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Kinohafte Traumwelten

Karl Mays Werk ist groß und umfangreich: Schwindelerregende 200 Millionen Bücher wurden verlegt, in 40 Sprachen wurde er übersetzt. Was macht den Erfolg dieses Autors aus, der heute vor genau 100 Jahren starb?

Jürgen Seul im Gespräch mit Tanya Lieske | 31.03.2012
    Tanya Lieske: Er reitet noch immer, der unsterbliche Winnetou mit seinem Blutsbruder Old Shatterhand. Vor hundertsiebzig Jahren, im Februar 1842 wurde ihr Schöpfer Karl May geboren, und Karl May, der die meiste Zeit seines Lebens nicht im Wilden Westen oder im Fernen Orient, sondern im sächsischen Radebeul verbrachte, starb genau heute vor hundert Jahren, am 30. März 1912. Grund genug, ihm die heutige Sendung, den heutigen Büchermarkt für Junge Leser zu widmen, dazu begrüßt Sie Tanya Lieske am Mikrofon. Ein Studiogast sitzt mir gegenüber. Jürgen Seul, Sie sind Jurist, Literaturwissenschaftler und Historiker, das sind drei Disziplinen, mit denen man sich Mays Werk gut nähern kann. Sie sind auch Mitglied der Karl-May Gesellschaft, das ist eine der größten Literarischen Gesellschaften in Deutschland, 1800 Mitgliedern in 25 Ländern. Wie muss man sich die Arbeit in einer solchen Gesellschaft eigentlich vorstellen? Karl Mays Werk ist groß und umfangreich. Schwindelerregende 200 Millionen Bücher wurden verlegt, in 40 Sprachen wurde er übersetzt, wenige Autoren schaffen mehr - wenn Sie es auf den Punkt bringen wollten – was macht den Erfolg der vielen Karl-May Romane aus?

    Jürgen Seul: Also, Karl May, das sind Traumwelten. Man entführt Leser in Welten, die sie sich sonst nur in ihren Träumen vorstellen konnten. Heutzutage mag das anders sein, aber früher war es für die Menschen wichtig, dass sie ausbrechen konnten aus dem grauen Alltag. May bot auch mythische Gestalten wie den Winnetou. Winnetou ist ja fast so was wie eine reale Person geworden. Und was man nicht vergessen darf, May bietet auch Werte. Werte wie Freundschaft oder den Schwächeren zu helfen, das ist in seinem Werk eine wichtige Komponente, und das ist es auch, was Menschen in ihrem Alltag haben wollen.

    Lieske: Karl May hat ganze Generationen entführt, in den Wilden Westen, den Orient, die Vereinigten Staaten des 19. Jahrhunderts. Seine Sprache ist schwelgerisch, seine Landschaftsbeschreibung episch, zündet Bilder im Kopf. Trotzdem wird er heute weniger gelesen als früher. Gehören seine Bücher in ein vorvisuelles Zeitalter?

    Seul: Mir fällt dazu immer der Film "Der mit dem Wolf tanzt" ein. Karl May schreibt eigentlich so, wie dieser Film es darstellt. Das macht die Faszination aus, er schreibt kinohaft, sehr plastisch.

    Lieske: Karl May, 1842 in Ernstthal bei Zwickau geboren, kommt aus einer armen Weberfamilie. Neun Geschwister starben, er bekam trotzdem eine gute Ausbildung. Ab 1856 war er Proseminarist, sollte Lehrer werden. Dann ging aber gleich etwas schief, er entwendete Kerzen, eine Uhr, überwarf sich immer wieder mit dem Gesetz, verbüßte mehrjährige Haftstrafen, einmal drei, einmal vier Jahre Zuchthaus. Sie sind Jurist, haben über diese Delikte auch publiziert – was ist davon zu halten?

    Seul: Es fing ja leider damit an, dass er sich eine Uhr angeblich gestohlen hatte, er hatte sie eigentlich nur ausgeliehen, wollte bei den Eltern an Weihnachten renommieren damit. Es war eigentlich von Anfang an klar, dass es kein Diebstahl war. Der Diebstahl setzt eine Zueignungsabsicht, wie der Jurist sagt, voraus. Der Staat reagierte allerdings sehr heftig, er verlor seine Lehrerlaubnis, war in seiner Laufbahn zerstört. Das führte dazu, dass er beruflich nicht mehr wusste, was er machen sollte, und das förderte die Serienstraftaten. Er hatte keine Chance mehr gehabt, keine Chance mehr gesehen aus seiner Sicht.

    Lieske: Besonders der Uhrendiebstahl, da war er erst 19 Jahre alt, hat etwas fast Ikonografisches. Darüber hat Karl May darüber später geschrieben, man hört die eigene Fassungslosigkeit ("Mein Leben und Streben 1910"):

    Karl May: Mein Leben und Streben (1910), 4. Kapitel: Seminar- und Lehrerzeit

    "Da kam Weihnacht. Ich teilte ihm mit, daß ich die Feiertage bei den Eltern zubringen würde, und verabschiedete mich von ihm, weil ich nach Schluß der Schule gleich abreisen wollte, ohne erst in die Wohnung zurückzukehren. Als die letzte Schulstunde vorüber war, fuhr ich nach Ernsttal, nur eine Bahnstunde lang, also gar nicht weit. Die Uhr zurückzulassen, daran hatte ich in meiner Ferienfreude nicht gedacht. Als ich bemerkte, daß sie sich in meiner Tasche befand, war mir das sehr gleichgültig. Ich war mir ja nicht der geringsten unlautern Absicht bewußt. Dieser Abend bei den Eltern war ein so glücklicher. Ich hatte die Schülerzeit hinter mir; ich besaß ein Amt; ich bekam Gehalt. Der Anfang zum Aufstieg war da. Morgen war heiliger Abend. Wir begannen schon heut die Christbescherung vorzubereiten. Dabei sprach ich über meine Zukunft, über meine Ideale, die für mich alle im hellsten Weihnachtsglanze standen. Der Vater schwärmte mit. Die Mutter war stillglücklich. Großmutters alte, treue Augen strahlten. Als wir endlich zur Ruhe gegangen waren, lag ich noch lange Zeit wach im Bette und hielt Rechenschaft über mich. Meine innere Unklarheit wurde mir zum ersten Male wirklich bewußt. Ich sah die Abgründe hinter mir gähnen, vor mir aber keinen mehr, denn mein Weg schien zwar schwer und mühevoll, aber völlig frei zu sein: Schriftsteller werden; Großes leisten, aber vorher Großes lernen! Alle inneren Fehler, welche die Folgen meiner verkehrten Erziehung waren, nach und nach herauswerfen, damit Platz für Neues, Besseres, Richtigeres, Edles werde! In diesen Gedanken schlief ich ein, und als ich früh erwachte, war der Vormittag schon fast vorüber, und ich mußte nach dem Hohensteiner Christmarkt, um noch einige kleine Einkäufe zur Bescherung für die Schwestern zu machen. Dort traf ich einen Gendarm, der mich fragte, ob ich der Lehrer May sei. Als ich dies bejahte, forderte er mich auf, mit ihm nach dem Rathause zu kommen, zur Polizei, wo man eine Befragung für mich habe. … Meine Bestürzung war unbeschreiblich. Ein einziger klarer, ruhiger Gedanke hätte mich gerettet, aber er blieb aus. Ich brauchte die Uhr einfach nur vorzuzeigen und die Wahrheit zu sagen, so war alles gut; aber ich stand vor Schreck wie im Fieber und handelte wie im Fieber. Die Uhr verschwand, nicht wieder in der Tasche, sondern im Anzuge, wohin sie nicht gehörte, und kaum war dies geschehen, so kehrte der Gendarm zurück, um mich abzuholen. Mache ich es mit dem, was nun geschah, so kurz wie möglich! Ich beging den Wahnsinn, den Besitz der Uhr in Abrede zu stellen; sie wurde aber, als man nach ihr suchte, gefunden. So vernichtete mich also die Lüge, anstatt daß sie mich rettete; das tut sie ja immer; ich war ein - - - Dieb! Ich wurde nach Chemnitz vor den Untersuchungsrichter geschafft, brachte die Weihnachtsfeiertage anstatt bei den Eltern hinter Schloß und Riegel zu und wurde zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt."

    Lieske: Hier blickt ein alter Mann auf seine Jugend zurück. Herr Seul, schreibt so ein Mann, der sich über sich selbst im Klaren ist?

    Seul: Also allgemein weiß May vieles zu verschleiern. Aber gerade diese Szene halte ich absolut authentisch. Sie zeigt auch, das ist keine kriminelle Energie, sondern das ist der leichtsinnige Karl May, der hier gehandelt hat.

    Lieske: Die Täuschung und Selbsttäuschung, die Maskerade, die Show spielen eine große Rolle in seinem Leben. Karl May veröffentlichte erste Reiseerzählungen, Fortsetzungsgeschichten, Kolportageromane und dann mit einsetzendem Erfolg den Orient- und den Winnetou-Zyklus. Dazu gehörte eine umfangreiche Selbstdarstellung: Er setzte die Old-Shatterhand-Legende in die Welt: Er selbst war , er selbst wurde Old Shatterhand. Er ließ sich eine Silberbüchse, einen Henrystutzen anfertigen und gab Kostümfeste. Da war er schon ein gestandener Mann von ca. 40 Jahren. Was sagt uns das über den Autor?

    Seul: Karl May war natürlich auch ein PR-Mann. Er wusste sich sehr gut zu verkaufen, er konnte beweisen, dass er wirklich gereist ist. Auf der anderen Seite war es eine Möglichkeit zu zeigen, ich bin ja doch wer, nicht nur ein Zuchthäusler, jemand der gescheitert ist als Lehrer, sondern ich stelle was dar. Das war ihm ganz wichtig. Er konnte auch seinen Zuschauern im Garten die Narbe zeigen, die Winnetou ihm zugefügt hat. Er hatte eine Narbe am Kinn und gesagt, sehr her, das ist die Szene aus Winnetou I, hier hat Winnetou mich verletzt. Es war ihm ganz wichtig, Authentizität herzustellen.

    Lieske: Er war ja auch auf Reisen, beschrieb unter Tränen Winnetous Tod, wurde sogar am Hof in Österreich empfangen – war das eine Persönlichkeitsstörung oder klares Kalkül?

    Seul: Also, May litt unter einer Persönlichkeitsstörung. Da gibt es verschiedene Meinungen zu, und das würde jetzt zu weit führen, das alles auszuführen. Es gab aber immer alles nebeneinander, den PR-Gag und die Persönlichkeitsstörung.

    Lieske: Wie perfekt die Simulation war, hört man an einem Brief, den er einem jungen Leser schrieb:

    Karl May: Brief an einen jungen "Fan" aus Montabaur vom 2. November 1894
    (Aus: Frankfurter Zeitung vom 01.04.1937. Reprint in: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft Nr.71, Februar 1987, S.25-26)


    "Oberlößnitz, Dresden, den 2. XI. 94.

    Mein lieber Freund!

    Ihre gute Frau Mama war bei mir und hat mir die Fragen übergeben, die ich Ihnen hiermit beantworten will:
    1. Der Bärentöter ist ein doppelt Vorderlader mit 2-lötigen Kugeln, Treffsicherheit 1800 m, Gewicht 20 alte Pfund; es gehört also ein sehr kräftiger Mann dazu. Verfertigt von der berühmten Firma M. Flirr, San Franzisco. Er ist das einzige Gewehr nach dieser Art.
    2. Der Henrystutzen ist gezogen; der Lauf wird nicht warm, was eben sein größter Vorzug ist. Treffsicherheit 1500 m. Die Patronen sind in einer exzentrisch sich drehenden Kugel enthalten.
    3. Winnetou, der Häuptling der Apachen, war 32 Jahre alt, als er starb. Sein Name wird ausgesprochen Winneto-u, das o-u sehr schnell hintereinander als Diphthong.
    4. Ich spreche und schreibe: Französisch, Englisch, Italienisch, Spanisch, Griechisch, Lateinisch, Hebräisch, Rumänisch, Arabisch 6 Dialekte, Persisch, Kurdisch 2 Dialekte, Chinesisch 2 Dialekte, Malayisch, Namaqua, einige Sunda-Idiome, Suaheli, Hindostanisch, Türkisch und die Indianersprachen der Sioux, Apachen, Komantschen, Snakes, Uthas, Kiowas nebst dem Ketschumany 3 südamerikanische Dialekte. Lappländisch will ich nicht mitzählen."


    Lieske: Karl May, ein Autor, der in zwei Welten lebte, der unseren und der, die er sich selbst geschaffen hatte. Den Orientzyklus schrieb er ab 1892, er besuchte den Orient aber erst sieben Jahre später. Welche Auswirkungen hatte diese Reise?

    Seul: Das führte letztlich zu einem Zusammenbruch. Er sah nämlich, er ist ja doch nicht der Kara Ben Nemsi. Er fand sich nicht mehr zurecht. Er kannte theoretisch zwar die ganze Umgebung, er kannte sich in Kairo aus, aber er konnte mit den Menschen nicht umgehen. Er konnte kein Arabisch, er konnte kein Englisch, er war hilflos. Er war ein hilfloser, älterer Reisende, und das brachte bei ihm den Zusammenbruch dieser Old Shatterhand-Legende.

    Lieske: Seine Traumwelt hat ihn ja am Ende seines Lebens noch mal eingeholt. Ein Journalist namens Rudolf Lebius führte eine umfangreiche Pressecampagne gegen Karl May. Was war damals eigentlich los?

    Seul: Lebius hatte vor allen herausgefunden, dass Karl May vorbestraft war, und er versuchte, ihn damit zu erpressen. Er hat gesagt, er würde für ihn schreiben, wenn er ihm Geld geben würde. Als May das abgelehnt hat, hat er dann gegen ihn geschrieben. Er hat die ganzen Vorstrafen rausgefunden, und aus Karl May dem Einzeltäter wurde auf einmal ein Bandenhauptmann. Dann haben die beiden einen erbitterten Krieg geführt in den Gerichtssälen.

    Lieske: Das war, denke ich, besonders verhängnisvoll, weil das Gute, Edle und Schöne ja eine große Rolle spielt in seinem Werk.

    Seul: As war genau das Problem. Er war der gute Old Shatterhand, er war der edle Kara Ben Nemsi, und auf einmal steht in allen Zeitungen, er ist der vorbestrafte Zuchthäusler. Das führte zu einem Hass auf diesen Rudolf Lebius und zu der Intensität, mit der er ihn bekämpft hat.

    Lieske: Vielleicht braucht es ja diesen Schuss Wahnsinn, um so tolle Werke zu schreiben.

    Seul: Es gibt in der Forschung ja die Erklärung, dass Karl May Pseudologe war. Das hat ihn einerseits befähigt, Hochstapler zu sein, aber andererseits auch sich in Traumwelten hineinzuschreiben und diese gut darzustellen.

    Lieske: Karl May hat sich vor allem nach seinen Reisen als ein Mann des Friedens, der Völkerverständigung gezeigt, er stellte sich gegen den rassistischen und imperialistischen Geist seiner Zeit. Wie wichtig ist dieser Aspekt seines Schaffens?

    Seul: Der ist ganz wesentlich. Es gibt zum Beispiel dieses Buch "Und Friede auf Erden", "Et in terra pax". Da war es zum Beispiel so, dass der Herausgeber eine wilde Piratengeschichte haben wollte, die guten Deutschen sollten die bösen Chinesen besiegen. Stattdessen lieferte May ein Werk der Völkerverständigung und des Friedens. Das war für ihn ein literarischer Coup, der ihm sehr gut getan hat.

    Lieske: Welche Rolle spielt der edle Apatschen-Häuptling Winnetou in all dem?

    Seul: Im Alterswerk spielt er keine Rolle mehr, da kommt Winnetou praktisch nicht mehr vor, auch nicht im Band Winnetou IV, da ist er schon verstorben. Ansonsten ist Winnetou eine ganz zentrale Persönlichkeit bei Karl May. Er wirkt fast schon wie ein indianischer Jesus

    Lieske: Lassen Sie uns auch da noch mal reinhören. Auftritt Winnetou!

    In: Karl May: Winnetou II (1893), 1. Kapitel: Als Detektive

    Er trug ein weißgegerbtes und mit roter, indianischer Stickerei verziertes Jagdhemde. Die Leggins waren aus demselben Stoffe gefertigt und an den Nähten mit dicken Fransen von Skalphaaren besetzt. Kein Fleck, keine noch so geringe Unsauberkeit war an Hemd und Hose zu bemerken. Seine kleinen Füße steckten in mit Perlen gestickten Mokassins, welche mit Stachelschweinsborsten geschmückt waren. Um den Hals trug er den Medizinbeutel, die kunstvoll geschnitzte Friedenspfeife und eine dreifache Kette von Krallen des grauen Bären, welche er dem gefürchtetsten Raubtiere der Felsengebirge abgewonnen hatte. Um seine Taille schlang sich ein breiter Gürtel, aus einer kostbaren Santillodecke bestehend. Aus demselben schauten die Griffe eines Messers und zweier Revolver hervor. In der Rechten hielt er ein doppelläufiges Gewehr, dessen Holzteile dicht mit silbernen Nägeln beschlagen waren. Den Kopf trug der Indianer unbedeckt. Sein langes, dichtes, blauschwarzes Haar war in einen hohen, helmartigen Schopf geordnet und mit einer Klapperschlangenhaut durchflochten. Keine Adlerfeder, kein Unterscheidungszeichen schmückte diese Frisur, und dennoch sagte man sich gleich beim ersten Blicke, daß dieser noch junge Mann ein Häuptling, ein berühmter Krieger sein müsse. Der Schnitt seines ernsten, männlichschönen Gesichtes konnte römisch genannt werden; die Backenknochen standen kaum merklich vor; die Lippen des vollständig bartlosen Gesichtes waren voll und doch fein geschwungen, und die Hautfarbe zeigte ein mattes Hellbraun mit einem leisen Bronzehauch. Mit einem Worte, es war Winnetou, der Häuptling der Apachen, mein Blutsbruder.

    Lieske: Nach ersten Verfilmungen in den 20er Jahren ging es richtig los ab 1962 mit den Filmen von Arthur Brauner und Horst Wendlands Film: Der Schatz im Silbersee (1962) mit Pierre Brice, Lex Barker, Ralf Wolter, Karin Dor in den Hauptrollen. Seither war Deutschland im Indianerfieber, übrigens auch die Defa ab Mitte der sechziger Jahre, dort liefen "Indianderfilme". Wie begründet sich der Erfolg dieser Filme in Ost und West?

    Seul: Die Karl-May Filme sind in einer zeit gedreht worden, in der Deutschlands Filmindustrie am Ende war, und auch das Publikum suchte nach neuen Helden. Und da bot sich Karl May an. Der Glücksgriff von Horst Wendland war es natürlich, Pierre Brice als Winnetou verpflichten zu können. Mit falschen Schauspielern wäre das kein Erfolg geworden.

    Lieske: Was halten Sie von der Überlegung, dass auch urdeutsche Sehnsüchte berührt. Wurden. Man fand unberührte Naturlandschaften, eine klare Einteilung von Gut und Böse, der Deutsche hat seinen guten Namen noch nicht verwirkt. Waren die Winnetou-Filme der bessere Heimatfilm?

    Seul: Ja, vielleicht. Die Sissi-Filme waren auch vorbei, und es war an der zeit, dass der deutsche Held mal wieder in den Westen ging, was Abenteuerliches machte, auf Eroberung ging, es war einfach an der Zeit.

    Lieske: Bei der Constantin soll eine Neuverfilmung geplant sein, das ist das Vermächtnis von Bernd Eichinger. Lässt sich diesen alten Winnetou-Bildern eigentlich noch was hinzufügen?

    Seul: Also, ich würde es mir wünschen. Aber ich habe meine Zweifel, weil Filmprojekte dieser Art gab es in den letzten Jahren zuhauf, und sie scheitern eigentlich immer wieder am Geld oder weil die richtigen Schauspieler fehlen. Man sollte es abwarten.

    Lieske: Alle, die in den 60er/70er Jahren Karl May gelesen haben, werden langsam grau. Die jungen Leser von heute ziehen Fantasy vor – ist das ein Epochenwechsel? Sind die Tage Karl Mays gezählt?

    Seul: Ich denke, Karl May wird es immer geben, aber die Schar der Karl May Leser wird eine überschaubare Größe bleiben. Der Karl May Verlag hat eine schöne Aktion gestartet, "Eine Feder für Winnetou" um Schulkinder wieder an Karl May heranzuführen, und das war auch erfolgreich.

    Lieske: Karl May hat seine Wurzeln in der Kolportage, also in der einfachen, sentimentalen Erzählung. Es gab eine Hochzeit mit den großen Abenteuerzyklen und ein symbolisch überhöhtes Spätwerk ab 1910 – was schrieb er da, wie muss man sich das vorstellen?

    Seul: Das Spätwerk setzt an sich schon vor der Orientreise an, eigentlich 1897 mit dem Band "Weihnacht!". Grundsätzlich hat sich May in seinem Spätwerk von der Abenteuerromantik gelöst, es kommen zwar immer noch Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi vor, aber May wendet sich da grundlegenden Menschheitsfragen zu. Vor allem Religion ist ein ganz wesentliches Thema. Völkerverständigung, Völkerfrieden, das sind die beherrschenden Themen im Alterswerk.

    Lieske: Karl May schrieb zu beginn anonym und unter Pseudonym, es gab gut ein Dutzend noms de plume – (Capitain Ramon Diaz de la Escosura). Es gibt auch Fortsetzungen seines Werks für die Unersättlichen. Zu den Nachahmern gehörte Edmund Theil, 1913, der allein sechs Bände geschrieben hat. Es gibt auch ein neues Beispiel: Unter dem Pseudonym "Karl Hohenthal" ist im Heyne Verlag erschienen: Hadschi Half Omar im Wilden Westen. Dort gibt es ein fröhliches Wiedersehen aller Karl May-Figuren, eine Art Familientreffen. Hat der Autor Karl Hohenthal den Ton getroffen?

    Seul: Ehrlich gesagt nein. Handwerklich ist das Buch gut gemacht, es ist auch lesenswert, aber wenn ich jetzt als May-Purist sprechen soll, fehlt mir doch die Atmosphäre, die in den May-Romanen vorhanden ist.

    Lieske: Was ist generell von Fortsetzungen zu halten?

    Seul: Das ist fast schon eine literaturpolitische Frage, akzeptiert man Nachahmer oder nicht. Ich persönlich bin da kein großer Freund von. Es gibt gute Nachahmer, Franz Kandolf, der Band 50 geschrieben hat, der hat das sehr gut getroffen, es gibt andere, die schaffen es eben nicht so gut.

    Lieske: Es gibt auch zwei neuere Biografien über Karl May von Rüdiger Schaper und Helmut Schmiedt – welche würden Sie empfehlen?

    Seul: Als wissenschaftlich interessierter Mensch neige ich natürlich mehr zu Helmut Schmied, er ist Wissenschaftler, seit vielen Jahren in der Karl May Forschung tätig, das merkt man dem Buch auch an. Rüdiger Schaper macht das auf andere Art und Weise, ein sehr flott geschriebenes Buch, er macht auch viele Seitenblicke in andere Richtungen. Kann man auch empfehlen, man muss kein Fachmann sein, um Schaper zu lesen.

    Lieske: Warum sollte man Karl May heute wieder lesen?

    Seul: Weil er tolle Traumwelten schafft. Gerade das Wiederlesen kann ja ein tolles Erlebnis sein. Das hat unlängst Martin Walser getan, und er schreibt im Jahrbuch der Karl May Gesellschaft 2011: "Und jetzt erst, nach zehn und 73 Jahren spüre ich, dass dieser Erzähler etwas kann, was zur Vollkommenheit tendiert: In jedem Satz ist das Ganze enthalten. Und diesen Reichtum gibt es, auch wenn der Leser nur einen Teil, seinen Teil davon wahrnimmt. Das ist der unzerstörbare Reichtum der Literatur".

    Lieske: Mit diesem Satz bedanke ich mich bei Jürgen Seul für seine sachkundigen Ausführungen. Am Mikrofon des Büchermarkt verabschiedet sich Tanya Lieske.


    Literatur:

    Karl Hohenthal: Hadschi Halef Omar im Wilden Westen
    Heyne Verlag, 512 Seiten geb., 19,99 Euro

    Karl May: Gesammelte Werke
    Karl-May Verlag, Bamberg. Pro Band 17,90 Euro

    Rüdiger Schaper: Karl May. Untertan, Hochstapler, Übermensch
    Siedler Verlag, München, 240 S., 19,99 Euro

    Helmut Schmiedt: Karl May oder die Macht der Phantasie
    CH Beck, 361 S., 29 Abbildungen, 24,95 Euro

    Jürgen Seul: Old Shatterhand vor Gericht.
    Die 100 Prozesse des Schriftstellers Karl May
    Karl-May Verlag, Bamber, 17,90 Euro.