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Knausgårds "Das Amerika der Seele"
Vom Himmel der Fiktionen

Es war der Konflikt zwischen Individuum und moderner Massengesellschaft, der den norwegischen Schriftsteller Knut Hamsun nach seiner Ausreise in die USA umgetrieben hat. Sein Kollege und Landsmann Knausgård greift das Thema erneut auf - bei der Titelwahl für seine Sammlung von Essays, von denen einer Hamsun gewidmet ist.

Von Annette Brüggemann | 04.11.2016
    Der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgard, aufgenommen am 28.4.2014 in Barcelona
    Der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgard (picture-alliance / dpa/ Alejandro Garcia)
    "Die Gleichzeitigkeit von Präsenz im Augenblick und der Abstand von der Welt, ist der Ort der Kunst. Das meditativ und religiös eingefärbte Erlebnis des Jetzt, diese ungeheure Konzentration auf den Augenblick, die enorme Wellen von Verbundenheitsgefühlen mit der Welt auslöst, und vielleicht nichts weiter sagt als ‚ich existiere’, ist nur möglich, wenn die Welt sichtbar wird als Welt und nicht als die Welt des Ichs, und das tut sie nur, wenn dieses Ich außerhalb von ihr steht. In ein und derselben Bewegung entfernt die Kunst uns von der Welt und führt uns näher zu ihr heran, zu dieser himmelumspannenden und sich langsam bewegenden Materie, aus der auch unsere Träume sind."
    Was zeichnet das Verhältnis von Welt und Kunst aus? Das ist eine der zentralen Fragestellungen der Essays "Das Amerika der Seele" des norwegischen Schriftstellers Karl Ove Knausgård. Insgesamt 18 Texte versammeln sich in dem Band, entstanden in den Jahren 1996 bis 2013, darunter Auftragsarbeiten und noch unveröffentlichte Materialien. Ein informativer Anhang liefert konkrete Einblicke in ihre Entstehungsgeschichte.
    Sich über Kunst und Literatur befreien
    Knausgårds Essays beginnen mit einer eindrücklichen Szene: Der Ich-Erzähler kniet als Junge über einer Kloschüssel und übergibt sich, während draußen Vögel krächzen. Und er schreibt, es sei, als würden die Vögel erst durch diese hässlichen Laute ihrer selbst gewahr werden - wie eine Metapher für das eigene Selbst.
    Es ist diese humane Bandbreite von dem vermeintlich Hässlichen und Schönen, Guten und Bösen, Profanen und Poetischen, die Knausgård in seinen Essays ohne Wertung beleuchtet. Er möchte die Welt wahrnehmen, wie sie ist und fragt sich, wie wir uns über Kunst und Literatur befreien und wieder neu sehen lernen können.
    Der radikale Impuls, sich von den Fesseln der eigenen Identität zu befreien, hat Karl Ove Knausgård sein autobiografisches Projekt "Min Kamp" schreiben lassen, dessen Auslöser der Tod seines alkoholkranken Vaters war.
    Schreibend in unbekannte Welten vorstoßen
    Paul Berf hat Knausgårds Epos übersetzt und wurde dafür 2014 mit dem Jane-Scatcherd-Preis ausgezeichnet. Auch die Essays von Karl Ove Knausgård hat er zur Hälfte übersetzt, zusammen mit Ulrich Sonnenberg. Eine Kindheitserfahrung, die Knausgård zu Beginn seines Essaybands beschreibt, formuliert für Paul Berf ein wichtiges Grundmoment in dessen Schreiben:
    "Es gibt in diesen Essays am Anfang ein Erlebnis, das er schildert, bei einer Flugreise, als würde sich die Welt für ihn neu aufschließen in diesem Moment, als er aus dem Flugzeugfenster blickt. Und er nennt dies auch ein ‚künstlerisches Erlebnis’. Und da sind wir, glaube ich, ganz stark, bei der Motivation von Knausgård überhaupt zu schreiben. Schreiben ist für ihn ein Ort, an dem man weiter gehen kann als das Denken. Weiter gehen kann als das Fühlen, das heißt, man stößt in Unbekanntes vor. Das ist natürlich ein fast schon mystischer Gedanke, auch ein sehr romantischer Gedanke - und damit ist es natürlich auch eine Möglichkeit der Selbsterforschung.
    Wobei ich glaube, bei der Serie ‚Mein Kampf - Min Kamp’ kam dann eben noch sehr stark die Auseinandersetzung mit dem Vater hinzu und der Katharsis-Effekt, den diese Bücher hatten. Es war einfach der Wunsch, diese gesamte Identitätsproblematik, die Problematik des Konflikts mit dem Vater, sich komplett von der Seele zu schreiben und danach leer zu sein. Wie ein unbeschriebenes Blatt, von wo aus man dann wieder aufbrechen kann zu neuen Schreibhorizonten."
    Die Welt, ein Planet, der von Gasen umgeben war
    "Damals, mit sechzehn, fühlte ich zum ersten Mal etwas, was ich nie zuvor gefühlt hatte. Und das war wirklich eine Sensation. Ich blickte aus dem Fenster, sah die Wolken, die Landschaft unter ihnen, und bekam ein intensives Gefühl für die Welt. Es kam mir so vor, als hätte ich sie vorher nie gesehen. Die Welt war ein Planet, der von Gasen umgeben war. Diese Erkenntnis, die unbeschreiblich bleibt, erfüllte mich mit Glück, aber auch mit Ungeduld und Verlangen. Der Augenblick ging vorüber, das Flugzeug landete, und ich nahm das Boot zu meinen Großeltern hinaus, aber ich habe ihn nie vergessen. Insgeheim nannte ich ihn ‚das Weltgefühl’. In meinen Gedanken war es ein "künstlerisches" Erlebnis gewesen, mein erstes. Deshalb verband ich es mit dem Schreiben. So muss ich schreiben, dachte ich. Ich musste etwas Schreiben, das mit dem ‚Weltgefühl’ verbunden war."
    Dieses Weltgefühl, es steht für Knausgård immer im Verhältnis zur Gegenwart. So betrachtet er in einem seiner Essays mit dem sprechenden Titel "Willkommen in der Wirklichkeit" die Fotografien Francesca Woodmans vor der Folie unserer Zeit und stellt fest, auf welch authentische Weise die US-amerikanische Fotokünstlerin, die sich mit 22 Jahren das Leben nahm, ihren nackten weiblichen Körper vor unseren Augen inszeniert hat.
    Wir sind "Idioten des Kosmos"
    Oder aber er taucht tief ein in den Roman "Mysterien" des norwegischen Schriftstellers und Nobelpreisträgers Knut Hamsun, der Ende des 19. Jahrhunderts in die USA auswanderte. Knausgård wählt für Hamsuns literarische Welt den Begriff "Das Amerika der Seele", da Amerika für Hamsun zum Sinnbild für den Konflikt zwischen Individuum und moderner Massengesellschaft geworden sei.
    Knausgård wiederum spricht von "Idioten des Kosmos", wenn er über uns und unsere Zeit nachdenkt. Wir würden nicht mehr das Unendliche sehen, wenn wir in die Sterne hinaufblicken - schreibt er -, sondern nur Satelliten, die wiederum Bilder von uns selbst transportieren würden. Für seinen Übersetzer Paul Berf formuliert Karl Ove Knausgård in der Langsamkeit und Widerständigkeit seiner alltäglichen Beobachtungen einen Gegenentwurf zu unserer beschleunigten, technologisierten Welt. Dabei sei das Besondere, dass Knausgård zuallererst von sich selbst ausgehe, bevor er auf Universelles schließe:
    "Ich dringe über diese extreme, persönliche Darstellungsweise dazu vor, wo wir heute stehen als Menschen zu Beginn dieses 21. Jahrhunderts, mit all den Erfahrungen, die die letzten 20, 30 Jahre gebracht haben: Die Globalisierung der Welt, die Digitalisierung der Welt. Und dann geht jemand hin und erzählt wieder von den ganz alltäglichen Dingen. Und das ist ja fast in gewisser Weise schon wieder eine Utopie. Es ist ein Gegen-Ort. Ein Nicht-Ort, verglichen mit der Welt, in der wir normalerweise leben."
    Auseinandersetzung mit Anders Breivik
    Auch ein Anders Breivik, der im Jahr 2011 in Oslo 69 Jugendliche erschossen hat, gehört für Karl Ove Knausgård zu dieser Welt, in der wir heute leben - und widmet ihm einen ganzen Essay. Am Beispiel Breiviks entwickelt Knausgård die Typologie des "monofonen Menschen", der nur mit sich allein und Kontakten im Internet lebt - und fragt sich, wie sich der Wahnsinn Breiviks in der Mitte unserer Gesellschaft unbemerkt entfalten konnte. Auch nimmt er den profanen Satz "Wir scheißen und wir sterben" zum Anlass, um 30 Seiten über das Scheißen zu philosophieren als letztes Tabu unserer Kultur - wo wir doch in sexueller Hinsicht schon alles preisgegeben hätten. Knausgård, so scheint es, will das Hier und Jetzt bis aufs Mark durchdringen, in aller Intensität und Physis:
    "Es ist ein hyperrealistisches Schreiben. Knausgard spricht ja gern auch vom Himmel der Fiktionen, der über uns schwebt. Das heißt, wir sind umstellt von Erzählungen, aber wir verlieren den Blick für die Realität und für die Geheimnisse der Realität. Und je genauer man die beschreibt, desto genauer kommt man vielleicht wieder an einen Kern von Existenz."
    Schaut hin, was das Leben ausmacht, raunt uns jede Zeile Karl Ove Knausgårds zu. Mit ihm staunen wir, wenden uns angewidert ab oder lächeln über das Sosein der Welt, deren Wunder nichts weiter als alltäglich sind. Hier hält uns jemand einen Spiegel vor, den er selbst am allerbesten kennt - unmittelbar und echt.
    "Das Wenige, was ich tun kann, ist, mich durch Schreiben zu re-lokalisieren, aber auch innezuhalten und nicht wegzuschauen, sondern zum Licht des Universums aufzuschauen, in das schwache Brausen der Wellen, und am Schluss das knirschende Geräusch von Schritten im Schnee wie einen kleinen Schock der Stille, ein Beben spüren. Dieses Beben ist die Antwort der Seele auf eine Frage, die sie sonst nie berührt. Wo bin ich jetzt? Hier bin ich."