Dienstag, 19. März 2024

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Kirchenhistoriker Hubert Wolf
"Reform funktioniert nur im Rahmen der Tradition"

Der Kirchenhistoriker Hubert Wolf hat die Bedeutung des Austauschs zwischen Religionswissenschaftlern aus unterschiedlichen Glaubensrichtungen betont. Im Deutschlandfunk sagte Wolf: "Ohne den Islam gäbe es das, was wir uns heute als abendländische Kultur vorstellen, nicht." Er selbst habe auch viel gelernt von jüdischen Theologen und deren Wertschätzung für Minderheitsmeinungen.

Hubert Wolf im Gespräch mit Andreas Main (Teil 2) | 29.01.2015
    Die berühmte maurische Säulenhalle in der Mezquita-Kathedrale von Cordoba
    Maurische Architektur in Spanien: Säulenhalle in der Mezquita-Kathedrale von Cordoba ( imago / blickwinkel)
    Andreas Main: Kirchengeschichte an der katholisch-theologischen Fakultät in Münster hat eine gewisse Tradition. Arnold Angenendt zum Beispiel hat durch die Rezeption der Sozialgeschichte, der französischen Annales-Schule, die Kirchengeschichte an vielen Punkten geradezu auf den Kopf gestellt. Sein Nachfolger ist Hubert Wolf. Ihm gelingt es immer wieder, das Fach aus dem engeren disziplinären Getto herauszuführen. Das dürfte ihm auch mit seinem neuesten Buch gelingen, das gestern erschienen ist: "Krypta. Unterdrückte Traditionen der Kirchengeschichte", so heißt es. Wie diese Traditionen verschollen gegangen sind, darum ging es gestern im ersten Teil des Gesprächs. Jetzt wollen wir einen Schritt weiter gehen, Herr Professor Wolf. Sie suchen nach unterdrückten Traditionen der Geschichte. Die zeigen bestimmte Strukturen in der katholischen Kirche, wie sie heute zementiert zu sein scheinen, dass sie auf keinen Fall immer so waren. Welches Beispiel ist aus Ihrer Perspektive besonders brisant?
    Hubert Wolf: Im Grunde ist jedes von den zehn Beispielen brisant. Aber wenn wir mal die aktuelle Diskussion nehmen um die Reform der Kurie. Papst Franziskus hat ja in seiner Philippika am 22. Dezember, als er unter anderem vom geistlichen Alzheimer sprach, sehr deutlich gemacht, dass die Reform an Haupt und Gliedern tatsächlich am Kopf anfangen muss, ganz oben.
    Wir haben ja auch im Pontifikat von Benedikt XVI. gesehen, dass die Zusammenarbeit in der Kurie nicht funktioniert hat, weil es Grüppchen gab, Parteiungen und weil - von der Struktur her - im Grunde der Papst nicht ausreichend eingebunden war in die kollegialen Strukturen, die es in der Kurie gibt. Das hat man sehr schön gesehen an dem Beispiel der Aufhebung der Exkommunikation des Holocaust-Leugners Williamson von der Piusbruderschaft. Der Papst hat das getan, und er wusste nicht, dass er ein Holocaust-Leugner ist, obwohl es im Einheitsrat, dem damals Kardinal Kasper bevorstand, eine dicke Akte zu Williamson gab, wo genau dies drin stand. Nun muss man nur mal in die Geschichte reinschauen, um zu sehen: Genau dieses Grundproblem, dass der Papst nicht ausreichend informiert ist, dass die Informationen, die es in der Kurie gibt, nicht ausreichend an der Spitze ankommen, gibt es in der Geschichte der Kirche auch. Und man hat im Grunde zwei Heilmittel dafür. Das eine - eher mittelalterliche - war das Konsistorium. Konsistorium hieß: Die damals 12 bis 20 Kardinäle - mehr waren es nicht - treffen sich täglich mit dem Papst und besprechen die Dinge, die in der Regierung anstehen. Der Papst muss die fragen: Quid vobis videtur? - Wie scheint es euch zu sein? Danach haben alle Kardinäle ihre Meinung zu sagen, auf dieser Basis entscheidet der Papst.
    Das Problem mangelnder Transparenz
    Eine neuere Geschichte ist die Kongregation für die außerordentlichen Angelegenheiten, die 1815 gegründet wird - nach der Katastrophe Napoleons. Der Papst war in französischer Gefangenschaft, er kommt zurück und er fragt sich, wie hat es dazu kommen können. Er gründet diese Kongregation, der die wichtigsten Minister - sagen wir mal, die wichtigsten Chefs aller anderen Kongregationen der Kurie angehören. Sie können sagen: ein vatikanischer Sicherheitsrat, sie können auch sagen: ein Kabinett. Das heißt, ich brauche nicht irgendwo bei einem politischen Kabinett Anleihen machen, sondern: Wir haben das Problem der mangelnden Transparenz, der Entscheidungsfindung in der Kurie, also, die Rechte weiß nicht, was die Linke tut, in der Geschichte der Kirche an zwei Beispielen längst erkannt. Und es gibt zwei Heilmittel, die lange Zeit erfolgreich praktiziert worden sind. Die muss man einfach mal auf den Tisch legen und fragen, ob das eine oder andere Modell nicht dem Papst Franziskus hilft bei dem Abstellen dieser 15 Kurienkrankheiten, die er diagnostiziert hat.
    Main: Sie sagen letztlich als katholischer Theologe: Wir können auch anders. Wir haben andere Traditionen. Lasst uns drüber reden. Aber Sie sagen nicht, wir müssen in die und die Richtung reformieren. Damit machen Sie sich natürlich auch ein Stück unangreifbar.
    Wolf: Ja, ich bin Historiker. Ich bin kein Religionssoziologe, auch kein Dogmatiker. Ich muss keine ewigen Wahrheiten produzieren, sondern ich muss einfach bei meinen Leisten bleiben. Ich muss das machen, was ich kann. Ich muss sagen: Der Papst sagt, eine Reform der Kirche ist dringend notwendig. Für mich gibt es zwei Blickrichtungen von Reformen. Die eine ist eine "reformatio in melius" - in die Zukunft, da brauche ich neue Ideen. Die andere, ursprüngliche Form von Reform heißt zurückformen auf etwas Früheres, also im Rahmen der Tradition bleiben. Ich lege auf den Tisch der Traditionen die Möglichkeiten - und dann muss in der Theologie, aber auch in der ganzen Kirche darüber diskutiert werden.
    Ich glaube, das ist im Grunde das Wesentliche, was lange nicht ausreichend passiert ist: dass historische Erkenntnisse eine Rolle gespielt haben in Diskussionen, die heute stattfinden. Viele Studierende haben immer gesagt, na ja, Kirchengeschichte, das hat irgendetwas mit Vergangenheit zu tun, das ist irgendwie langweilig, irgendwelche Herrscherdaten auswendig zu lernen. Aber wenn man dann halt, wie von meinem Vorgänger Arnold Angenendt angedeutet, plötzlich lernt, Martin von Tours - der war Laie, und so lange er Laie war, konnte er Tote auferwecken. Und dann schreibt Sulpicius Severus, wie Angenendt dann schon fast süffisant herausarbeitet, den Moment, wo er dann die Bischofsweihe erhält, ist es mit seiner Wunderkraft vorbei.
    Das zeigt doch: Es gibt neben dem Amt und neben der Weihe die Möglichkeit, Kompetenzen zu erwerben, Kompetenzen der Sündenvergebung, sogar der Totenauferweckung, die was mit Radikalität und Qualität von Nachfolge zu tun haben. Das habe ich sehr dankbar von Angenendt gelernt und jetzt einfach in meinem Buch auch auf den Tisch der Traditionen gelegt.
    Main: Wir haben bis hierhin über Reformen in der katholischen Kirche geredet. Es gibt parallel dazu eine Reformdebatte mit Blick auf den Islam. Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" hat jüngst geschrieben - bevor Ihr Buch überhaupt erschienen ist: "Wolfs Buch kann auch für die Islamwissenschaft stilbildend sein." An welchem Punkt?
    Wolf: Also, das ist natürlich ein sehr hohes Lob. Ob ich das als Kirchenhistoriker verdiene, müssen andere entscheiden. Ich habe das so verstanden: Auch der Islam, wie jede große Buchreligion auch, hat natürlich eine Tradition - genauer gesagt, eine immense Auslegungsgeschichte des Korans. Wenn man jetzt beispielsweise in die Formierungsphase des Islams, in die ersten drei, vier Jahrhunderte reinschaut, tritt einem ein ganz anderer, wesentlich weiterer Islam entgegen, als wir den heute so im allgemein im Kopf haben.
    Es ist klar, dass auch in der islamischen Tradition über Reform nur im Rahmen der Tradition und nicht über einen Bruch mit der Tradition gesprochen werden kann. Und das passiert ja auch schon sehr gut in der Forschung, dass diese Pluriformität des Islams auf den Tisch muss. Ich würde es allerdings nicht nur in der Islamwissenschaft sehen, sondern ich halte das vor allem für eine Aufgabe der islamischen Theologie. Denn Theologie hat ja hier auch einen noch mal anderen Charakter als Islamwissenschaft. Theologie muss ja innerhalb des islamischen Religionssystems mit den Verantwortlichen diskutieren und nicht nur beschreibend, wie es eine Islamwissenschaft machen würde, die Dinge auf den Tisch legen.
    Ehrlich gesagt, ohne den Islam und ohne den Islam in Spanien, gäbe es das, was wir uns heute als abendländische Kultur vorstellen, nicht. Wir haben dem Islam eine ganz entscheidende Funktion der Vermittlung von Wissensbeständen, die sonst weg gewesen wären, zu verdanken.
    Der Islam der Barmherzigkeit
    Main: Sehen Sie denn in der islamischen Theologie Ansätze, dass im Islam brachliegende Traditionen wieder offengelegt werden?
    Wolf: Wir haben ja in Münster auch islamische Theologie. Ich sehe da durchaus Schritte, die eben versuchen, bestimmte fundamentalistische Verengungen zu überwinden. Das ist im Grunde der Witz historischen Zugriffs, dass nichts fundamentalistisch verengt bleiben darf, sondern dass man die Weite anschauen muss. Ich sehe, wenn man neuere Forschungen aus der islamischen Theologie anschaut, bezeichnenderweise auch einen Islam der Barmherzigkeit, also das, was ja nun im Moment bei uns auch eine ganz große Rolle spielt im Kontext der Bischofssynode, die Ende des Jahres wieder tagen wird, wo auch das Thema Barmherzigkeit eine entscheidende Rolle spielt. Also, es gibt in der Tat erste Ansätze. Die halte ich für ganz wichtig. Und vor allem - sie müssen in einer Weise dargestellt werden, dass die einfachen, normalen Muslime und Musliminnen das zur Kenntnis nehmen können und darüber diskutieren.
    Also nicht - was wir immer gern machen als Wissenschaftler in einem wissenschaftlichen Diskurs, sondern man muss den Schritt tun zur Popularisierung - im guten Sinne. Das ist immer natürlich Verkürzung. Aber wenn man etwas erreichen will, dann ich es auch die Aufgabe der Wissenschaft, die Ergebnisse so darzustellen, dass sie normale Menschen verstehen.
    Wo waren Alternativen, warum sind sie untergegangen?
    Main: Und diese normalen Menschen, diese normalen Muslime, die Sie zitieren, die dürfen auch nicht vor den Kopf gestoßen werden, wenn eben die historische und kulturelle Bedingung von Religion durchdacht wird. Da muss man natürlich auch aufpassen.
    Wolf: Ganz richtig. Es geht gar nicht um eine Schocktherapie, sondern es geht eigentlich erst einmal drum, dass man mit offenen Fragen an bestimmte Dinge hingeht und sich fragt: War das eigentlich immer so, wie es mir im Moment entgegenkommt? Und was sind die Gründe, warum es so ist, wie es ist? Wann ist es so geworden? Wann gab es in der Geschichte alternative Modelle? Warum sind diese alternativen Modelle untergegangen? Sind sie unterdrückt worden? Damit kriegt man sozusagen die Geschichte der eigenen großartigen Tradition hin. Es geht nicht um eine Überfremdung. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Es wird nicht von außen etwas hineingetragen in die Kirche oder von außen etwas in den Islam, sondern es funktioniert, glaube ich, nur von innen heraus, aus der Tradition des Islams. Es muss klar werden, so wie in der Kirchengeschichte klar werden muss, wir haben doch diese wunderbare Breite in der Tradition. Wir sind doch gar nicht fundamentalistisch eng gewesen. Das ist, glaube ich, der entscheidende Punkt. Reform funktioniert nur im Rahmen der Tradition. Und darum, glaube ich, geht es. Und wenn das Buch in der Hinsicht stilbildend sein könnte, finde ich das natürlich ein ganz großartiges Lob.
    Main: Vielleicht sollten Sie einmal evangelische, katholische, muslimische und womöglich auch jüdische Historiker zusammenrufen und diesen religionshistorischen Ansatz zusammentragen, wenn es denn diese strukturelle Vergleichbarkeit zwischen den Buchreligionen gibt.
    Wolf: Wir machen das hier ja in Münster. Ich meine, ich bin Mitglied im Exzellenzcluster Religion und Politik. Wir machen das eigentlich seit Jahren. Wir sprechen mit evangelischen, katholischen, muslimischen, jüdischen Theologinnen und Theologen. Und ich denke, vielleicht ist auch ein Teil dessen, was mich zu diesem Buch gebracht hat, eine Folge dieser interdisziplinären Gespräche. Ich habe viel gelernt von jüdischen Theologen. Sie merken, das Buch endet auch mit einer jüdischen Tradition, wo es darum geht: Warum sind in der jüdischen Tradition die Minderheitsmeinungen extra mit aufgeschrieben worden? Anders als wir es kennen, wonach die Mehrheitsmeinung die richtige ist, die sich durchsetzt - und das andere fällt herunter. In der jüdischen Tradition ist es so: Man bewahrt alles auf, selbst wenn es nur ein Gelehrter gesagt hat, weil irgendwann einmal die Zeit kommen wird, wo man sich auf diese Minderheitsmeinung wird stützen können. Genau das ist ein ganz großer Lernprozess, den ich zum Beispiel aus der jüdischen Theologie gewonnen habe.