gesagt, wir müssen Milosevic in die Knie zwingen. Davon war ich allerdings tief überzeugt und es wäre auch richtig gewesen. Ich weiß nicht mehr ganz genau, ob ich das andere auch gesagt habe, aber ich glaube, ich habe es auf Milosevic bezogen, auf den ich besonders wütend war. Ich freue mich natürlich deshalb auch ganz besonders, dass Karadzic jetzt gefasst wurde und würde mir sehr, sehr wünschen, dass das auch bald mit Mladic und dem damals in Kroatien verantwortlichen Hadzic geschehen würde.

    Müller: Sie waren damals einer der ersten westlichen Politiker, die Slobodan Milosevic in Belgien getroffen haben, in einer sehr brenzligen, sehr angespannten Situation. Auch das war bei den Verbündeten nicht unumstritten. Sie haben Slobodan Milosevic die Hand geben müssen. Wie war das?

    Kinkel: Ich war, glaube ich, derjenige von den Außenministern - da tun Sie mir Unrecht -, der Milosevic am letzten und am spätesten die Hand gegeben hat. Ich musste damals als Außenminister runterreisen nach Belgrad, um mit ihm in der Flüchtlingsfrage zu verhandeln und auch alles, was Serben anbelangte in Deutschland. Wir waren ja in einer ganz schwierigen Situation. Ich habe auch Karadzic, soweit ich mich erinnere, nur ein einziges Mal, und zwar beim Abschluss des Dayton-Vertrages in Paris, getroffen, habe auch ihm damals nicht die Hand gegeben, war mit Milosevic vorher mehrfach zusammen und habe ihm nicht die Hand gegeben. Aber ich musste mich eben dann auch als Außenminister damals nach Belgrad begeben, das ist mir verdammt schwergefallen.

    Müller: Hätte man die beiden gleich damals mitnehmen müssen?

    Kinkel: Tja. Das ist heute leicht gesagt, das wäre damals nicht möglich gewesen, glaube ich, und ich meine, wir hatten ja immerhin den Vertrag von Dayton und man hat damals ja gehofft und gewusst, dass es doch wahrscheinlich, jedenfalls mit dem Schrecklichsten, zu Ende war. Trotzdem - was vorausgegangen war, war schlimm.

    Müller: War das das frustrierendste Kapitel in Ihrer politischen Laufbahn?

    Kinkel: Mit das frustrierendste. Ich habe vorher ein anderes angesprochen, das mich auch persönlich furchtbar geschlaucht hat, das war Ruanda und Burundi, wo eben auch die Vereinten Nationen, wenn Sie so wollen, versagt haben. Aber wie gesagt, ich will keine Schuldzuweisungen machen, ich war damals dabei, wir haben alle Verantwortung getragen und wir haben es nicht fertiggebracht, diese schrecklichen Dinge zu verhindern.

    Müller: Sind wir Europäer jetzt besser?

    Kinkel: Ich weiß es nicht, wie es wäre, wenn wir in einer vergleichbaren Situation wären. Ich kann nur hoffen, dass wir gelernt hätten aus dem, was damals war. Und die Hoffnung habe ich doch.

    Müller: Haben wir, letzte Frage, Herr Kinkel, beim Kosovo schneller, besser reagiert?

    Kinkel: Ja, im Endeffekt ja, es war wohl auch mit die Erfahrung des Vorausgegangenen, dass man gemerkt hat, so geht es nicht mehr und man dann eben doch Milosevic in die Knie gezwungen hat und das war zwingend und wahrhaftig dringend notwendig.

    Müller: Bei uns im Deutschlandfunk Klaus Kinkel, vielen Dank!