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"Klug wird niemand von allein"

Die Ergebnisse der Hirn- und Bindungsforschung lassen sich in punkto Bildung auf einen Nenner bringen: Bindung geht vor Bildung. Goethe hat das mal so formuliert: Am besten lernt man von dem, den man liebt. Der Pädagoge Karl Gebauer hat diese Erkenntnisse nun zusammengetragen unter dem Titel: "Klug wird niemand von allein. Kinder fördern durch Liebe". Uschi Geiling bespricht das Buch.

Von Uschi Geiling | 15.10.2007
    Klug wird niemand von allein. Eine vertrauensvolle Beziehung ist der Anfang von Veränderungen.
    Mit diesem Hinweis endet Karl Gebauers Taschenbuch "Klug wird niemand von allein. Kinder fördern durch Liebe." Das sind nicht nur hoffnungsvolle Worte eines erfahrenen Pädagogen, sondern Perspektiven, quasi Handlungsanweisungen für Erwachsene, Ausbilder und Lehrer, wie sie mit perspektivlosen und emotional wie sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen umgehen und diese wieder aufbauen können. Es ist nie zu spät.

    Doch zu dramatischen Situationen muss es nach Meinung des Göttinger Autors, der jahrzehntelang als Lehrer und Schulleiter tätig war, gar nicht erst kommen. Gelingendes Lernen findet von Kindheit an vorrangig in einer anregenden, freundlichen und wertschätzenden Atmosphäre statt: in der Familie, im Kindergarten oder in der Schule. Das sind die wesentlichen Voraussetzungen. Anders formuliert: Ohne Liebe und Zuwendung kein Lernen - und kein Klugwerden.

    Erziehung und Bildung hängen also mit unseren Gefühlen zusammen. Die Wurzeln des Erfolgs werden schon früh, in den ersten Lebensjahren gelegt. Es ist das ausgiebige Spiel, das die Grundlage für Motivation, Konzentration und Lernlust bildet. Wichtig: Eltern oder andere nahe Bezugspersonen sollten sich Zeit und Ruhe fürs Spiel mit ihren Kindern nehmen. Die für die Erziehung und Bildung relevanten Wissenschaftsbereiche messen der Erfahrung von Urheberschaft, dem selbstbestimmten Lernen, eine entscheidende Rolle zu. Wenn Kinder eine Aufgabe gelöst haben und Eltern ihnen verbale Anerkennungen oder freundliche Blicke zukommen lassen, freuen sie sich und sind motiviert, weiter Erfahrungen zu sammeln und so auch die Verschaltungen im Hirn zu ermöglichen, mithin das Wachstum des Hirns zu fördern. Karl Gebauer:

    Zu den bahnbrechenden Erkenntnissen der Hirnforschung gehört die Entdeckung eines gehirneigenen Belohnungssystems. Kindliche Neugier, Entdeckerfreude und die damit verbundenen Glückserlebnisse führen zur Aktivierung des dopaminergen Systems. Dieses System verleiht den Dingen und Ereignissen um uns herum eine Bedeutung.
    Spielen halten Eltern wie Erzieher deshalb für sehr bedeutsam, weil es Fähigkeiten wie Konzentration, Fantasie und Ausdauer nicht nur neuronal anbahnt, sondern auch Freude und Begeisterung mit eben diesen Fähigkeiten verknüpft. Das setzt die Lernmotivation für weitere Unternehmungen in Gang - auch für später. Diese Erfahrungen stimulieren die Gehirnzellen eines Kindes. Die fortwährende neuronale Vernetzung des Kinderhirns beginnt. Diese ist entscheidend für gelingendes Lernen und damit für die Gesamtentwicklung - vom Kind zum lernmotivierten Erwachsenen.

    Im Kindergarten setzt sich dieser Lernprozess mit einer grundlegenden Bildung fort. Geschickt bezieht der Autor, der auch Mitinitiator und Leiter der "Kongresse für Erziehung und Bildung" ist, Kinder-Äußerungen zum Thema Klugwerden in seine Erläuterungen ein. Fünfjährige haben bereits eine Vorstellung davon, dass Klugsein etwas mit Wissen zu tun hat. Spiele und Bauen halten sie für wichtige Aktivitäten, die zum Klugsein gehören - das heißt das eigenständige Tun und Erfahrung-Sammeln mit Erzieherinnen. Hier, in der ersten Bildungsinstitution, beginnt Karl Gebauers Kritik, denn die neuen Bildungspläne der Länder setzen mit "Bildung von Anfang an" hohe Ansprüche:

    Im Kern gehen die Bildungspläne von den Kompetenzen und Ressourcen der Kinder aus und setzen nicht bei ihren Defiziten an. Es gibt immer wieder Hinweise darauf, dass sich die Erzieherinnen an den Möglichkeiten des Kindes orientieren sollen, was eine deutliche Orientierung an der Individualität des Menschen bedeutet.
    Diese hohen Erwartungen sollen natürlich kostenneutral, also ohne Verbesserung der finanziellen beziehungsweise personellen Ausstattung erfolgen. Und das, obwohl die Anforderungen an die Erzieherinnen - gerade, was die wissenschaftlichen Grundlagen und die angestrebten Ziele angeht - gestiegen sind. Gebauer bemängelt das Auseinanderklaffen von Anspruch und Alltagsrealität. Auch beim Übergang vom Kindergarten zur Schule stellt der Autor gravierende Probleme fest.

    Wenn die Kinder wechselten, drohten einzelne mit ihren jeweiligen Stärken und Schwächen aus den Augen verloren zu gehen. Denn bei einem Teil der Lehrerschaft herrscht immer noch die Vorstellung vor, Kinder müssten möglichst gleiche Voraussetzungen für die Grundschule mitbringen. Doch nur ein differenzierter Unterricht, der die individuelle Ausgangslage eines Kindes berücksichtigt, ermöglicht Lernerfolge für eine umfassende Persönlichkeitsentwicklung, so Gebauer. Ebenso deutlich kritisiert der Autor die administrativen Verordnungen für weiterführende Schulen.

    Aufgrund der einseitigen bildungspolitischen Blickrichtung sei der "Bildungsstampfer in eine Schieflage" geraten. Der Testfetischismus mit zum Beispiel vergleichbaren Bildungsabschlüssen oder Zentralabitur sei fast ausschließlich auf die Lernergebnisse ausgerichtet. Einzelne Schüler und Schülerinnen gerieten immer mehr aus dem Blickfeld der überlasteten Lehrer. Schüler mit schwachem Selbstwertgefühl liefen Gefahr, in die Perspektivlosigkeit abzurutschen. Gebauer weist in diesem Buch insgesamt auf die Grundlagen des Lernens und Lebens hin. Schon deshalb verdient sein Appell "Fördern durch Liebe" hohe Aufmerksamkeit.

    Das war eine Rezension von Uschi Geiling über das Buch "Klug wird niemand von allein. Kinder fördern durch Liebe", Autor ist Karl Gebauer, das Buch ist bei Patmos in Düsseldorf erschienen, hat 170 Seiten und kostet 14 Euro 90.