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Kleinwalsertal in Österreich
Zwischen Alphorntreffen und Vieh-Scheid

Alle zwei Jahre findet Mitte September im Kleinwalsertal in Österreich das Alphornbläser-Treffen statt - mit Teilnehmern, die längst nicht alle aus den Bergen kommen. Und: Zur gleichen Zeit gibt es dann auch die Vieh-Scheid. Da werden die Kühe von der Alm getrieben und im Tal in Empfang genommen. Was wie Folklore klingt, ist in Wirklichkeit schwere Arbeit für die Hirten und ihre Helfer.

Von Eva Firzlaff | 18.09.2016
    Nachthimmel über dem Kleinwalsertal
    Nachthimmel über dem Kleinwalsertal (Karl-Josef Hildenbrand/dpa/picture alliance)
    Der auch anderswo in den Alpen zelebrierte Alm-Abtrieb heißt im Kleinwalsertal Vieh-Scheid. Da kommen die Kühe, die den Sommer oben auf einer Alpe verbracht haben, wieder runter ins Tal. Wobei die meisten gar keine Kühe sind, wie mir eine Bäuerin erklärt. Denn die Fachleute unterscheiden.
    "Kühe haben schon Kälber bekommen. Und Rinder sind noch Jungvieh, die werden im Tal geboren, gehen dann mit einem Jahr und mit zwei auf die Alm. Und mit drei sind es dann schon Kühe."
    In Rietzlern ist ein Holzgatter abgesteckt, die Bauern warten mit Viehtransportern. Von fünf Alpen kommen nacheinander die Herden runter gelaufen. Das letzte Wegstück durch den Ort wie eine Parade. Vorneweg der stolze Hirt mit seinen Junghirten, die über den Sommer mit oben waren. Dann die Tiere mit lautem Gebimmel der Kuhglocken und Lärm der Ehrenschellen, groß wie Melkeimer. Dazwischen Freunde, die beim Abtrieb helfen. Alle in kurzen Lederhosen und blitz-weißem Hemd, das dann über den Tag etwas leidet.
    Die Tiere schubsen und drängeln im Galopp rein in den Pferch, aus dem sie dann einzeln wieder raus getrieben und von ihren Bauern empfangen werden. Aus der Herde ausgeschieden, deshalb Vieh-Scheid. Die meisten Tiere lassen sich geduldig in den bereit stehenden Transporter dirigieren oder schieben. Andere wehren sich und liefern den Hirten und Bauern einen Kampf. Mathias ist einer der Helfer.
    "So schön der Tag zum Zuschauen ist, für das Vieh ist es natürlich Stress, keine Frage. Diese Klappen, wo sie verladen werden, da wollen sie nicht rauf gehen, da haben sie Angst davor. Sicher, wenn man sie fragen könnte, die Hälfte würde lieber hier bleiben als heimgehen."
    Harte Arbeit für die Hirten und ihre Helfer
    Es ist harte Arbeit. Doch im Gatter sind sogar zehnjährige Jungs mit dabei, die Rinder zu sortieren. Stadtkinder und auch Erwachsene staunen aus sicherer Entfernung, wie Reinhard Heim.
    "Ich komme ja aus dem Norden, so was habe ich noch nicht erlebt. Diese Ursprünglichkeit, diese Naturburschen mit ihren Lederhosen, weißen Hemden, blumenbekränzten Mützen. Und wie sie dann die Tiere über die Straßen auf diesen Verteilerplatz getrieben haben, das war keine Trachtengruppe, die irgendwas vorgeführt hat, sondern das war ihre Arbeit. Dann mussten sie mit manchen Kühen ganz schön kämpfen, damit die in den Transporter kamen, in den sie rein sollten."
    Drei Monate, ab Mitte Juni, waren die Tiere weit oben in den Bergen. Kühe, Jungrinder, auch Pferde und Ziegen. Nicht nur die eigenen aus dem Kleinwalsertal, die meisten kommen von weit her, erzählt Hütten-Wirtin Sabine in der Alpe Bärgunt, der größten und ältesten, ganz am Ende des Kleinwalsertals.
    "Auf der Alpe Bärgunt sind 60 Tiere aus dem Kleinwalsertal, über 120 kommen aus Vorarlberg und dann natürlich aus Deutschland aus Bayern und Baden Württemberg bis Wangen im Allgäu, das ist das weiteste. Wir haben einen Bauern in Kempten unten, den Feniberg Paul, sein Vater hat das früher schon gemacht. Die Tiere wurden früher schon mit dem Zug nach Oberstdorf gefahren und ins Kleinwalsertal getrieben. Der ist fast 60 Jahre mit seinem Vieh auf der Alpe Bärgunt."
    Wobei der Bauer eben nicht selbst mit oben bleibt, sondern seine Tiere den Hirten anvertraut.
    "Die höchste Weide ist in 2.070 Meter Höhe, das ist beim Einstieg zum Großen Widderstein. Wir gehen bis dort hoch und dort oben bleiben sie zwischen vier und fünf Wochen. Das ist auf der einen Seite ein riesiger Aufwand. Und auf der anderen Seite: Die Tiere, die im Sommer auf der Alpe sind, leben im Durchschnitt als Milchkühe zwei bis vier Jahre länger. Weil die einfach robuster sind, ein besseres Immunsystem haben. Und natürlich, was sie unterstützt, sind die guten Kräuter auf den Weiden."
    Wenn nachmittags die Viehtransporter abgefahren sind, die Bauern ihre großen Kuhschellen eingepackt haben, mit denen ihre Tiere auf Ausstellungen ausgezeichnet wurden. Wenn sie den Hirten ein ordentliches Trinkgeld zugesteckt haben, dann sitzen die Einheimischen noch zusammen, singen gemeinsam, machen Musik. Die Vieh-Scheid als Sommerabschluss ist ihr Feiertag.
    Auf kleinen Hütten wird Käse produziert
    Im Kleinwalsertal liegt eine Handvoll Dörfer zwischen einigen 2.000er-Gipfeln. Die sind oben schroff und kahl, haben an den Hängen saftige Weiden. Wie die der Stutzalpe, auf 1.500 Metern Höhe, am Wanderweg. In dieser Senn-Alpe lockt leckerer Bergkäse zur Pause. Was woanders Alm heißt, die Bergweiden fürs Vieh, nennt man hier Alpe. Und Sennalpe bedeutet, dass dort auch Käse gemacht wird. Dessen Duft durchzieht das 200 Jahre alte Holzhaus der Stutzalpe, kommt aus dem Keller, dort lagert die goldene Ausbeute des Sommers.
    "Wir sind ja die kleinste Sennalpe im Kleinwalsertal. Wir haben nur sieben Kühe. Eine Tonne. Ungefähr eine Tonne Bergkäse mit Romadur."
    Im Keller fischt Helmut Schuster einen runden Käse aus dem Salzwasser-Bad.
    "Das ist der letzte Kleine in diesem Sommer. Die Kühe geben ja nicht mehr so viel Milch im Herbst. Dann werden die Käse natürlich zusehends kleiner. Der hat jetzt im Salzwasser gelegen. So zwei bis drei Tage liegen die Käse im Salzwasser, damit sich die Rinde bildet und dass es die Restmolke aus dem Käse rauszieht, sonst wird der Käse bitter."
    Der Käse vom Frühsommer wird im Herbst schon verkauft, alles andere bleibt über den Winter im Keller. Dank der Wanderer wird in den Bergen wieder mehr Käse gemacht, erzählt Helmut.
    "Der Tourismus hat das wieder angekurbelt. Mein Vater hat das ja vor mir schon gemacht hier oben, da waren es nur noch vier Sennalpen im Kleinwalsertal. Dadurch, dass immer mehr Wanderer kommen, haben viele junge Leute da auch ein Geschäft gesehen und haben wieder angefangen, die alten Traditionen zu übernehmen. Und mittlerweile sind es wieder neun oder zehn Sennalpen, die haben dann bis zu 25 Kühe. Und wir sind die kleinste, wir haben eben nur sieben Kühe, weil ich nicht mehr Weidefläche zur Verfügung habe. Über den ganzen Sommer passen da nur sieben Kühe drauf."
    Die Alpe Bärgunt ganz am Ende des Kleinwalsertals ist die größte und älteste. Zum ersten Mal urkundlich erwähnt im Jahr 1059. Für die Wirtin Sabine, ihre Helfer in der Hütte und die Hirten ist der Tag lang. Jeder Tag von Mitte Juni bis Mitte September.
    "Am Morgen um 5:30 Uhr fangen wir an mit dem Melken, die Kühe zu versorgen. Dann wird die Milch versorgt, wir machen noch ein bisschen Joghurt und Quark. Dann gehen die Hirten los ziemlich früh am Morgen. Wir haben Weidegebiete in der Mittelalp oben, wo sie über eine Stunde zum Vieh laufen müssen. Die müssen oben dann Weidepflege machen, Zäune aufstellen. Wir machen, glaube ich, bis zu 20 Kilometer Zaun. Und am Abend um 18:00 Uhr wird wieder gemolken. Die Hirten kommen am Abend um 21:00 Uhr, 21:30 Uhr wieder nach Hause."
    Derweil wird in der Hütte am Talende Kuchen gebacken, Suppe gekocht, werden die Wanderer bewirtet. Das Kleinwalsertal gehört zwar zu Österreich, ist jedoch mit Auto oder Bus nur von Deutschland aus zu erreichen, von Oberstdorf. Oder man macht es wie früher die Walser und kommt zu Fuß, von oben über den Berg.
    "Das ist das Besondere am Kleinwalsertal. Wir haben also Schweizer Wurzeln. Unsere Vorfahren kamen vor 700 Jahren aus dem Schweizer Kanton Walis. Und das Kleinwalsertal wurde wirklich von hinten über die Berge besiedelt. Also die ältesten Häuser sind ganz hinten am Talende."
    Erzählt Elmar Müller vom Tourismus-Verband.
    "Man kann den Weg der Walser über fast 700 Kilometer aus dem Kanton Walis bis zu uns nachvollziehen. Aber wir sind die nördlichste Walser-Siedlung, die es gibt. Also nach uns gingen die Wanderungen nicht mehr weiter. Da haben sie gemerkt, das ist der schönste Platz, da bleiben wir."
    Man nennt das Tal auch die schönste Sackgasse der Alpen. Die Breitach plätschert anfangs als Bergbach, wird durch viele Zuflüsse immer wasserreicher, hat kleine Wasserfälle und mitunter steile Felsen am Ufer, an denen sich der Wanderweg entlang schlängelt. Bis sie dann am Ausgang des Tals die berühmte Breitach-Klamm in den Fels gefressen hat.
    Interessante Berglandschaften
    "Nach der letzten Eiszeit vor circa 15.000 Jahren, begann das Eis zu schmelzen. Da war ein Gletscher von hier bis Kempten, das war der Iller-Gletscher. Und der wurde gespeist vom Breitach-Gletscher, der bis zu 700 Meter hoch war, sodass man nur noch wenige Felsspitzen sehen konnte. Da hat sich das Bergmassiv verschoben, es war schon eine kleine Spalte, die hat dann der Gletscher oder das Gletscherwasser größer gemacht."
    Hans Maier vom Breitachklamm-Verein. Es ist die größte Klamm Mitteleuropas, etwa 1,5 Kilometer lang, eng bis ganz eng. Und so tief, dass kaum ein Sonnenstrahl nach unten dringt. Stellenweise ragen die Felswände 100 Meter in die Höhe. Lange haben die Einheimischen die Klamm gemieden. Bis 1902 ein junger Pfarrer neu ins Dorf kam und von der Schlucht hörte, in der Geister und Dämonen hausen sollten.
    "Daraufhin entschloss er sich, das Ganze selbst anzuschauen, ließ sich abseilen. Was er sah, hat ihn so fasziniert, das er gesagt hat, das müssen wir für die Öffentlichkeit begehbar machen."
    Der schnell gegründete Verein brauchte eine Weile, ehe er wagemutige Bauleute fand, die die Klamm begehbar machten, mit Stegen an der Felswand und kleinen Brücken. Als 1905 die Klamm eröffnet wurde, kamen im ersten Jahr gleich 20.000 Besucher. Es ist ein faszinierendes Naturschauspiel. Unter uns schießt die Breitach durch die Schlucht, schleppt Holz und Steine mit, tost zwischen den engen Wänden, stürzt über Felsen in die Tiefe, gurgelt in ausgewaschenen Felswannen.
    Alle zwei Jahre Mitte September ist das Kleinwalsertal Treff der Alphorn-Bläser. Die unterschiedlichsten Gruppen zeigen ihr Können, spielen Traditionelles oder wie die Eifeler Alphornissen fast alles, was es so gibt.
    Und der Schweizer Gilbert Kolly macht mit Feriengästen eine Alphorn-Wanderung. Erzählt unterwegs vom Handy der Berge. Mit dem Alphorn haben sich die Hirten verständigt, von Berg zu Berg.
    "Zum Beispiel, er wollte am Sonntag seine Kumpane weit und breit einladen, er hatte vielleicht Geburtstag. Da hat er etwas Lustiges gespielt. Ich versuche das mal. Er hat aber auch gespielt, wenn er Hilfe brauchte. Er konnte sogar so spielen, dass Hilfe sofort kommen sollte oder es war nicht so eilig. Hört Ihr? Das ist eine ganz andere Musik. Und da haben sie gespürt: Da muss ich hin."
    Alphorn-Bläser treffen sich im Kleinwalsertal
    Gilbert schultert sein Alphorn, weiter geht es. Bis er wieder stehen bleibt und einen Alphorn-Baum zeigt. Der schlanke Stamm wächst seitlich aus einer Böschung, ist unten gebogen.
    "Siehst du, das ist typisch. Wir haben hier einen Abhang und das Holz wächst der Sonne nach. Dann wurde hier abgesägt, wurde der Stamm ausgehöhlt und dann mit Rinde wieder zusammen gebastelt."
    Während der Alphorntage können Kinder und Jugendliche bei Gilbert das Alphorn-Blasen lernen. Es gibt ja keine Löcher oder Klappen wie bei Flöte, Trompete oder anderen Blasinstrumenten.
    "Beim Alphorn nur mit den Lippen, mit der Spannung der Lippen. Wenn ich die Lippen ganz fest anspanne, gibt es einen hohen Ton. Wenn ich sie locker lasse, einen tiefen Ton. Und wenn man Glück hat, trifft man den richtigen."
    Erklärt Ralf Meisenbacher von den Eifeler Alphornissen. Nicht nur zur Alphornwanderung, auch sonst während der Alphorntage im September tönt es gelegentlich von den Bergen. Susanne Bormann:
    "Wir sind da oben auf den Walmendinger Horn gekraxelt. Es ist einfach das schönste Gefühl, auf dem Berggipfel vor dem Kreuz zu stehen und da runter zu blasen. Da gehört es ja auch hin. Aber es klingt bei uns zu Hause am Deich auch schön. Wenn man eine weite Fläche hat. Man muss eine weite Fläche haben und am besten draußen, dann klingt das bei uns zu Hause auch schön. Wir sind die Elbtal-Alphornbläser aus Bleckede an der Elbe bei Lüneburg. Unser ältestes Mitglied Jochen Bremer macht seit über 40 Jahren hier im Kleinwalsertal Urlaub. Es war schon sein Jugendtraum, Alphorn zu spielen. Irgendwann hat er sich eins gekauft und so kam das ins Rollen."
    Es heißt zwar Alphorn, doch dieses drei bis vier Meter lange Instrument gab es auch in anderen Gebirgen, wie im Schwarzwald, weiß Herrmann Göppert.
    "Schon vor 200 oder 300 Jahren hat man im Schwarzwald Alphorn gespielt. Nur ist das nicht so bekannt. Die Schweiz ist nicht das Ursprungsland des Alphorns. In den Pyrenäen, in allen Ländern, wo es Hirten gegeben hat, gab es auch Alphörner. Die haben damals schon mit einfachen selbst gebauten Hörnern Signale von einer Alp zur anderen gegeben."
    Stefan Wiemer von den Mutzbacher Alphornbläsern ergänzt.
    "Im Himalaya gab es ähnliche Hörner. Es diente tatsächlich dazu, das Vieh wieder zusammenzutreiben. Da kann ich eine nette Anekdote erzählen. Wir waren zu einem 70. Geburtstag eingeladen im Bergischen Land. Wir haben uns draußen aufgestellt, um den Jubilar zu überraschen. 300 Meter weiter war eine Kuh-Herde. Die kamen im Laufschritt auf uns zu gelaufen, das war schon beeindruckend. Seitdem weiß ich, es ist nicht nur eine Mähr, damit können sie tatsächlich die Tiere zusammenrufen."
    Höhepunkt der Alphorntage ist das Festival am Sonntag. Im Baad, dem hintersten Ort des Kleinwalsertals, herrscht Gedränge und wieder spielen alle Gruppen einzeln und nacheinander. Bis sie am Ende alle ihre langen Instrumente schultern und hoch auf eine Wiese steigen. Dann stehen etwa 150 Bläser mit ihren Alphörnern in langer Reihe auf dem Berghang. Das ist schon gewaltig.
    "Wir spielen ja normalerweise mit unserer kleinen Gruppe zu viert, maximal zu sechst. Wenn man dann die Chance hat, mit 100, ich glaube heute sind es so 150 Alphornbläser ... Das ist schon ein Erlebnis. Da müssen Sie schon die Perücke festhalten, wenn dann 150 Bläser loslegen."
    Die Reportage wurde durch den Tourismusverband Kleinwalsertal unterstützt mit 4 Hotelübernachtungen vor Ort.