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Klassentreffen passt am besten

Jan Neumann ist zugleich Schauspieler, Regisseur und Autor. Sein neues Werk mit dem Titel "Hochstapeln" entstand erst während der Probenarbeit. Bei der Premiere im Schauspielhaus Bochum konnte es dann am meisten überzeugen, wenn die Inszenierung Lücken zwischen alltäglicher Hochstapelei und Ehrlichkeit spürbar machte.

Von Christiane Enkeler | 03.12.2010
    Jan Neumann und sein junges Ensemble übertragen den Begriff "Hochstapeln" im kleinen "Theater unten" auf viele Ebenen: Das Theater tut offen so, als sei es Film. Auf der Bühne wird immer wieder auch gedreht, nach den Anweisungen eines imaginären Drehbuchs, die eine weitere Erzählebene schaffen:

    "Aufblende. Schulgelände, außen, Nacht. Die Kamera bewegt sich in zügigem Tempo auf das Schulgebäude zu, knapp über dem Boden entlang. Es regnet. Der Asphalt ist rissig und glänzt, überall Pfützen, in denen sich das erleuchtete Gebäude spiegelt. Ein junger Mann läuft in das sich bewegende Bild hinein. Wir sehen nur seine Füße. Die Kamera heftet sich ihm an die Fersen, weiter über den Asphalt. Eine Tür wird aufgestoßen, buntes Licht, die Musik wird lauter - eine Partyyy!"

    Aber Mechanik und Kosmetik hintertreiben das Digitale immer wieder: Die Kostüme bestehen aus zur Schau gestellter Nacktheit, aus Stoffpolstern, die im Laufe der Zeit immer mehr Körperfett demonstrieren. Und die kleine Drehbühne knarzt zeitweise dermaßen, dass die Schauspieler immer wieder lauter werden müssen. Sie improvisieren die fürs "Hochstapeln" passende Situation "Klassentreffen" insgesamt fünfmal wunderbar, und die Figuren rutschen, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, immer mehr in stereotype Sätze: Der Wirtschaftsmensch Arndt sagt am Ende nur noch: "Asien zieht". Der Pfarrer palavert auf einer verbalen Wolke und findet alles "schön". Maike spricht bald nur noch von ihrem Garten, Sabine sieht jedes Jahr aus wie ein anderer toller Star, und Reini, Reini wird später mal Politiker. Er hat schon immer Reden geschwungen.

    "Herzlich willkommen zum Klassentreffen, 1993, Karl-May-Gymnasium, Abitur vor zehn Jahren. Liebe Freunde! (Ohohoh Reini! Das ist doch viel zu hoch für dich!) Ich dachte mir, ein Klassentreffen ohne Rede ist wie Love-Parade ohne Beat... ah... hab ich was vorbereitet."

    Zwischen den Klassentreffen-Szenen, die alle ein schönes, glattes Leben vorgaukeln, zeigen sich die Figuren in einzelnen Spiel-Szenen: In einem Rückblick nimmt der smarte Johnny, eigentlich geschundener Sohn eines unbarmherzig harten Vaters, Rache an seinem sterbenden Erzeuger. Maike wird von ihrem Ex vergewaltigt, als sie sich von ihm trennt, weil sie ihn eigentlich seit neun Jahren nicht liebt. Und der Pfarrer bekommt während eines Beratungsgesprächs einen Nervenzusammenbruch.

    Immer wieder kommt es zu nicht enden wollenden Ausbrüchen, die allerdings jede Emotion durch schiere Dauer in den ästhetisch recht unfruchtbaren Leerlauf treiben.
    Das zieht den Abend in die Länge, der in den Rückblicken auch vor lauter Genre- oder Schnitt-Wechseln oft nicht auf den Punkt kommt. Und doch gibt es etwas, das all das zusammenhalten könnte: Dann, wenn die Inszenierung Lücken spürbar macht.

    Zum Beispiel Jan Neumanns Erzählebene, die sich orientiert an der Blickführung einer Kamera und damit auch auf nicht sichtbare Details verweist. So macht Arndt eine seltsame Naturerfahrung und wird - gleichzeitig - vom fliegenden Sand zur starren Statue modelliert.

    Oder eine Live-Synchronisation weicht von der gefilmten Szene ab, wenn Sabine ihrem Mann seine Krebsdiagnose nicht verrät. Im heiter-fatalistischen Interview sagt der als Schwuler enttarnte Politiker am Ende nur noch lächelnd immer wieder: "Ich weiß es nicht." Das ist die Lücke zwischen alltäglicher Hochstaplelei und Ehrlichkeit.

    In diesen existentiell klaffenden Abgründen wird der Mangel viel deutlicher als im Zukleistern des Abends mit Nervenzusammenbrüchen und Jammerei.