Dienstag, 23. April 2024

Archiv


Klischee statt Beobachtungen

Der Klappentext des Buches "Von Not nach Elend" verspricht eine Reportage, also lebendige Schilderung aus eigener Anschauung. Leider wird das Werk von Günter Lachmann seinem Anspruch zur Erhellung des demografischen Wandels nicht gerecht. Henry Bernhard hat das Buch gelesen.

21.04.2008
    "Deutschland stirbt." Mit diesem Satz beginnt der Autor Günther Lachmann, der früher mal für die "Bild"-Zeitung geschrieben hat und heute für die "Welt am Sonntag" arbeitet, sein Buch. Deutschland stirbt also. Von dieser griffigen These ist er überzeugt.

    "Zunächst mal ist es eine Tatsache: Deutschland stirbt. Es gibt immer weniger Geburten, die Einwohnerzahl sinkt, sie wird in den nächsten Jahrzehnten weiter konstant abnehmen und diese sinkende Geburtenzahl, dieses Sterben wird sich natürlich auswirken, das wird sich besonders da auswirken, wo Deutschland noch am ursprünglichsten ist, wo es uns - na ja - Heimat geworden ist. Da wächst so diese Traurigkeit und das Bewusstsein dafür, dass wir was verlieren, das wir lange sicher geglaubt haben."

    Günther Lachmann also dreht eine Runde durchs Land. Er trifft Menschen, die meist Lokalpolitiker sind, häuft Zahlen an, Statistiken, Daten über Wirtschaftswachstum oder vielmehr -schrumpfung, über Arbeitslosigkeit, Abwanderung und Wohnungsleerstand; Zahlen, die sich leider nur selten mit den Geschichten verbinden. Nirgendwo sei es zwar so schlimm wie im Osten, aber lange wird das anderswo auch nicht mehr dauern, so sein permanent dräuender Unterton. In Nordhessen, im Westharz und im Ruhrgebiet sei die Zukunft heute schon da.

    "Oft genug habe ich gestaunt, wie wenig die Kommunalpolitiker in Westdeutschland Abwanderung und Demografie als Bedrohung für die eigene Heimat zur Kenntnis nahmen. Ausgerechnet auf der untersten politischen Ebene, wo die Auswirkungen zuerst und am stärksten zu spüren sein werden, fehlt die nötige Sensibilität für die Sorgen der Zukunft."

    Der Klappentext des Buches verspricht eine Reportage, also lebendige Schilderung aus eigener Anschauung. Leider wird das Buch diesem Anspruch nicht gerecht. Zu spät taucht der Autor als Person auf; und wo er uns wieder begegnet, wirkt er manchmal linkisch wie ein Schülerreporter.

    Andere Passagen wiederum tragen den Charakter von Pressemitteilungen. Die Wirtschaftslage referiert der Autor aus IHK-Berichten. Dass niedergelassene Ärzte in der Altmark keine Nachfolger finden, zitiert er aus dem "Hamburger Abendblatt". Lachmann möchte nah dran sein an den Geschichten - und doch erzählt er sie oft aus zweiter Hand. Kein Klischee wird ausgelassen. Altstädte sind grundsätzlich "schmuck restauriert", die Sonne "lächelt verführerisch", die Bullen in den Ställen sind "kraftstrotzend". Unfreiwillig komisch wird die misslungene Poesie aber, wenn Lachmann die vermeintlichen Idyllen der Vergangenheit beschwört, wenn er etwa von einer Fahrt nach Norddeutschland schreibt, von einer

    "Reise in eine andere Welt, die nach Gräsern, Rinde, Laub und Blüten riecht, in der heisere Zuchtbullen brüllen und der Takt der Natur den Rhythmus eines Lebens vorgibt, dessen treuester Begleiter der Wind ist, der, von den Meeren her kommend, über die Landschaft streicht. Er war schon dabei, als in grauer Vorzeit die ersten Menschen diesen Boden betraten."

    Ja, auch so kann man Buchseiten füllen. Sentiment statt Fakten. Kolportage und Klischee statt Beobachtungen.

    Der Harz scheint dem Autor näher zu liegen als die Altmark mit ihren verschlossenen Fensterläden. Lebendig und bestürzt beschreibt er den fast totalen Einbruch des Tourismus im Westharz, der die Zeichen der Zeit seit 30 Jahren verschlafen hat und seine Pensionen mit Nierentischchen partout nicht mehr mit Touristen füllen kann. Wenn er dann einen Fleischer zitiert, wie sich Geburtenrückgang, Überalterung, Klinikschließungen auf seine Fleischerei auswirken, dann bekommt man ein Gefühl dafür, wie eine Reportage hätte sein können.

    "Der eine verträgt kein Fett mehr, der andere kein Eiweiß. So ist das in der alternden Gesellschaft. Mit der Zeit macht sie sogar den Metzger arbeitslos."

    Der Autor zeigt Kommunen in der Klemme zwischen demografischem Anpassungsdruck, finanzieller Misere, politischen Vorgaben und wirtschaftlichen Zwängen. Dies an vielen Beispielen deutlich zu machen, ist ein Verdienst des Buches, so zum Beispiel eine 7000-Einwohner-Stadt mit einem einzigen Gewerbesteuerzahler, einem Ein-Mann-Betrieb. Aber dann lässt der Autor die Katze aus dem Sack: Aus der Verklärung der Vergangenheit erwächst ein antimoderner Reflex:

    "Die demographische Katastrophe ist letztlich auch ein Produkt eines gesellschaftlichen Wandels, der gegen Ende der Sechzigerjahre beschleunigt wurde durch die Ablehnung traditioneller Lebensweisen und die Abkehr von christlichen Wertvorstellungen, zu denen neben Ehe und Familie auch der Gemeinsinn und die Eigenverantwortung zählen. Genau genommen ist das Ausmaß des demographischen Wandels also auch das Resultat einer schweren gesellschaftspolitischen Niederlage der konservativ-christlichen Parteien in Deutschland."

    Schuld am "Sterben" Deutschlands - denn nichts anderes verheißt der Autor ja zu Beginn - sind also die 68er. So einfach kann Demografie sein. Keinen Gedanken verschwendet der Autor darauf, dass sich hier seit 200 Jahren eine Entwicklung zuspitzt, die weniger Kinder und ein höheres Lebensalter verspricht. Von Chancen spricht der Autor kaum.

    "Ästheten kommen hier allerdings auf den Hund. Ehrlich","

    schreibt der Autor über das Ruhrgebiet. Und weiter:

    ""Formen, Materialien, Farben und Strukturen - hier wurde alles bunt zusammengeworfen, scheinbar ohne darüber nachzudenken, wie das eine sich zum anderen fügt."

    Ebenso kann es dem Leser mit dem Buch ergehen. Dass auf Deutschland demografische Veränderungen bislang unbekannten Ausmaßes zukommen, war bekannt. Dass sich auch und gerade Lokalpolitiker mit den Konsequenzen beschäftigen müssen, darauf weist der Autor deutlich hin. Er mahnt an, dass die die politischen Konzepte unten an der Basis auch ihre praktische Entsprechung finden müssen. Alles weitere in dem Buch hat man - meist besser aufbereitet - anderswo schon einmal gelesen.


    Günter Lachmann: Von Not nach Elend. Eine Reise durch deutsche Landschaften und Geisterstädte von morgen
    Piper Verlag
    288 Seiten, 18 Euro