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"Klug entscheiden"
Unnütze medizinische Behandlungen vermeiden

Antibiotika gegen Halsschmerzen, bei denen keine Antibiotika helfen. Operationen am Kniegelenk, die keine Verbesserung zur Folge haben. Es gibt zahlreiche Behandlungen und Untersuchungen, die schlicht überflüssig sind. Damit sich das ändert, hat die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) eine Initiative gestartet: "Klug entscheiden".

Von Christina Sartori | 14.07.2015
    Ein Mediziner bekommt am 18.02.2014 in einer Klinik in Baden-Württemberg vor einer Operation ein Paar Handschuhe angezogen.
    Es mangelt heute nicht mehr an Methoden für Untersuchung und Behandlung, sondern an der Übersicht. (picture-alliance / dpa / Felix Kästle)
    Kommt ein 55-jähriger Mann zum Arzt und sagt: "Herr Doktor, ich habe so schlimme Rückenschmerzen, seit einer Woche, ansonsten fehlt mir nichts". Sagt der Arzt: "Da machen wir mal ein Röntgenbild". Das ist kein Witz, sondern trauriger Alltag in deutschen Praxen. Dabei belegen Studien deutlich: Diese Aufnahme ist überflüssig. Prof. Dr. Ulrich Fölsch, Generalsekretär der deutschen Gesellschaft für Innere Medizin:
    "Jeder weiß, dass jeder 40-, 50-Jährige Rückenschmerzen hat, weil einfach degenerative Prozesse ablaufen. Deswegen macht es keinen Sinn bei einem Patienten, der ein, zwei Wochen Rückenschmerzen hat, sofort eine Bildgebung anzusetzen, da kann man erst mal warten. Und wenn es eben nach sechs bis acht Wochen nach wie vor besteht, dann muss man in der Tat tiefer nachforschen, was die Ursache ist."
    Ulrich Fölsch muss nicht lange nachdenken, um ein weiteres Beispiel für eine Überversorgung zu finden:
    "Wenn ich keine Herzschmerzen habe, keine Atemnot habe, keine geschwollenen Füße habe, brauch ich keinen Check und muss jedes Jahr oder jedes halbe Jahr ein EKG oder ein Belastungs-EKG schreiben. Das mag dem Patienten Genugtuung bringen, aber der Informationsgewinn, den man damit hat, ist sehr gering und kostet Geld und ist für keinen nützlich."
    Überflüssige Maßnahmen
    Antibiotika gegen Halsschmerzen, die durch Viren verursacht werden - gegen die keine Antibiotika helfen. Operationen am Kniegelenk, die nichts verbessern. Die Liste der Behandlungen und Untersuchungen, die gemacht werden, obwohl Studien zeigen, dass sie überflüssig sind, ist lang. Das soll sich ändern: Dazu hat die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin, kurz DGIM, eine Initiative gestartet, die sich "Klug entscheiden" nennt. Jede der zwölf Schwerpunktgesellschaften, aus denen die DGIM sich zusammensetzt, soll fünf Maßnahmen nennen, die bewiesenermaßen überflüssig sind - aber trotzdem häufig ergriffen werden. Am Ende gibt es Empfehlungen, für Ärzte und Patienten. Prof. Dr. Gerd Hasenfuß, Vorsitzender der DGIM:
    "Die 'Klug entscheiden' Empfehlung für den Patienten: Einmal in Schriftform, aber auch in Form einer Homepage, auf der diese Dinge abgerufen werden können, durchaus auch in Form einer App, die wir jetzt entwickeln müssen."
    In den USA gibt es so eine Initiative schon seit einigen Jahren, "choosing wisely" heißt sie dort, übersetzt: "Klug entscheiden". Doch im Gegensatz zur amerikanischen Initiative soll "Klug entscheiden" nicht nur auf Überversorgungen hinweisen. Es sollen auch jeweils fünf Punkte von Unterversorgung genannt werden: Maßnahmen, die bewiesenermaßen helfen - aber oft nicht ergriffen werden. Gerd Hasenfuß nennt ein Beispiel:
    "Es ist nachgewiesen, dass körperliches Training bei fast allen Erkrankungen - außer wenigen akut Erkrankungen - nicht nur die Lebensqualität verbessert, sondern auch die Lebenserwartung verbessert, und da liegt ein ganz großes Defizit. Ich möchte jetzt nicht den täglichen Spaziergang adressieren, sondern ein ganz konkretes körperliches Training, das der Arzt auch seinem Patienten rezeptieren kann, indem er ihm eine Empfehlung ausspricht, wie das Training aussehen könnte."
    Überversorgung hat ganz unterschiedliche Gründe
    Für die Überversorgung gibt es mehrere Ursachen: finanzielle Anreize, die eine Untersuchung deutlich besser honorieren, als ein ausführliches Patientengespräch. Manchmal sind Ärzte unsicher, haben Angst etwas zu übersehen. Manchmal fühlen sich Patienten schlecht behandelt, wenn sie ohne Rezept aus der Praxis gehen. Für Ulrich Fölsch ist daher klar: Ohne ausführliches Patientengespräch kann ein Arzt die "Klug entscheiden" Empfehlungen nicht umsetzen:
    "Die Gespräche, die ein Patient mit dem Arzt führt, werden zum jetzigen Zeitpunkt nicht ausreichend honoriert. Und wenn wir in unserem Katalog fordern und voranstellen, das allein durch ein ausführliches Gespräch mit dem Patienten und eine sorgfältige Untersuchung sehr viel diagnostische und therapeutische Maßnahmen sich erübrigen, weil wir dann mehr Informationen haben, dann hoffen wir, dass wir damit den Druck erhöhen, dass solche wichtigen Maßnahmen in der Medizin auch besser honoriert werden."