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Kirche contra Mafia
Die Kinder der Mafiabosse befreien

Die italienische Justiz beschreitet neue Wege im Kampf gegen die organisierte Kriminalität: Jugendrichter nehmen Minderjährige immer öfter aus Mafia-Familien und bringen sie in Pflegefamilien unter - meist in anderen Regionen des Landes. So soll der Mafia-Teufelskreislauf durchbrochen werden. Unterstützt wird der Staat von der katholischen Kirche.

Von Thomas Migge | 14.03.2017
    Priester bei einem Begräbniszug 1994 anlässlich des Todes eines von der Camorra erschossenen Priesters in Italien. Auf einem Transparent steht: "Sterben für Veränderung? Veränderung, um nicht zu sterben!!"
    Beim Begräbnis eines von der Camorra erschossenen Priesters in Italien (AFP PHOTO/MARIO LAPORTA/AFP FILES)
    "Hier ändert sich etwas. Diese Kinder werden gerettet. Sie bekommen eine ganz neue Zukunftsvision."
    Oreste Valentini ist katholischer Geistlicher. In Boscoreale bei Neapel. Hier hat er ein Freizeitcamp auf die Beine gestellt, in dem Kinder aus Stadtteilen, die von der Mafia kontrolliert werden, Hausaufgaben erledigen und spielen können und offene Ohren finden. Es sind Kinder von Eltern, die sich überwiegend mit Kleinkriminalität über Wasser halten, sagt Don Oreste. Er arbeitet in Süditalien, das von der organisierten Kriminalität immer stärker beeinflusst wird. Der Kampf gegen die Mafia scheint ausweglos. Gerade deshalb versuchen Jugendrichter immer öfter, Kinder aus Mafia-Familien zu befreien - mit und ohne die Zustimmung ihrer Eltern, wie die Sozialarbeiterin Lucia Saetta aus Neapel berichtet:
    "Viele dieser Kinder werden als Drogenkuriere benutzt. Hier mitten in der Stadt. Das sind alles Minderjährige, die als 'Soldaten' der Camorra arbeiten. Nach der letzten Verhaftungswelle gegen den Clan 'Melia' hat sich das Jugendgericht eingeschaltet: Sechs Minderjährige, die für den Clan arbeiteten, wurden der Aufsicht ihrer Eltern entzogen."
    Kein Kontakt zu Eltern
    Die Kinder sind zwischen neun und 15 Jahre alt und kommen aus Neapel und anderen Städten Süditaliens. Sie werden fast immer in Mittel- und Norditalien untergebracht - in Pflegefamilien oder staatlichen und kirchlichen Wohngemeinschaften. Eines ist dann besonders wichtig, sagt Lucia Saetta:
    "Die Eltern dürfen dann keinen Kontakt mehr zu ihren Kindern aufnehmen. Ziel ist es, die Minderjährigen von den negativen Einflüssen ihres mafiösen Umfelds zu befreien. Die Jugendrichter begründen das immer wieder damit, dass diesen Minderjährigen in ihren Familien nichts geboten wird, was man ernsthaft als Erziehung bezeichnen kann."
    Jugendrichter in Süditalien arbeiten bei der Hilfe für Mafia-Kinder eng mit katholischen Priestern zusammen. Eine Zusammenarbeit, auf die die Justiz angewiesen ist. Denn die Kirchen haben in den vergangenen Jahren in ganz Italien ein Netz von Pflegefamilien aufgebaut, wo Kinder aus kriminellen Familien untergebracht werden können. Und es gelingt ihnen, Details über dieses Netz geheim zu halten. Denn weder Kirche noch Justiz wollen, dass die neuen Aufenthaltsorte der Minderjährigen bekannt werden. Giuseppe Fiorini Morosini ist Erzbischof in Reggio Calabria, einer Stadt an der Zehenspitze des italienischen Stiefels. Er arbeitet an vorderster Front im Kampf gegen die organisierte Kriminalität:
    "Wir müssen den Menschen hier in Kalabrien etwas anbieten: eine ganz konkrete Hoffnung. Darin besteht meine Aufgabe. Diese Region ist voller Probleme. Als Kirche müssen wir dieser Realität etwas entgegensetzen."
    Mütter wollen Teufelskreislauf durchbrechen
    Katholische Seelsorger gehen bei ihrer Arbeit mit Minderjährigen aus Mafiafamilien still und heimlich vor - um Bosse und ihren Helfern keine Anhaltspunkte zu geben, wo sich ihr Nachwuchs aufhält. Und sie versuchen auch die Mütter zu schützen. Denn oft sind es die Mütter, die sich, heimlich natürlich, an Jugendrichter, Sozialarbeiter und Geistliche wenden, damit sie sich ihrer Kinder annehmen. Das ist ein Novum. Bisher galt: Kinder von Mafiosi werden ebenfalls Mafiosi. Aber anscheinend wollen einige Mütter diesen kriminellen Teufelskreislauf durchbrechen. Frauen, die in Kalabrien leben, und sich in bereits 40 Fällen an den Jugendrichter Roberto Di Bella wandten. Di Bella, der rund um die Uhr von Leibwächtern beschützt wird, hat so viele Kinder wie keiner seiner Kollegen aus Familien mit Mafiahintergrund befreit. In vielen Fällen mit Hilfe der Mütter. Jugendrichter Di Bella wird unterstützt von Don Luigi Ciotti, einem der bekanntesten Anti-Mafia-Priester Italiens. Seine Organisation hat den Namen "Libera". Es geht ihm um die Befreiung:
    "Jeder Minderjährige kann gerettet, kann seinem Mafia-Umfeld entrissen werden. Solange diese Kinder aber in ihren kriminellen Familien leben, ist das nur selten möglich - denn das, was Mutter und Vater sagen, ist Gesetz."
    Don Luigi Ciotti, Gründer der Organisation "Libera"
    Don Luigi Ciotti, Gründer der Organisation "Libera" (AFP PHOTO / MARCELLO PATERNOSTRO)
    Je älter diese Minderjährigen sind, erklärt der Anti-Mafia-Geistliche, je länger sie der Kriminalität ausgesetzt waren, umso schwieriger sei es, sie "umzupolen", wie Don Ciotti es nennt:
    "Das ist alles nicht so einfach. Aber es ist möglich, auch wenn es immer wieder zu Rückfällen kommt. Aber ich weiß von zahlreichen Fällen, wo diese Umerziehung von Erfolg gekrönt war."
    Umstittenes Vorgehen
    Minderjährige ihren Eltern wegzunehmen - das ist umstritten. Vor allem in Süditalien widersetzen sich Jugendrichter dieser Vorgehensweise. Anders als die Regierung in Rom. Sie unterstützt Jugendrichter wie Roberto Di Bella. Und die katholische Kirche sowieso.