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Klartext gegen den Germanenmythos

Kaum ein antiker Text hatte so eine Wirkung wie "Germania" von Publius Cornelius Tacitus. Auch die Nationalsozialisten beriefen sich in ihrer Germanenverehrung auf den römischen Historiker. Altphilologe Christopher B. Krebs räumt nun mit diversen Mythen auf, die Tacitus in seiner Schrift begründet hat.

Von Günter Kaindlstorfer | 02.07.2012
    Nein, dass man freiwillig in den Sümpfen und Wäldern Germaniens hausen kann, verstand Publius Cornelius Tacitus nicht. Hässlich, rau und unschön seien die Gebiete nördlich der Donau und östlich des Rheins, urteilte Tacitus in seiner berühmten Schrift "Germania". Mit diesem Text, um das Jahr 100 entstanden, hat der römische Geschichtsschreiber an dem Bild, das sich spätere Generationen von "den Germanen" und ihren ruppigen Sitten machten, entscheidend mitgemeißelt. Ein wilder, stolzer, trotziger Menschenschlag seien die Germanen, behauptete Tacitus:

    Blaue Augen, rötliche Haare und große Körper haben sie ... An Kälte und Hunger sind die Bewohner Germaniens durch ihren Himmel und die kargen Böden gewöhnt.

    Die Germanen brachten Menschenopfer und liebten das Würfelspiel, berichtete Tacitus in seiner Schrift. Sofern sie nicht in Kriege zogen, neigten cheruskische, friesische oder langobardische Kämpfer zum Nichtstun und Völlern. Zugleich seien die germanischen Völkerschaften bemerkenswert tugendhaft gewesen, glaubte Tacitus zu wissen; vor allem die monogame Sittsamkeit der germanischen Frau hatte es dem Geschichtsschreiber angetan. Die "Germania" ist zu einem der einflussreichsten Texte der Antike geworden, allerdings erst, seit die Humanisten des 15. Jahrhunderts Tacitus’ Schrift wiederentdeckt haben.

    Das Problem dabei: Tacitus hatte im Grunde keine Ahnung von den Germanen. Christopher B. Krebs – Professor für klassische Philologie in Harvard - weist in seinem Buch darauf hin, dass der berühmte Geschichtsschreiber sich bei der Abfassung seines Texts mehr auf das Hörensagen als auf die Evidenzen eigener Anschauung verlassen hat.

    Die ,Germania’ ist kein Bericht ...

    ... schreibt Krebs.

    Tacitus hat die Ufer des Rheins aller Wahrscheinlichkeit nach nie gesehen. Er verfasste sein Werk unter Rückgriff auf ältere griechische und römische Verfasser ethnografischer Schriften, und dabei blickte er mit einem Auge auf die Verhältnisse in Rom, während er auf die Wirklichkeit im Norden nur einen flüchtigen Blick warf. Der Text, den man Jahrhunderte später zur Definition des deutschen Nationalcharakters heranzog, war die fantasievolle Reflexion eines Römers.

    Das ist nicht wirklich neu, so ähnlich hat man das vielleicht auch schon im gymnasialen Lateinunterricht vernommen. Christopher B. Krebs hat keine sensationellen Enthüllungen zu bieten, sein Buch ist eine fundierte Zusammenfassung des aktuellen Forschungsstands in Sachen "Germania", nicht mehr und nicht weniger. Die Germanen als einheitliche Völkerschaft, daran lässt Krebs keinen Zweifel, waren und sind eine Fiktion.

    Die Germanen als ein einziges Volk, das in Germanien lebte, wurden von Cäsar erfunden: Unter bewusster Außerachtlassung germanischer Siedlungen westlich des Rheins definierte er Germanien als das Territorium östlich dieses Flusses, die Einwohner nannte er Germanen, als bildeten sie einen politischen Verband. Doch die zahlreichen Stämme, zersplittert und zerstritten, konnten sich kaum zu einer Mahlzeit zusammensetzen, ohne dass es zu Raufereien gekommen wäre.

    Soll heißen: "Die Germanen" gab es gar nicht. Christopher B. Krebs, gebürtiger Deutscher, versteht es bei aller Gelehrtheit, flüssig, amüsant und auf Pointe zu schreiben. Das macht es dem Leser leicht, seinen Ausführungen zu folgen. Krebs bietet nicht nur eine anschauliche Lebensbeschreibung des Tacitus’, er lässt auch das späte erste Jahrhundert auf eindrucksvolle Weise lebendig werden. Den Großteil seines Buchs aber nimmt eine historische Rückschau auf die Tacitus-Rezeption quer durch die Jahrhunderte ein, die, beginnend mit der Reformation, im Lauf der Jahrhunderte immer nationalistischer wurde. Von dem Humanisten Ulrich von Hutten, der Hermann den Cherusker als strahlenden Triumphator über römische Amoral feierte, über den Philosophen Johann Gottlieb Fichte und seine "Reden an die deutsche Nation" bis hin zu völkisch-rassistischen Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts: Sie alle beriefen sich in ihrer Begeisterung für "nordische Gesittung" auf Tacitus’ und seine "Germania". Der "Rassentheoretiker" Karl Ludwig Schemann proklamierte 1910:

    Die Germanen waren eine reine Rasse und verdankten dieser ihre Reinheit ihrer überwältigenden Erfolge. Dies ist von Tacitus bis auf unsere Tage betont worden.

    Eingedenk dieser Rezeptionsgeschichte ist es nicht weiter verwunderlich, dass auch führende Nazis wie Heinrich Himmler zu den begeisterten Lesern der taciteischen Schrift gehörten. Der spätere "Reichsführer SS" hatte die "Germania" im Herbst 1924 auf einer Zugfahrt von Landshut nach Passau gelesen. Himmler fühlte sich wie erschlagen von dem, wie er später schrieb, "herrlichen Bild", das er in Tacitus Schrift geschaut hätte. Zitat: "Wie hoch, sittenrein und erhaben unsere Vorfahren doch waren", schwärmte der spätere Massenmörder. Für die Nationalsozialisten war Tacitus’ "Germania" eine Art heiliger Text, wie Christopher B. Krebs in seiner Studie betont:

    Die "Germania" wurde in der Schule gelehrt, in Naziliteratur ausgiebig zitiert, und für unzählige Nationalsozialisten, vom einfachen bis hin zum hochrangigen Parteimitglied, war sie eine Quelle der Begeisterung. Sie stellte die einzige umfassende Schilderung der germanischen Völker dar, man las sie als Bericht über die deutsche Vergangenheit und pries sie allgemein als ,einzigartiges Denkmal’. Leider ist sie kein Bericht und handelt auch nicht von der deutschen Vergangenheit.

    Denn letztlich wendete sich Tacitus mit seinem Bericht an die römische Öffentlichkeit seiner Zeit. Der sprachgewaltige Senator wollte seinen Landsleuten vor Augen führen, wie verweichlicht und dekadent sie doch seien – und benützte die angeblich so kampfeslustig-sittsamen Germanen als Folie, von der sich die Liederlichkeit der Römer umso abstoßender abheben musste. Mit den historischen Fakten hatte all das wenig zu tun. Aber wen scheren schon Fakten, wenn es um die Konstruktion von Mythen geht? Christopher B. Krebs hat diese Mythen kritisch aufgedröselt und effektvoll hinterfragt in seinem Buch: Zeit war’s.

    Christopher B. Krebs: Ein gefährliches Buch – Die 'Germania’ des Tacitus und die Erfindung der Deutschen
    Deutsche Verlags-Anstalt
    352 Seiten, 24,99 Euro
    ISBN: 978-3-421-04211-8