Donnerstag, 28. März 2024

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Kiran Klaus Patel
"Projekt Europa. Eine kritische Geschichte"

Die EU hat den Frieden nach Europa gebracht. Dieses Narrativ und weitere Leitsätze über die Staatengemeinschaft stellt der Historiker Kiran Klaus Patel auf die Probe - mit überraschenden Ergebnissen.

Von Peter Kapern | 24.09.2018
    Buchcover: "Projekt Europa". Im Hintergrund die Fassade des Europäischen Parlamentsgebäudes in Brüssel mit dem Logo
    Patels Buch ist ein Augenöffner. Es legt den Blick frei auf eine Europäische Union, die plötzlich, wenn Mythen und Narrative erst einmal beiseite geräumt sind, ganz anders wirkt. (Cover: C.H.Beck Verlag / Hintergrund: dpa/Daniel Kalker)
    "Myth Busters" - das war eine extrem erfolgreiche US-Fernsehserie, die überall auf der Welt ausgestrahlt wurde. Eine Gruppe von Stuntmen geht darin dem Wahrheitsgehalt gängiger Mythen nach: Hat die Bibel in der Jackentasche tatsächlich so vielen Soldaten im amerikanischen Bürgerkrieg das Leben gerettet, wie immer wieder erzählt wird? Weil der Degen des Feindes das Buch nicht durchbohren konnte? Kann man mit einem Maschinengewehr wirklich einen Baum fällen, wie Soldaten nach dem Ersten Weltkrieg immer wieder berichteten? Und würden Kakerlaken echt einen Atomkrieg überleben? Keine der Folgen kam ohne spektakuläre Stunts und Explosionen aus - bis der Mythos widerlegt oder bestätigt war.
    Mythen auf dem Prüfstand
    Bei Kiran Klaus Patel knallt es natürlich bei Weitem nicht so laut wie bei den Myth Busters, seine Methode aber ähnelt der der Fernsehserie. Er nimmt sich die gängigen Narrative, die Mythen über die EU vor, um sie auf den Prüfstand des Historikers zu stellen: Die EU hat dem Kontinent den Frieden gebracht. Sie sichert unseren Wohlstand. Oder auch: Die EU ist ein bürokratisches Monster. All jene nie hinterfragten Behauptungen, mit denen die Europäische Union entweder jeder Kritik enthoben oder im Gegenteil final diskreditiert werden soll:
    "Dieser Ansatz war mir wichtig, weil wir bisher zu oft schon den Mythen aufgesessen sind. Das ist das, was man einerseits häufig in Pro-EU-Sonntagsreden hört, andererseits natürlich mit großer Polemik verworfen wird durch EU-Kritiker."
    Sagt der in Maastricht lehrende Historiker Kiran Klaus Patel. Bislang hat die Geschichtswissenschaft über die Europäische Union, über ihre Entstehung und Entwicklung im Wesentlichen politisch-diplomatische Historiographien hervorgebracht: Erzählungen, die von Konferenz zu Konferenz eilen, von Gipfel zu Gipfel, von Politiker zu Politiker und eigentlich nur die Aneinanderreihung ihrer Thesen und Behauptungen liefern.
    Über den Frieden in Europa
    Patel geht anders vor: Er misst Behauptungen an der Realität, er führt die Empirie in die EU-Geschichtsschreibung ein. Wie also ist das nun zum Beispiel mit der Friedensmacht EU? Hat sie dem Kontinent tatsächlich Frieden und Sicherheit gebracht, wie in Brüssel nahezu im Stundentakt behauptet wird? Patel kommt zu einem ernüchternden Resultat: Als die Vorläuferorganisationen der EU gegründet wurden, die Montanunion, Euratom und etwas später die EG, da hatten längst andere Organisation Frieden geschaffen und stabilisiert. Organisationen, die heute kaum noch jemand kennt oder die ein Schattendasein neben der EU fristen: Die United Nations Economic Commission for Europe etwa, der Europarat und die OECD. Von deren friedensstiftender Vorarbeit haben die EU-Vorläufer profitiert, als sie mit dem Ziel ins Leben gerufen wurden, die wirtschaftliche Entwicklung der Gründerstaaten voranzubringen.
    Erst später, so Patel, habe die EU tatsächlich friedensstiftend gewirkt, wenn auch in eher überschaubarem Maße: Durch die Integration ehemaliger Diktaturen wie Griechenland, Spanien und Portugal. Oder durch den sozialen Frieden, der von der vielgeschmähten EU-Agrarpolitik ausging. Harte Friedenssicherung aber, das blieb in erster Linie Sache der Nato. Wie nicht zuletzt das Scheitern aller EU-Vermittlungsbemühungen im Balkankrieg gezeigt hat. Die Bilanz dieser Mythenprüfung:
    "Wenngleich die EG keine große Rolle bei der Erstellung der europäischen Friedensordnung spielt und auch nur ein nachrangiger Faktor bei deren Stabilisierung war, wurde sie dennoch zum symbolischen Herz europäischer Verständigung- und Friedensbemühungen."
    Die Römischen Verträge wurden am 25. März 1957 von Belgien, der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und den Niederlanden in Rom unterzeichnet.
    Unterzeichnung der Römischen Verträge am 25. März 1957 in Rom. (dpa / picture alliance / epa ansa)
    Die Krisen der Vergangenheit
    Ein weiteres Narrativ, das von Festveranstaltung zu Festveranstaltung weitergereicht wird: Wir haben der EU unseren Wohlstand zu verdanken. Mit Patel kann der Leser erstaunt feststellen, dass dieses Narrativ noch nie einer ernsthaften, empirischen Untersuchung unterzogen worden ist: Nur wenige ökonomische Studien sind jemals der Frage nachgegangen, ob diese Behauptung richtig ist. Patel trägt das vorhandene Material zusammen und kommt zu überraschenden Ergebnissen:
    Gerade in den ersten Jahrzehnten nach der Gründung war der Beitrag der Union zum Wohlstand der Europäer sehr überschaubar. Erst seit die "trente glorieuse", die wirtschaftlich glorreichen dreißig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg mit der ersten Ölkrise zu Ende gingen, so Patel, hat die EU einen substantiellen Beitrag zum Wohlstand ihrer Bürger und Mitgliedstaaten geliefert:
    "Es ist interessant, dass in den deutlich schwierigeren Phasen europäischer Nachkriegsgeschichte, in den 70er, 80er-Jahren, die Europäische Union eigentlich sich als erstaunlich wirkungsmächtig und auch als resilient, das heißt als widerstandsfähig gegen die Krisen der damaligen Zeit, die wir nicht unterschätzen sollten, erwiesen hat."
    Ähnlich überraschend fällt Patels Ergebnis aus, wenn er die immer wieder angeführte Behauptung einer Überprüfung unterzieht, dass die EU nur existiere, weil sie eine Wertegemeinschaft sei. In den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens war die EU alles andere als das: Als Spanien noch unter Franco der EG Avancen machte, wurde nicht mit dem Verweis auf die demokratische Verfasstheit ihrer Mitgliedstaaten argumentiert.
    Ganz im Gegenteil: Frankreich und Deutschland zeigten offene Sympathien für Spaniens Annäherung an die Union, Franco-Diktatur hin oder her. Nicht einmal die Richter des Europäischen Gerichtshofs sahen sich in der Anfangsphase dazu berufen, die von der EU heute so massiv behaupteten gemeinsamen Werte zu schützen.
    Brüssel ist kein Bollwerk gegen Populismus
    Kein Wunder also, so Patel, dass Brüssel heute weitgehend hilflos agiert, wenn die Regierungen in Warschau und Budapest den Rechtsstaat demontieren:
    "Ich glaube, dass die europäische Union eine sehr kraftvolle Antwort dafür finden muss. Dass das aber teilweise nicht gelingt, liegt auch daran - neben den institutionellen Fragen - dass die Werte und Normen gar nicht so tief verankert sind, wie wir häufig glauben."
    So geht es weiter in Patels Untersuchung: Nein, die EU agiert nicht gegen den Willen der Mehrheit ihrer Einwohner, wie so häufig von Gegnern der Union angeführt wird. Aber sie scheut traditionell Formen direkter Partizipation. Nein, Brüssel ist nicht die Brutstätte der Technokratie, aber die Mitgliedstaaten haben der EU einen technokratischen Wesenszug verpasst, um eine Distanz zwischen ihr und den Bürgern zu schaffen. Nein, die EU ist nicht dem Spiel zunehmender Zentrifugalkräfte ausgesetzt, die hat es immer schon gegeben, seit ein gewisses Maß an Integration erreicht worden ist. Ein lehrreiches Kapitel, das ein ganz neues Licht auf den Brexit wirft.
    Patels Buch strotzt nicht gerade vor Anekdoten und Histörchen, die eine traditionelle politische Geschichte der EU sicher leichter lesbar machen. Aber das liegt an der Methode. Patel entführt die Leser eben immer wieder in statistische Auswertungen und Vergleiche wissenschaftlicher Studien. Aber so erreicht er sein Ziel: Patels Buch ist ein Augenöffner. Es legt den Blick frei auf eine Europäische Union, die plötzlich, wenn Mythen und Narrative erst einmal beiseite geräumt sind, ganz anders wirkt. Nicht mehr wie Omas dunkler Eichenschrank, der als unantastbares Erbstück auf der Atmosphäre im Wohnzimmer lastet. Sondern wie ein Projekt, dessen Nutzen jetzt endlich abgewogen und dessen Gestalt dann pragmatisch geformt werden kann:
    "Was übrig bleibt, ist hoffentlich ein realistisches Bild, das auch für unsere Debatten heute, in denen die EU teilweise so grundkritisch gesehen wird und teilweise eben auch so einseitig überhöht, Wissen bereit stellt, wo die Europäische Union herkommt, was ihre Geschichte ist, und was auch ihre Entwicklungspotentiale sind. Um darauf wieder politische und andere Überlegungen konstruktiv aufbauen zu können."
    Kiran Klaus Patel: "Projekt Europa. Eine kritische Geschichte"
    C.H. Beck Verlag, 463 Seiten, 29,95 Euro