Donnerstag, 18. April 2024

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Klassik kontra Kommerz
"Nicht nur auf den Konsum der Kulturindustrie hereinfallen"

Musik von den Eliten zurückholen und wieder Kultur für Alle machen: Der Konzertagent und Autor Berthold Seliger fordert eine grundlegende Revolution des Klassikbetriebs. Sein Buch "Klassikkampf" ist ein Plädoyer für die Ernste Musik und für mehr Mut zu Neuem in Konzert- und Opernhäusern, wie er im Dlf erklärte.

Berthold Seliger im Gespräch mit Anja Reinhardt | 17.12.2017
    Ein seltenes Manuskript des Komponisten Johann Sebastian Bach (1685-1750) - hier zu sehen in der Niederlassung des Auktionshauses Christie's in Hamburg. Das Werk soll am 13. Juli in London mit einem Schätzwert von 1,9 bis 2,5 Millionen Euro versteigert werden.
    Auch Johann Sebastian Bach habe sich nicht nur mit Kantaten beschäftigt, sondern auch mit Unterhaltungsmusik, sagte der Konzertagent und Autor Berthold Seliger im Dlf (picture alliance / dpa)
    Es brauche deutlich mehr musische Bildung, sagte der Konzertagent Berthold Seliger im Dlf. Man müsse zurückfinden zu einem Bildungsbegriff, der sich mehr an den "Humanities" orientiere statt an den Bedürfnissen des marktliberalen Systems. Seliger meint: "Musikliteratur, Rhetorik, natürlich auch Sprachen, Notenlesen, das sollte selbstverständlich sein".
    Er will den "Klassikkampf" antreten, um die Musik von den Eliten zurückzuholen und wieder 'Kultur für Alle' zu machen. "Johann Sebastian Bach hat 700 Stunden Kantaten in der Thomaskirche in Leipzig dirigiert, er hat aber 1.200 Stunden Unterhaltungsmusik im Kaffeegarten dirigiert. Darüber spricht nur keiner", so Seliger. In seinem Buch empfiehlt er einen neuen Kanon ernstzunehmender Musik: "Wir müssen um die kämpfen, die noch nicht die Leidenschaft für klassische Musik teilen", so Seliger, "weil diese Musik das Leben massiv bereichern kann".
    Dilemmata der E-Musik
    Die Konzerthäuser in Deutschland plage ein ambivalentes Dilemma, sagte Seliger. "Die Konzerthäuser sind immer noch voll. Es gibt ein sehr treues Abonnement-Publikum. Die Opernhäuser haben aber andererseits seit 1990 die Hälfte ihres Publikums etwa verloren." Die Klassik habe ein "biologisches Problem", weil sich junge Menschen kaum für sie interessierten. Nach Seligers Ansicht liegt das auch an der räumlichen, teils "religiösen" Gestaltung der Konzerthäuser, weil "junge Menschen nicht mehr notwendigerweise zwei Stunden stillsitzen wollen oder auch können".
    Seliger forderte ein Umdenken bei den Veranstaltern. "Es gibt haufenweise Musiker, die sagen, wir würden gerne andere Musik aufführen. Wir würden gerne das Ligeti-Violinkonzert spielen, wir müssen dann aber immer Sibelius oder Mendelssohn-Bartholdy spielen. Da gibt es eine große Angst vor dem, dass man die Leute mit moderner und zeitgenössischer Musik verschrecken könnte."
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