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Klopfzeichen. Gedichte von 83 - 97

Agnes Hüfner | 01.02.1999
    im frühtau

    berge schuh schlurfen die augen der kinder schnurren die peitschen

    summen räder hüpfen greise klopfen spechte

    zerrt ein sommerschuh margits versteinerter mund

    pfeift angst tappt sacht befehl

    bellt barry im blaubeerwald berge haar

    geflogen iz ales in di lift arayn

    Barry war der Lieblingshund von Kurt Franz, und Kurt Franz war einer der wichtigsten Mörder in Treblinka.

    1997 reiste Christian Geissler nach Polen. Ein Jahr später, im Herbst 98, erscheint sein dritter Gedichtband, "klopfzeichen". Er enthält neben anderen neun Gedichte, die unter der Kapitelüberschrift "waldläuferlieder aus dem südöstlichen polen" stehen. Jedes Gedicht beginnt mit einer Zeile aus einem deutschen Wanderlied und endet mit einem Zitat aus jiddischen Liedern, die im Getto von Lodz entstanden. "Ich war (nämlich) in Polen, nicht zum erstenmal, als Kind war ich öfter in Polen, aber jetzt zum erstenmal im Südosten in Polen, in diesen Wäldern, die ich Heimat der deutschen Öfen nenne, und da bin ich nur rumgelaufen."

    Christian Geisslers Mutter stammte aus Polen, der Vater war Baunternehmer in Hamburg. Später beschreibt der Sohn diesen Vater als einen stummen Mann, der "aus Angst vor dem Chaos" Nazi geworden war. Geissler selbst wird mit 16 Jahren zur Wehrmacht eingezogen. Er erfährt die Menschenverachtung der Nationalsozialisten. Der Erwachsene sucht nach Alternativen. Er wird Redakteur der kirchenkritischen "Werkhefte katholischer Laien", engagiert sich beim Ostermarsch, wird Mitherausgeber der marxistischen Literaturzeitschrift "kürbiskern" und für kurze Zeit Mitglied der illegalen KPD.

    1958, Geissler ist 30, veröffentlicht er seinen ersten Roman, "Anfrage", eine Recherche über die Schuld der Väter im Dritten Reich, über die Vernichtung der Juden und über das kollektive Schweigen nach 1945. Das Buch wird zum Ereignis. Dankbar begrüßt von den einen, auf den Index gewünscht von anderen. Es ist der erste Nachkriegsroman, der in dieser Schärfe nach den Tätern fragt.

    "Alle Prosabände Geisslers lassen sich lesen als Versuche der Selbstklärung... Und er lebt das, was er schreibt, immer geht es ihm ums ganze Leben, Existenz und Schreiben sind nicht voneinander zu trennen. Da er sich als ‘homo politicus' versteht, als ein Mensch, der handelt, eingreift, die Welt für veränderbar hält, ist er ein politischer Schriftsteller (...). Parteilichkeit ist bei diesem Autor also eine Selbstverständlichkeit, hier kommt Geschichte von unten in den Blick." So charakterisierte, anläßlich der Verleihung des niedersächsichen Kunstpreises im November, Wend Kässens Autor und Werk. Mit einer Ausnahme, dem Roman "Wird Zeit, daß wir leben", der Weihnachten 1933 spielt und von einer Gefangenenbefreiung handelt, siedelt Geissler seine Geschichten in der bundesrepublikanischen Gegenwart an. In den Romanen "Kalte Zeiten" und "Das Brot mit der Feile" weitet er seine Anfrage aus. Nun geht es ihm nicht mehr nur darum, die Schuldigen an der NS-Barbarei festzumachen, sondern um die Frage, warum die Arbeiterbewegung damals versagte und warum sie sich nach 45 so widerstandslos anpassen und kaufen ließ. Ende der sechziger Jahre wendet er sich von den inzwischen unter dem Namen DKP legalisierten Kommunisten ab und der RAF zu. Er wird Mitbegründer des "Hamburger Komitees gegen Folter an Gefangenen", setzt sich für Hafterleichterung ein und findet in Enzensberger, Erich Fried, Volker Schlöndorf und anderen Mitstreiter. Sehr viel später, 1988, erscheint Geisslers wichtigster Roman "kamalatta", Untertitel "ein romantisches fragment. Ein Zitat aus einer der zahlreichen Kritiken zu diesem Buch: "Geisslers ‘romantisches fragment’ handelt von einer bewaffneten Aktion der RAF, vom Widerstand im Betrieb, von Widerstand in all seinen Facetten. Es handelt aber vor allem von den Versuchen verschiedener Menschen, Subjekt ihrer Geschichte zu sein, von ihren Widersprüchen und Opfern, von ihren Träumen, von Siegen und vor allem von Niederlagen. Niederlagen, die die Niederlagen der deutschen Linken sind."

    Anerkennung, ja höchstes Lob erhielt Geissler vor allem für die eigenwillig verknappte, lyrische Sprache des Romans "kamalatta", sie wurde als innovativ bewertet und bewundert. Und war doch nur konsequent. 1980 hatte der Prosa-, Hörspiel- und Fernsehspielautor Geissler seinen ersten Gedichtband vorgelegt, "Im Vorfeld einer Schußverletzung". Wie er zur Lyrik kam, erklärt er so: "Die Gedichte entstehen ja erst seit meinem fünfzigsten Lebensjahr, allerdings in Situationen, wo mir fast der Atem stockt, das kann auch aus Freude sein, aber selten, meistens aus Schreck oder, ja, wo einem die Spucke weggeht. Dann muß ich aber doch genau das Wort finden, ich kann ja nicht nix sagen, beziehungsweise wenn ich schweige - für mich ist das schlecht. Es ist eine Suche nach Worten auf schmalsten Raum."

    Der Schreck, der Christian Geissler zur Lyrik brachte, waren die Haftbedingungen für die Gefangenen der RAF, war Stammheim, der Tod seiner Freunde, vor allem von Ulrike Meinhoff, die er lange gekannt hatte. Diesen Freunden und Weggenossen hat er viele Gedichte gewidmet. Andere Gedichte galten der kranken Mutter. Im neuen Band "klopfzeichen" heißt eine Abteilung "meine schwester ist gestorben".

    arm arm böse böse

    rapunzelrapunzel zerschnitten dein haar zerrissen dein mund zerschlagen dein zahn zerrieben dein herz zerstoben dein atem zergangen dein blut dahin

    kam da der sohn des königs. hielt stille und horchte.

    freundlich.

    und hat mit freuden empfangen.

    Vom ersten Lyrikband "Im Vorfeld einer Schußverletzung" über den großen Roman "kamalatta" und den kleinen, 1993 erschienenen "Wildwechsel mit Gleisanschluß" - der apokalyptischen Vision eines fremdenhassenden und Fremde vernichtenden Europas -, ist Geisslers Sprache immer reichhaltiger und freier geworden, der ehedem enge Spielraum hat sich erweitert um Wohlklänge, Reime, Zitate aus Liedern, Gedichten, Märchen. Manche klingen böse ironisch, manche heiter. Existenz und Schreiben, hieß es vorhin, sind bei Geissler nicht voneinander zu trennen. Und so sagt er über die Gegend, in der er heute wohnt, Ostfriesland, und sein Leben dort: "Ich bin auf der einen Seite, aus deutscher Geschichte klar genug, um feinfühligst jedes Wort im Dorf zu hören und zu wissen, dies ist wieder dies deutsche Wort, jetzt kommt wieder der deutsche Dreck, ich lebe immer noch in diesem Dreck von Deutschland. Und gleichzeitig, wirklich gleichzeitig, habe ich mit bestimmten Nachbarn und Nachbarinnen, wie soll ich sagen - ich habe für etliche Leute, wie nennt man das denn, so eine heimatliche Verbindung, obgleich ich weiß, sie teilen meine wichtigsten Ansprüche nicht, sie verstehen alle meine Wörter nicht, ja, obgleich ich das weiß. Und ich kann das Problem auch nicht lösen. Und ich weiß auch nicht, ich möchte auch irgendwo zu Hause sein."