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Kleinod der argentischen Literatur

Der argentinischen Schriftstellerin Norah Lange (1905 - 1972) gelang mit ihrem Roman "Kindheitshefte" 1937 der literarische Durchbruch. Nun ist dieser auch in Deutschland zu lesen, mit einem Nachwort der Autorin Maria Cecilia Barbetta.

Von Lerke von Saalfeld | 14.01.2011
    "Mir hat die Lektüre einen enormen Spaß bereitet, und ich war immer wieder überrascht, wie viele schöne Passagen es in diesem Buch gibt, was ich nicht kannte. Ich kannte nur den Namen von Norah Lange, und dies passiert vielen. Norah Lange kennt man irgendwie, diesen Namen hat man schon gehört; man weiß, dass sie Teil dieser argentinischen Avantgarde war. Man kennt sie in erster Linie als Ehefrau, als Lebensgefährten von Oliverio Girondo, aber man hat sie nicht gelesen. Das war für mich wirklich eine Entdeckung. Dadurch kennzeichnet sich der Lilienfeld Verlag, dass sie Altes neu entdecken und zugänglich machen. Für mich war dies ein großer Gewinn, dieser kleine zarte Roman."

    In der Tat ist der Roman "Kindheitshefte" von Norah Lange, die 1905 in Buenos Aires geboren wurde und diesen Roman 1937 veröffentlichte, ein Kleinod der argentinischen Literatur. María Cecilia Barbetta, die das Nachwort zur deutschen Übersetzung verfasst hat, ist betört vom Charme dieser Kindheitserinnerungen. Sie ist selbst Schriftstellerin, fast siebzig Jahre später als Norah Lange in Buenos Aires geboren und lebt seit 1996 in Berlin.

    Schon die äußere Aufmachung des Romans besticht: Fadenheftung, Halbleinen, ein eleganter Druckspiegel und der Einband in Zusammenarbeit mit der zeitgenössischen Malerin Andrea Lehmann gestaltet - das sind die Markenzeichen der Reihe Lilienfeldiana, deren Programm das Ausgraben vergessener literarischer Schätze ist.

    Die Protagonistin des Romans bleibt namenlos. Sie erzählt ihre Kindheit: als sie fünf Jahre alt, ist zieht die Familie mit fünf Schwestern und einem Bruder aus der Hauptstadt aufs Land, wo der Vater eine Arbeitsstelle gefunden hat. Für die Kinder tut sich für die folgenden zehn Jahre ein Paradies von ungezwungenem Leben auf. Sorglos wachsen sie heran, entwickeln ihre Spiele, erzählen sich ihre Träume, schwärmen von schönen Kleidern, tyrannisieren die Dienstboten, fürchten sich vor der Dunkelheit oder sind manchmal von Schmerz erfüllt, weil irgendetwas nicht gelingt.

    Erzählt wird dieses Jungmädchenleben in einem feinen Ton von Zärtlichkeit, unaufgeregt und voller Poesie - jeweils sehr konzentriert in knappen Kapiteln, nicht mehr als ein bis zwei Seiten umfassend. Von der Ich-Erzählerin erfährt der Leser nur, sie sei nicht schön, habe aber prächtige lange rote Haare, übrigens ebenso wie die Autorin. Im Kreise ihrer Schwestern bewegt sie sich wie ein Schmetterling, sie tänzelt durch das Leben, ist aber auch neugierig und wissbegierig. Ihre Kindheitshefte, die 'cuadernos,' sind Erinnerungen der Autorin an eine Kindheit jenseits politischer oder sozialer Bedrückungen. Selten lässt sie sich zu exzentrischen Auftritten hinreißen, obwohl die Autorin berühmt war für ihr bohèmehaftes Verhalten und ihre exaltierten solistischen Einlagen. María Cecilia Barbetta gefällt gerade dieser Widerspruch an Norah Lange:

    "Im Leben war sie genau das Gegenteil von dem, was wir in ihrer Literatur vorfinden. Sie war eine laute Persönlichkeit, eine schillernde Persönlichkeit, eine exotische Persönlichkeit. Sie hielt sehr gerne Reden, die voll von Neologismen waren, vielleicht dadaistische Reden, und ein bisschen was finden wir in den 'cuadernos' wieder. Es gibt eine Szene der wohlgemerkt namenlos bleibenden Protagonistin. Sie klettert auf ein Dach und hält von dort aus eine laute Rede."

    Das junge Mädchen aus dem Roman tut genau das, wofür ihre Schöpferin berühmt und auch ein wenig berüchtigt war:

    "Andere Male setzte ich mir einen breitkrempigen Männerhut auf und kletterte in einen Poncho gehüllt auf das Küchendach, von wo aus ich ins Innere der umliegenden Häuser blicken konnte, und nachdem ich ein paar Steine auf das Blechdach geworfen hatte, um die Aufmerksamkeit der Nachbarn zu gewinnen, begann ich meine Rede. Manchmal fragend, dann wieder ironisch folgten nach Schmähungen Abschnitte auf Englisch, auf Französisch, Sätze ohne Zusammenhang, der Name irgendeines Nachbarn, die wenigen italienischen und norwegischen Ausdrücke, die ich kannte, Kollektivbeschimpfungen, ein schrilles Gelächter, ein manierierter Vers."

    Diese Stelle im Roman ist eher eine Ausnahme; es herrscht mehr die Stille und das Kontemplative vor. Aber dann und wann bricht das Leben der Schriftstellerin Norah Lange durch, die in ihren Künstler- und Literatenkreisen ausgelassen und übermütig jenseits aller Konventionen sich aufführte. Zum Beispiel unverheiratet mit dem Avantgardisten Oliverio Girondo zusammenzuleben, galt als Skandal. Das Haus ihrer Eltern war gastfreundlich, immer offen für Freunde und Künstler:

    "Sie gehörte zu dem Kreis um Jorge Luis Borges, um Oliverio Girondo, ihr Mann, ein argentinischer Dandy, einer der neben Jorge Luis Borges einer der bedeutendsten Dichter der argentinischen Avantgarde wurde. Dieser Kreis von jungen Literaten traf sich immer wieder bei den Langes. Es gab zwei Arten von unterschiedlichen Veranstaltungen, die Veranstaltungen die am Samstag stattfanden, da kamen die jüngeren Literaten zu Besuch. Da wurde über Literatur geredet und dann gab es eine Veranstaltung bei den Langes am Sonntag, da kamen die älteren Kollegen, darunter Jorge Luis Borges und diejenigen, die dann später die ganz Großen der argentinischen Literatur wurden, waren diejenigen, die sonntags sich bei den Langes amüsiert haben wie Kinder. Sonntags wurde gespielt. Sie haben Versteck gespielt, sie haben Fangen gespielt und Norah Lange würde irgendwann sagen, die Sonntagsveranstaltungen machten viel mehr Spaß als die, die am Samstag stattgefunden haben. Also Norah war eine schillernde Frau, die sehr gerne diese Männer um sich versammelt hat, und das hat die Mutter auch erlaubt, denn die Schwestern durften alleine und abends nicht ausgehen. Also hat man sich die Männer ins Haus geholt. Im Haus der Langes war es laut, und in der Literatur der Norah Lange ist es leise. Und das finde ich sehr sehr schön, weil hinter diesem Leisesein wittert man ein großes Geheimnis. Man spürt die kleinen Dinge, die große Geheimnisse in sich bergen. Dem Alltag wohnt ein Zauber inne und das ist das, was man erlebt, wenn man die Welt mit den Augen von Kindern anguckt."

    Zu diesen kleinen, leisen Dingen gehören die Worte, ihre Magie, die das heranwachsende Mädchen in Bann halten:

    "Mit einer Schere schnitt ich Worte aus hiesigen und ausländischen Zeitungen aus und stapelte sie auf kleine Haufen. Meistens kannte ich ihre Bedeutung nicht, aber das kümmerte mich nicht im geringsten. Mich zog nur ihr typografisches Aussehen an, die dicht oder weit stehenden Buchstaben. Die Worte in Großbuchstaben brachten mir um ihrer selbst willen eine Begeisterung und eine Befriedigung, die ich inzwischen als ästhetische bezeichnen würde."

    Und die argentinische Schriftstellerin Barbetta kommentiert gleich weiter:

    "Am Ende des Kapitels sagt sie, beschreibt sie, dass die Wörter zwei Seiten haben, eine Oberfläche, die sie damals als schön, als ästhetisch bezeichnet hat, und gleichzeitig aber eine Tiefe und in dieser Tiefe befindet sich das Geheimnis der Wörter."

    Das junge Mädchen ist nicht altklug, es spürt dem Sinn der Worte nach, weil sie eine rät-selhafte Welt versprechen. Sie führen in ein Labyrinth von Symbolen, die sich nicht ent-schlüsseln lassen. Der Roman endet ganz realistisch mit dem Ende der Kindheit, die Ich-erzählerin ist fünfzehn Jahre alt. Der Vater ist gestorben, die Familie muss den gesegneten Ort auf dem Land verlassen. Es geht zurück nach Buenos Aires, wo Armut und Hunger auf die Familie wartet. Das Klavier muss verkauft werden. Die Icherzählerin lässt sich ihre prächtigen roten Haare abschneiden, nicht gegen Widerstand, freiwillig als einen Akt neuer, anderer Freiheit, sie wird erwachsen.

    Norah Lange: "Kindheitshefte", Aus dem argentinischen Spanisch und mit einer Einführung von Inka Marter sowie einem Nachwort von María Cecilia Barbetta, Lilienfeld Verlag, 233 S., 19,90 Euro