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Klar, schnörkellos und frei von Kitsch

Hanna Jansen erzählt in ihrem Roman "Herzsteine" die Geschichte einer Familie, die mit den Folgen des Völkermords in Ruanda kämpft. Es ist auch eine persönliche Geschichte der Autorin: Gemeinsam mit ihrem Mann hat sie 1994 Kriegswaisen aus Ruanda adoptiert.

Von Simone Hamm | 30.03.2013
    Ganz plötzlich zieht Sam mit seinem Vater und seiner schönen, schweigsamen Mutter von Hamburg nach Sylt. Sein Vater möchte auf der Insel einen Orthopäden vertreten. Sam aber weiß, dass es eigentlich um etwas ganz anderes geht: um die Gesundheit seiner Mutter. Nachts hat sie Albträume und wacht schreiend auf. Dann kommen die Erinnerungen. Erinnerungen, über die sie niemals spricht.

    In der Nacht vor dem Tag, der unser Leben zerstören sollte, wurde ich aus dem Schlaf gerissen... Es war stockdunkel, aber keiner dachte daran, Licht zu machen... Da war ein dunkelroter Schimmer in der Ferne, ein fremdes Licht in der Nacht, Schreie, die von dort zu uns herüber gellten, und die Kühe brüllten wie am Spieß. Vor dem Haus aber war es still. "Jetzt!", zischte Mama, riss die Tür auf und wir rannten los.

    Sams Mutter stammt aus Ruanda. Vielleicht wird es ihr auf Sylt besser gehen.

    Ruanda, die Traumata des Krieges, das hat viel mit Hanna Jansens Leben zu tun. Denn sie und ihr Mann haben sechs Kriegswaisen aus Ruanda aufgenommen und adoptiert. Kinder, die 1994 nach dem Völkermord in Ruanda ihre Familie verloren haben.

    Hanna Jansen schreibt aus drei verschiedenen Perspektiven: Da ist zum einen die Erzählerin, da gibt es eingeblendete Texte der Mutter, in denen sie schildert, was sie als Kind in Ruanda erlebte, wie die Situation gefährlicher und gefährlicher wurde. Und da sind die Tagebuchausschnitte des sechzehnjährigen Sam.

    "Mich hat die Frage beschäftigt: Was ist mit den Nachgeborenen? Was ist mit den Kindern der traumatisierten Eltern? Wenn die Geschichte selbst nicht erzählbar ist, wenn das ein Tabu ist. In der Familie zwar immer präsent, aber nie ausgesprochen wird. Insofern habe ich die Familiengeschichte erzählt aus der Perspektive des Jungen, der seine Mutter erlebt, als jemanden auch Fremdes. Trotz aller Vertrautheit eben ein Mensch, zu dem er nie einen wirklichen Zugang findet.

    Dann kommt die Stimme der Mutter schon in diese Familiengeschichte immer hinein. Das ist ein Vorgriff. Das ist mein Kunstgriff, dass ich diese Erzählung so portionsweise in die Familiengeschichte eingefügt habe. Damit wollte ich auch dieses Spannungsverhältnis zeigen. Es ist so, dass diese Geschichte schon die ganze Zeit da ist und erst nachher, als sie für den Jungen nachvollziehbar und verstehbar wird, besteht die Chance, dass die Familie damit überhaupt in irgendeiner Weise damit umgehen kann."

    Hanna Jansens Roman ist hochemotional. Doch die Dreiteilung der Perspektive bewirkt, dass er niemals ins Sentimentale abrutscht. Den kindlichen Erinnerungen der Mutter wird der Tagebuchtext eines jungen Mannes gegenübergestellt, der viele Fragen hat. Klar, schnörkellos und einordnend ist der Text der Erzählerin.

    Hanna Jansen schreibt nie von Hutu und Tutsi. So bekommt ihr Buch etwas Allgemeines und weist damit weit über Ruanda hinaus. Den Kindern, die sich verstecken müssen, die um ihr Leben laufen müssen, geht es wie allen Kindern in allen Kriegen, in allen Konfliktzonen. Sie sind es, die den Krieg erleiden. Sie, die Opfer des Krieges sind es, die sich schuldig fühlen, weil sie die überlebt haben.

    "Ich habe das mit unseren Kindern auch erlebt: Dieses Gefühl, warum habe ich überlebt? Durfte ich eigentlich überleben? Bin ich es Wert, dass ich überlebt habe? Also, diese Fragen waren immer sehr präsent. Dazu kommen ja auch furchtbare Albträume. Das ist auch letztlich kaum wirklich zu bewältigen, vielleicht durch eine gute Therapie ist es möglich, damit weiterzuleben. Aber ich glaube, es prägt über alle Zeit hinaus."

    In "Herzsteine" findet Sams Mutter schließlich ihren Weg, ihren Platz mit den Gespenstern der Vergangenheit umzugehen. Mit ihrem Gefühl der Schuld, weil sie als Einzige aus der Familie die Massaker in Ruanda überlebt hat. Und dieser Platz ist nicht in Hamburg, nicht auf Sylt, sondern in Ruanda. Sam und sein Vater lassen die Mutter zwar ziehen, wirklich verstehen können sie die Mutter aber erst, als sie nach Ruanda fahren.

    Fremdes Zimmer, fremdes Land, fremder Kontinent. Auch Sam ist sich selbst auf einmal fremd. So ungefähr muss sich einer fühlen, der sich in der Fremde wiederfindet und vergessen hat, wer er ist.

    So muss sich die Mutter gefühlt haben, als sie nach Europa kam. Jetzt ist sie zu Hause angekommen. Sie hört den Kindern, denen sie Englisch beibringt, einfach zu. Denn den Überlebenden blieb oft nichts anderes übrig, als das Erlebte zu verschweigen, ja, zu verdrängen. Und es hilft, sich endlich öffnen zu können.

    "Das ist ja das schreckliche für die Menschen, die dort geblieben sind, die ja zum Teil mit den Tätern Tür an Tür wohnen und nicht mehr darüber reden dürfen. Es wird im allgemeinen Leben in Ruanda ziemlich stark tabuisiert."

    In den Rückblicken der Mutter erfährt der Leser, wie sie und ihre Geschwister immer mehr ausgegrenzt wurden, jeden Tag ein wenig mehr, wie sich dann verstecken mussten aus Angst um ihr Leben. Angehörige wurden ermordet. Radikal veränderte sich ihr Leben.

    "Nicht nur, dass sie die verloren haben, die für sie gesorgt haben, sie mussten um ihre eigenes Leben, ihre Existenz kämpfen. In der Situation selbst hat es vielleicht geholfen, machte stark. Aber aus der Perspektive der Geretteten wirkt diese Geschichte um so nachhaltiger. Holt sie wieder ein im Erwachsenenleben."

    Und doch ist "Herzsteine" alles andere als ein rein trauriger Roman. Sam schlendert über bunte Märkte, er tanzt ausgelassen mit seinen neuen, ruandischen Freunden, die ihre Körper viel besser bewegen können. Hanna Jansen zeigt ein sehr vielschichtiges Afrika. Und: "Herzsteine" ist frei von jeder Afrika-Romantik. Frei von Stereotypen und Kitsch.

    Während ich schreibe, hat es aufgehört zu regnen. Genauso schnell, wie der Regen kommt, verzieht er sich auch wieder. Jetzt reißt die Wolkendecke auf und ein Streifen Sonnenlicht drängt sich durch den Spalt, mit aller Macht und so intensiv, als könnte er die ganze Welt erleuchten. Vielleicht leben die Leute ja hier von diesem Licht.

    Der Schuss Romantik kommt aus Sylt. Denn Hanna Jansen lässt Sam aber nicht allein. Er findet in Sylt eine Freundin: Edda. Beide sind anders als die anderen. Sam ist beliebt, weil er toll aussieht. Eddas Mutter hat Heilkräfte und Edda wird verspottet deswegen, ihre Mutter als Hexe verhöhnt.

    "Ich bin als Autorin auch immer ein Stück in der Geschichte drin. Das ist eben auch mein Leben. Wenn ich das für Leser hier und heute schreibe, dann denke ich, wenn ich zwei Protagonisten habe, mit denen sich die Jugendlichen hier identifizieren und können, dann hat das auch eine Vermittlerfunktion. Ich versuche, über diese zwei jungen Menschen, die Brücke schlagen zu dem, was sonst außen vorbei bleibt."

    Es wird nicht erzählt, ob und wann die Mutter aus Ruanda zurückkehren wird. Und doch hat "Herzsteine" etwas Versöhnliches. Denn Sam hat gelernt, seine Mutter zu verstehen.


    Hanna Jansen: Herzsteine
    Roman
    Peter Hammer Verlag, 208 Seiten, 14,90 Euro.