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Klaus Böldl: "Der Atem der Vögel"
Die Sehnsucht nach dem eigenen Verschwinden

Wieder dreht sich die Geschichte um einen Sonderling, wieder spielt sie im hohen Norden: Im neuen Roman "Der Atem der Vögel" zeichnet der Autor Klaus Böldl das Bild von Einzelgänger Philipp, der seine Tage scheinbar taten- und ziellos mit Streifzügen über die Färöer Inseln verbringt.

Von Melanie Weidemüller | 21.04.2017
    Färöer-Inseln: Schafe stehen in der Nähe der Gemeinde Tjornuvik an einem Hang. Die autonome, zu Dänemark gehörende Inselgruppe Färöer liegt im Nordatlantik zwischen Island, Schottland und Norwegen.
    Der Roman "Der Atmen der Vögel" spielt auf den Färöer Inseln (picture alliance / dpa)
    Mitten im Nordatlantik, 700 Kilometer von der Küste Norwegens entfernt im Nirgendwo zwischen Schottland und Island liegt eine Handvoll Inseln. Fels, weiter Himmel, eine beeindruckende Natur. Raues Klima mit ständigen Wetterwechseln, Regenbögen. Bunte geduckte Häuser mit grasbewachsenen Dächern. Viele Schafe, wenige, sehr wenig Menschen. Das sind die Färöer Inseln. 18 insgesamt zählt das kleine Archipel, geschart um die Hauptinsel Stremoy.
    Hierhin verschlug es den Ich-Erzähler Philipp, als er vor ein paar Jahren mit einem Werkvertrag anreiste, um ein Chorgestühl zu restaurieren. Er blieb. Vermutlich wegen einer Frau, vielleicht aber auch wegen des leuchtenden Grüns auf Stremoy, "das demjenigen, der zum ersten Mal hier ist, noch nachts vor dem Einschlafen auf der Netzhaut flimmert".
    "Auf einem dieser smaragdgrünen Inselflecken im Nordatlantik steht das mit Wellblech verkleidete Haus, in dem wir zu dritt seit zwei Jahren wohnen: Johanna, die als Ärztin in der Kinderstation des Landeskrankenhauses auf der anderen Seite der Hafenbucht arbeitet, ihre fünfjährige Tochter Rannvá und, seltsam ist es, das hinzuschreiben: ich."
    Philipp ist einer jener Einzelgänger, die sich in der Welt und im eigenen Leben wenig heimisch fühlen. Scheinbar taten- und ziellos verbringt er seine Tage mit Streifzügen durch die kleine Inselhauptstadt und unternimmt Wanderungen, über schroffe Felswege und einsame Landstraßen, durch Flusstäler und stille Weidelandschaften. "Schwarze Schafe grasten zu beiden Seiten der Straße, in ihrer tausendjährigen Unverdrossenheit, und hin und wieder sah ich den sich durch das Tal windenden Bach Sandá dunkelblau aufscheinen."
    Philipps Innenleben: ein hochsensibler Resonanzraum
    Der Leser merkt schnell: Daraus wird nimmermehr ein skurriler nordischer Färöer-Krimi werden. Im Gegenteil mangelt es Klaus Böldls neuem Roman "Der Atem der Vögel" auffallend an Plot und dramaturgischen Wendungen. Fesselnd ist diese Prosa dennoch, wenn sie uns in einen ruhigen, meditativen Erzählstrom hineinzieht. Philipp, ausgestattet mit der präzisen Wahrnehmungsgabe und Sprachmächtigkeit seines Autors, erfasst noch die kleinste Nuance eines Naturphänomens, eines Gesichtsausdrucks oder einer Geste.
    Sein Innenleben ist ein hochsensibler Resonanzraum, seine Handlungsmotive indes sind rätselhaft. Handelt er überhaupt? Was will er? Von der Kinderärztin Johanna – zupackend, immer geschäftig – scheint Philipp sich entfremdet zu haben. Mit seiner Ziehtocher Rannvá hingegen, um die er sich während Johannas Dienstzeiten kümmert, verbindet ihn ein liebevolles Einverständnis.
    Als Mutter und Tochter für ein paar Tage verreisen, beginnt Philipp eine lange Wanderung über die Insel. Träumerisch vermischen sich Landschaft, Gedanken und Erinnerungen, an seine Kindheit, den Jungendfreund Simon, der mit 15 spurlos verschwand, auch an die letzten beiden Jahre auf Stremoy.
    "Es gibt kaum einen Winkel in der weitausgebreiteten Stadt, den ich noch nicht erkundet hätte, (...), kaum einen Meeresblick, den ich nicht bedacht hätte, keine Graskuppe, deren Steigung meine Beine sich noch nicht gemerkt hätten. Für Johanna ist die Welt von einem Netz von sinnvollen und notwendigen Wegen überspannt, jeder mit einem vorher schon benennbaren Ziel. Warum sollte man Wege ins Nirgendwo bauen? Und dennoch gibt es sie, es gibt sie in großer Zahl, ich lebe von ihnen."
    Kultivierung der Ereignislosigkeit
    Wie Philipp ist auch sein Autor Klaus Böldl ein Spezialist für die Wege ins Nirgendwo. Sechs Bücher hat der 1964 geborene Skandinavist bereits im Hohen Norden angesiedelt. Ihre Protagonisten sind allesamt Sonderlinge, die ihr Glück eher in der meditativen Betrachtung einer Flechte auf einem Felsblock finden als unter Menschen. Die Literaturkritik war uneins über diese "Kultivierung der Ereignislosigkeit", bescheinigte Böldls Prosa mal sprachliche Brillanz, mal"vertrackte Einfachheit" – oder einfach Langeweile.
    Tatsächlich hat Böldls sich in ruhiger Naturbetrachtung ergehendes Erzählen etwas Unzeitgemäßes. Es lässt sich verorten in einer Linie von Stifter über Thomas Mann und Bölls "Irisches Tagebuch" bis Peter Handke. Allerdings: Handke mit einem Schuss Wilhelm Genazino. Auf diese Weise entkommt Böldl dem Stifter’schen Biedermeier. Seinem Protagonisten Philipp hat er einen feinen Sinn für die Absurdität menschlichen Treibens verliehen; nie drückt bleierner Ernst auf die leicht dahinschwebende Erzählung, die einfach und rätselhaft zugleich ist.
    Eine niemals endende Wanderung
    Wo enden Wege ins Nirgendwo? Was eigentlich sucht Philipp auf diesem Inselflecken am Ende der Welt? "Hier zu wohnen erschien mir als das denkbar vollständigste Wegsein. (...). Eine größere Abwesenheit ließ sich der Welt nicht entgegensetzen. Verschollen wie der Bergmann von Falun, unter einem fremden Wolkenhimmel vergraben, versunken in fremde Einzelheiten."
    Die Sehnsucht nach dem eigenen Verschwinden zieht sich wie ein Leitmotiv durch Böldls Werk und verrät viel über das epische Programm dieses Schriftstellers. Das gäbe literaturwissenschaftlich genug her für ganze Magisterarbeiten, man braucht die Theorien aber nicht, um sich von Böldls neuem Roman verzaubern zu lassen. Am Ende scheint es, als würde Philipps Wanderung niemals enden. Als würde er ewig weiter laufen, immer tiefer in die Landschaft hinein, um mit ihr eins zu werden und als "Ich" endgültig zu verschwinden.
    Zurück bleibt die Natur, die den Menschen nicht braucht. Das Sich-Verlieren lässt sich in Philipps Fall auch als freiwillige Selbstabschaffung des Erzählers lesen. Auf Seite 144 des schmalen Bandes klingt seine Stimme aus. Stille. Und ein schöner langer Nachhall im Innern des Lesers.
    Klaus Böldl: "Der Atem der Vögel"
    S. Fischer, 144 Seiten, 18 Euro.