Dienstag, 23. April 2024

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Kleine Philosophie des Neujahrstages
"Wir brauchen diese frische Luft des Anfangens"

In einer verfließenden Zeit seien ab einem bestimmten Punkt "Vergessen" und "Verzeihen-Können" wichtig für die menschliche Existenz, sagte der Schriftsteller und Philosoph Rüdiger Safranski im Dlf. Um Freiheit erleben zu können, müssten wir in unserem Leben Anfänge markieren und Dinge hinter uns lassen.

Rüdiger Safranski im Gespräch mit Michael Köhler | 01.01.2018
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    Der deutsche Philosoph und Schriftsteller Rüdiger Safranski (picture alliance / dpa / Patrick Seeger)
    Jedem Anfang wohnt die Freiheit inne. So könnte man die Ausführungen des Schriftstellers und Philosophen Rüdiger Safranski zur "fließenden Zeit" und dem Neujahrstag, der in der Zeit eine "Markierung" setzt, zusammenfassen.
    Damit wir dieses Gefühl der Freiheit erleben können, müssten wir uns "immer wieder überlisten, dass wir diese Anfänge setzen", sagte Safranski im Deutschlandfunk:
    "Freiheit und Zeit, das ist etwas, das für mich bei Anfängen zusammenstößt und zusammenkommt".
    Bei den Vorsätzen, die wir mit einem Anfang verknüpfen, komme es auf die richtige "Dosierung" an, weil wir an unseren eigenen Vorsätzen scheitern können, dennoch ermunterte Safranski zur "Überforderung" - "ein bisschen Überforderung an diesem Punkt ist hilfreich, weil es Motivation freisetzt", sagte Safranski.
    "Wir sind oft zu schnell dabei uns unsere Freiheitsmöglichkeiten klein zu reden"
    "Grundsätzlich würde ich sagen, wir sind oft zu schnell dabei uns unsere Freiheitsmöglichkeiten klein zu reden (…). Wir neigen dazu, uns unsere Spielräume geringer zu veranschlagen, als sie in Wirklichkeit sind (…) – auch in unserem Zeitbudget."
    Die Sorge sei "das Vorausdenken an eine Zukunft in einer (…) bedrückenden Art und Weise. Und um die Sorge auszubalancieren, brauchen wir diese frische Luft des Anfangens", so Safranski.
    Neben der Markierung des Anfangs, die Freiheit erlebbar macht, sind für Safranski auch das "Vergessen" und das "Verzeihen" wichtig für die menschliche Existenz:
    "Wir müssen vergessen können. (…) Dazu gehört zum Beispiel auch Verzeihen-Können. Wir können nur miteinander leben, wenn wir auch in der Lage sind, uns wechselseitig etwas zu verzeihen und es hinter uns zu lassen. Vergessen-Können bedeutet auch, Kraft zu finden zum Weitergehen."
    Kritik an Psychoanalyse und Psychotherapie
    In diesem Zusammenhang formulierte Safranski eine Kritik an der Psychoanalyse und an der Psychotherapie – beide seien ab einem gewissen Punkt der Freiheit abträglich. Wir dürften uns nicht einbilden, wir könnten alles erledigen, was hinter uns liegt, sagte der Philosoph:
    "Aufarbeitung der Vergangenheit – das geht so gar nicht. Das ist eine naive Vorstellung. An einem bestimmten Punkt müssen wir es einfach hinter uns lassen (…); vielleicht ist es auch so, dass – zum Teil jedenfalls – die Psychoanalyse und die Psychotherapie (…) da und dort auch einen falschen Ansatz hat. Wenn man zu sehr in seine Erinnerung hineingräbt und dann irgendwann mal zieht einen die Erinnerung, zieht einen die Vergangenheit über den Tisch und man gewinnt gar nicht dieses Element der Freiheit. Da wünsche ich mir auch manchmal mehr Vergessen-Können."