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Koalitionsverhandlungen
Hickel begrüßt Mindestlohnkommission

Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel spricht sich für eine Mindestlohnkommission nach britischem Vorbild aus. Diese sorge dafür, dass die Höhe und regelmäßige Anpassung des Mindestlohns aus dem allgemeinen Parteienstreit herausgenommen werde. Dennoch müsse der Kommission der Einstiegslohn - 8,50 Euro - vorgegeben werden.

Rudolf Hickel im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 20.11.2013
    Tobias Armbrüster: Ich habe über den Mindestlohn kurz vor dieser Sendung mit dem Bremer Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel gesprochen. Meine erste Frage an ihn: Reichen 8,50 Euro?
    Rudolf Hickel: Na gut, die Zahl ist natürlich sehr umstritten. Wenn man genau die Definition nimmt, was ist eigentlich ein existenzsichernder Lohn, dann ist in der Tat der 8,50 Euro Lohn eher darunter. Wir schätzen ihn derzeit bei 9,50 Euro. Aber es gibt ein zweites Problem: Wir haben einerseits den Mindestlohn. Wir müssen aber sehen: Das Mindesteinkommen setzt sich zusammen aus Mindestlohn multipliziert mit den gearbeiteten Stunden. Und meine Sorge ist, wenn der Mindestlohn kommt, dass dann versucht wird, im Grunde genommen die Arbeitsstunden zu reduzieren, sodass kein Mindesteinkommen zustande kommt. Aber insgesamt ist ein Signal in die Richtung dringend erforderlich.
    Armbrüster: Warum brauchen wir in Deutschland denn überhaupt so einen Mindestlohn? Ich meine, wir haben ja starke Tarifparteien.
    Hickel: Ich könnte ja ganz einfach anfangen und sagen, wir haben in der Zwischenzeit in zwölf Branchen immerhin von der aktuellen, noch geschäftsführenden Bundesregierung Mindestlöhne, beispielsweise bei den Dachdeckern, beispielsweise bei den Leiharbeitern. Also ist zumindest schon mal anerkannt, trotz dortig funktionierender Tarifsysteme, dass wir Mindestlöhne brauchen.
    Das Entscheidende ist ja das – und das ist der Ausgangspunkt: Die Agenda 2010 hat ja dazu geführt, dass der Arbeitsmarkt sehr stark gespalten worden ist. Wir haben über acht Millionen Menschen in der Leiharbeit, im Niedriglohnsektor, die von dem Einkommen, von dem Arbeitseinkommen nicht leben können. Wir haben 1,2 Millionen Aufstocker, das heißt Vollbeschäftigte, die von dem, was sie verdienen, nicht leben können. Das heißt, sie erreichen gerade mal den Hartz-IV-Satz, und deshalb gibt es einen dringenden Bedarf, einen Deckel reinzuziehen. Sie haben zurecht angesprochen die Frage, das könnte doch insgesamt auch die Tarifautonomie schwächen. Aber das ganz Entscheidende ist:
    In diesen Bereichen, in denen sich gewisserweise der Niedriglohnsektor, ich würde sogar ganz zugespitzt sagen, eine moderne Form des Lohndumpings, der Lohnausbeutung durchgesetzt hat, da funktionieren Tarifverträge nicht mehr. Deshalb sind ja auch die Gewerkschaften in der Zwischenzeit große Befürworter eines Mindestlohns.


    Mindestlohn ist SPD-Korrektiv zur Agenda 2010

    Armbrüster: Aber war nicht gerade das ein Erfolgsrezept aus Deutschland, dass man sozusagen branchenspezifische Mindestlöhne einführt? Könnte man so etwas nicht auch fortsetzen für diese problematischen Bereiche, etwa auch für die Leiharbeit?
    Hickel: Es gibt im Prinzip zwei Wege. Der eine ist der pragmatische, der bisher gegangen worden ist, das jeweils über die Branchen zu machen. Aber wir haben dann doch noch viele Bereiche, in denen Sie mit der Branchenregelung nicht das Lohndumping erreichen, diese niedrigen Löhne. Deshalb bin ich schon der Meinung, das ähnlich zu machen wie in Großbritannien, zu sagen, wir führen einen allgemeinen flächendeckenden Mindestlohn ein. Da muss mit einer bestimmten Größe gestartet werden. Die liegt bei 8,50 Euro. Und da kann man ja künftig mit einer Kommission wie in Großbritannien, der sogenannten Niedriglohn-Kommission, low pay commission, jeweils dann überlegen, wie es weitergeht. Wenn man sich das anschaut in Großbritannien, dann sieht man, wie über die Jahre hinweg der Mindestlohn angehoben worden ist. Aber es gibt ein entscheidendes Argument, warum die Symbolik so wichtig ist für die SPD. Die SPD vollzieht ja mit dem Engagement für den Mindestlohn eine massive Korrektur der Fehlentwicklung der Agenda 2010. Und ich sage es mal jetzt auf die Parteien gesprochen: Offensichtlich braucht die Partei diese Korrektur auch gegenüber Agenda 2010, und deshalb hat sie so einen ganz, ganz hohen Stellenwert.
    Armbrüster: Können Sie dann die Kritik verstehen, die da jetzt aus der SPD-Linken kommt, die sagt, so eine Kommission, das ist uns zu schwammig?
    Hickel: Die Kritik kann ich im ersten Moment verstehen. Wenn wir jetzt folgendermaßen vorgehen würden, was ja auch diskutiert wird und eventuell sogar am Ende der Koalitionskompromiss sein könnte - meines Erachtens dann etwa auch ein fauler Kompromiss - zu sagen, gut, wir machen einen gesetzlichen Mindestlohn, wir setzen eine sogenannte Niedriglohn-Kommission ein, jeweils besetzt mit Arbeitgeberverband, mit den Gewerkschaften und noch vielleicht zwei oder drei unabhängigen Wissenschaftlern, und die setzen dann den Mindestlohn fest, wenn man so vorgeht, dann ist doch die Gefahr ganz groß, dass da ein Mindestlohn rauskommt im Sinne der Deckung der Fläche, der hinten und vorne nicht ausreicht.
    Deshalb schlage ich vor, wir machen diesen Einstieg jetzt über 8,50 Euro. Wir wissen übrigens, dass in einigen Branchen, in einigen Bereichen die 8,50 Euro sogar zu wenig sind, aber wir steigen damit ein und entwickeln dann ein System, das sich gemessen an den Verhältnissen in der Wirtschaft weiterentwickelt.

    Spielraum für aktive Tarifpolitik durch Mindestlohn
    Armbrüster: Aber kann das denn tatsächlich jemals ein wirklich neutrales Votum sein, das so eine Kommission abgibt? Liegt da nicht die Gefahr nahe, dass da entweder Arbeitgeber oder Gewerkschaften doch die Überhand haben?
    Hickel: Das Entscheidende ist ja: Warum kommen wir eigentlich auf die Idee dieser low pay commission, dieser Niedriglohn-Kommission? Aus einem ganz anderen Grund, und da stimme ich den Kritikern ja auch zu. Ich kann mir nicht vorstellen und ich fände es auch falsch, wenn die Politik jetzt Jahr für Jahr den Mindestlohn festlegt, das heißt, das am Ende sogar eine parlamentarische Entscheidung wird. Das fände ich völlig falsch und deshalb sucht man jetzt nach einem Instrumentarium, um die Politik da ganz rauszunehmen. Um dem Parteienstreit über die Höhe des Mindestlohns nach dem Einstieg in den Mindestlohn ein Ende zu setzen, sucht man jetzt nach einer gewissermaßen rationalen Lösung, in der aber dann sich nicht widerspiegelt der Parteienstreit. Das ist der Sinn dieser Kommission, die da diskutiert wird, aber diese Kommission müsste jetzt im Einstieg die Vorgabe bekommen von 8,50 Euro, und es gibt ja schon erste massive Proteste.
    Es gibt einen zweiten Kritikbereich, der kommt von den Gewerkschaften, vor allem jetzt von der IG Metall aus Frankfurt, von Herrn Schild, der zuständig ist für mehrere Bezirke. Der sagt, aus den Mindestlöhnen könnten ja auch sogenannte Tarifmindestlöhne werden.
    Die Gefahr sehe ich überhaupt nicht, weil es eine andere Fehlentwicklung gibt. Die Fehlentwicklung ist doch, dass durch den Niedriglohnsektor auch der Druck auf die normalen Tarifverhandlungen enorm zugenommen hat, und man würde dann eher wieder ein bisschen mehr Spielraum bekommen. Wenn man weiß, am unteren Ende ist ein Deckel eingezogen, würde man mehr Spielraum bekommen für eine aktive Tarifpolitik der Tarifvertragsparteien, so wie es im Grundgesetz steht.
    Armbrüster: Der Bremer Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel war das hier bei uns im Deutschlandfunk. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Hickel.
    Hickel: Schönen Dank, Herr Armbrüster.
    Rudolf HickelGeboren 1942 in Nürnberg. Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Anschließend wissenschaftlicher Assistent an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität, danach am Fachbereich der Universität Konstanz. Ab 1972 Professor für Politische Ökonomie, später für Finanzwissenschaft an der Universität Bremen. Von 2001 bis 2009 Gründungsdirektor des Instituts Arbeit und Wirtschaft. Seit seiner Emeritierung Forschungsleiter am IAW.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.