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Kirgistan
Eurasische Wirtschaftsunion das kleinere Übel

Als eine Art Antwort auf die EU hat Russland die Zollunion mit Kasachstan und Weißrussland ins Leben gerufen. Ab 1. Januar wird sie Eurasische Wirtschaftsunion heißen. Armenien erklärte sich dieses Jahr zur Mitgliedschaft bereit und Kirgistan in Zentralasien wird noch im Dezember beitreten. Die Menschen dort sehen dem mit gemischten Gefühlen entgegen.

Von Gesine Dornblüth | 21.11.2014
    Der Dordoi-Markt in der Nähe von Bischkek, der Hauptstadt Kirgistans.
    Der Dordoi-Markt in der Nähe von Bischkek, der Hauptstadt Kirgistans. (Deutschlandradio / Gesine Dornblüth)
    Männer schieben Karren mit großen Tüten herbei. Darin Hemden, Jogginghosen, Socken. Hunderte Hände stapeln die Kleidung in große Pressen. Die stehen dicht an dicht, zwei Meter hoch mit riesigen Schraubstöcken. Ein Arbeiter klettert auf eine der Pressen, stemmt sich mit seiner ganzen Kraft gegen den Griff. Langsam schrumpft das Paket. Es wird in Plastik verpackt, zugeklebt, bekommt einen Adressaufkleber - fertig. Die meisten Waren gehen nach Kasachstan und Russland. Vom Wellblechdach tropft es.
    Die Pressen stehen auf dem Markt Dordoi, nicht weit entfernt von Bischkek, der Hauptstadt Kirgistans. Dordoi ist der größte Markt in Zentralasien. Etwa 50.000 Menschen arbeiten hier. Es gibt nur Kleidung. Seit Wochen reden sie hier vor allem über ein Thema: den bevorstehenden Beitritt Kirgistans zur Zollunion mit Russland, Kasachstan und Weißrussland.
    "Beitreten oder nicht – das ist ein einziger Kopfschmerz."
    "Wir brauchen die Zollunion nicht. Alles wird teurer werden. Wir werden unsere Jobs verlieren. Wovon sollen wir dann leben? Wenn die Zollunion kommt, fahren unsere Leute nach Russland und arbeiten dort. Dort zahlen sie wenigstens anständig. Meine Verwandten sind schon in Russland. Die finden auch für mich eine Arbeit."
    Kirgistan ist arm. Anders als die meisten anderen zentralasiatischen Staaten hat es weder Öl- noch Gasvorkommen. Das Land hat sich nach seiner Unabhängigkeit auf Handel spezialisiert. Das funktionierte lange gut, weil Kirgistan Ende der 90er-Jahre als einziges zentralasiatisches Land in die WTO eintrat. Dort ist auch China Mitglied. Kirgistan grenzt an China, und dank niedriger Einfuhrzölle kann Kirgistan billig Ware aus China importieren und über den Markt Dordoi weiter verkaufen. Doch seit 2010 gibt es mit dem Weiterverkauf Probleme. Denn da gründeten Russland und Kasachstan mit Weißrussland die Zollunion. Um sie zu schützen, errichteten die Länder Handelsbarrieren. Auch gegenüber der Billigware aus Kirgistan. Seitdem laufen die Geschäfte auf dem Dordoi-Markt nicht mehr so gut.
    Einer der Gänge zwischen scheinbar endlosen Reihen von Containern. In diesem Gang gibt es Hosen, kilometerweit. Jelena Kadyrkulowa handelt mit Damenhosen aus China.
    Kirgistan soll Erzeugerland werden
    "Ich arbeite hier schon länger als zehn Jahre.
    Es gab eine Zeit, da habe ich 50.000 Hosen in drei Monaten verkauft. Jetzt sind es vielleicht 5.000.
    Die Lage ist wirklich kritisch. Weil die Grenzen nach Kasachstan und Russland zu sind. Wir hoffen, dass der Beitritt zur Zollunion uns hilft. Dann fallen die Zollbeschränkungen weg.
    Die Zeit ist reif. Wir müssen der Zollunion beitreten."
    Mit dem Beitritt zur Zollunion muss Kirgistan allerdings seinerseits seine Importzölle gegenüber Nichtmitgliedern anheben, auf russisches und kasachisches Niveau. Der Einkauf in China wird dann teurer. Kadyrkulowa lächelt.
    "Wir haben das alles analysiert. Unsere Wirtschaft schrumpft zurzeit wegen der geschlossenen Grenzen. Wenn wir der Zollunion nicht beitreten, wird es 30 Prozent schlechter. Wenn wir beitreten, nur 10 Prozent. Da nehmen wir doch das kleinere Übel."
    Für alle Fälle hat Kadyrkulowa begonnen, selbst Hosen nähen zu lassen, in Kirgistan. Arbeitskraft ist billig. Die Stoffe kauft sie auf einem Markt in Bischkek. Sie will weg vom reinen Handel. Durch die Wertschöpfung seien die Gewinnchancen größer.
    "Ich habe gerade erst damit angefangen. Erst mal 120 Stück. Daran verdiene ich fast gar nichts. Wir entwickeln das noch. Aber wenn ich gute Qualität produziere, werde ich sehr viele Kunden haben. Wir sind derzeit in einer Übergangsperiode. Die muss man nutzen und nachdenken."
    Das ist ganz nach dem Geschmack der Regierung. Sie will Kirgistan zu einem Erzeugerland machen. Valerij Dill ist der stellvertretende Premierminister Kirgistans, ein Mann mit deutschen Wurzeln. Er spricht von landwirtschaftlichen Betrieben, die entstehen sollen, von Molkereien und Schlachtereien, von Textilfabriken. Russland hat einen Entwicklungsfond mit Kirgistan aufgelegt, mit dem Geld sollen Produktionsstätten gebaut werden.
    Wir schätzen Putin sehr
    "Natürlich werden die ersten zwei, drei Jahre schwierig für uns. Aber schauen Sie sich unsere geographische Lage an. Mit unseren Nachbarn Usbekistan, Tadschikistan, China und Kasachstan haben wir keine Alternative zur Zollunion.
    Und wenn die Leute sagen, dass wir mit dem Beitritt zur Zollunion und zur Eurasischen Union unsere Unabhängigkeit verlieren, dann sagen wir: Die Zollunion ist ein rein wirtschaftliches Bündnis. Sie hat keinen Einfluss auf die Politik. Wir treten ohne Furcht bei."
    Kirgistan gilt in Zentralasien als eine Insel der Demokratie. Während in den Nachbarstaaten gerontokratische Despoten dauerregieren, hat die Regierung in Kirgistan mehrfach gewechselt. Es gab auch eine Art farbige Revolution, ähnlich wie in der Ukraine. Vizepremier Dill beteuert:
    "Wir werden nicht von den demokratischen Prinzipien abweichen. Das Volk Kirgistans hat ein hohes Gerechtigkeitsgefühl. Deshalb ist es mehrfach auf die Straße gegangen und hat gegen Korruption, Clanwirtschaft und Ungerechtigkeit protestiert."
    Die Händlerin Jelena Kadyrkulowa interessiert sich nicht für Politik. Sie sieht den Beitritt zur Zollunion durchweg positiv. Angst vor dem großen Nachbarn Russland hat sie nicht.
    "Ich bin in der UdSSR geboren. Wir lieben Russland sehr. Vielleicht haben Sie im Westen andere Informationen. Aber wir schätzen Putin sehr. Wir schätzen die russische Politik. Es gibt keinen Druck auf uns. Wir kommen gut mit den Russen aus."