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Strukturwandel und Digitalisierung
Aus früheren Veränderungen in der Arbeitswelt lernen

Der Strukturwandel in der Arbeitswelt löst bei vielen Menschen Besorgnis aus. Doch wie kann man diesen Ängsten begegnen? Arbeits- und Industrie-Soziologie-Experten glauben, in Sachen Digitalisierung und Strukturwandel könnten wir einiges aus der Vergangenheit lernen.

Von Eva-Maria Götz | 11.04.2019
 Kalikumpel im Hungerstreik
Kalikumpel 1993 im Hungerstreik. Die Veränderung der Arbeitswelt bringt berufliche Transformationsprozesse mit sich, die individuell verarbeitet werden müssen (dpa / Picture Alliance / Ralf Hirschberger)
"Man war total überrumpelt. Die Treuhandanstalt hat nicht verstanden, was da in Bischofferode passiert, die Bundesregierung hat es nicht verstanden."
Dr. Christian Rau, Historiker am Institut für Zeitgeschichte Berlin, berichtet von einem Ereignis, mit dem niemand in Politik und Wirtschaft gerechnet hatte: dem Hungerstreik von 41 Kalibergbau-Arbeitern im thüringischen Bischofferode im Jahr 1993:
"Bischofferode war ja Teil einer großen Kaliregion, also Kalibergbau war dort der strukturbestimmende Industriezweig."
Der aufsehenerregende Hungerstreik führte dazu, dass im Bundeskanzleramt und bei der Treuhand noch einmal beraten wurde, zusätzliche Auffanggesellschaften wurden gegründet, Arbeitsplatzgarantien für zwei bis drei Jahre gegeben. Geändert hat es nichts: der Kalibergbau in der Region Bischofferode ist Geschichte:
"Die Menschen im Osten, das sind die, die wirklich Transformation erlebt haben und können und wir im Westen, glaube ich, ahnen nicht einmal, was es bedeutet."
Meint Sabine Pfeiffer, Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt Technik -Arbeit – Gesellschaft an der Universität Nürnberg-Erlangen und Gastgeberin der Tagung.
"Solche Transformationsprozesse können dramatisch sein"
Doch was in vielen Regionen Ostdeutschlands in den 90er-Jahren in verschärfter Form passierte - die völlige Veränderung der Arbeitswelt - haben viele Regionen im Westen ebenfalls hinter sich:
"Da, wo sich Strukturen wandeln, das kann man später in der Arbeitsmarktstatistik lesen, dahinter stehen ja Geschichten von Menschen, die eben doch meistens lokal gebunden sind, die beruflich geprägt sind, für die solche Transformationsprozesse in ihrer Lebensspanne, in ihrer Region, in ihrem familiären Umfeld sehr dramatisch sein können und immer irgendwie verarbeitet werden müssen, individuell, institutionell."
Vom Niedergang der Uhrenindustrie in Schwenningen berichtete Carina Gliese von der Universität Stuttgart am Beispiel der Traditionsfirma Kienzle, die 2014 Insolvenz anmelden musste. Einen ähnlichen Weg ging auch das Familienunternehmen SABA, das einst seine innovativen Fernsehgeräte in alle Welt verkaufte und sich auf dem Weltmarkt gegen die Konkurrenz aus Asien und Amerika doch nicht behaupten konnte, wie Dr. Thomas Schütz, vom historischen Institut der Universität Stuttgart referierte. SABA scheiterte unter anderem daran, dass im Zuge der Globalisierung weltweit Firmen fusionierten, die Werksarbeit in Billiglohnländer verlagert wurde und heimische Produkte nicht mehr konkurrenzfähig waren.
Digitalisierung verändert ganze Berufsfelder
Die Druckindustrie dagegen hat bereits die Erfahrung gemacht, wie die Digitalisierung ein ganzes Berufsfeld verändern kann. Die Anzahl der im Druckerhandwerk Beschäftigten sank von rund 250.000 im Jahr 1970 auf circa 140.000 im Jahr 2018. Nicht nur das Mediennutzungsverhalten verlagerte sich ungunsten von Druckerzeugnissen ins Internet. Das ganze Berufsbild veränderte sich. Waren Drucker und Druckerinnen einst Experten für zunächst Blei-, später Fotosatz, müssen sie sich heute in einem Nischenmarkt als crossmediale Dienstleister im analogen und digitalen Bereich behaupten. Das beinhaltet zukünftig auch den Umgang mit 3D-Druckern.
"Drucker sind schon lange lebenslange Lerner", sagte Anne König, ausgebildete Druckerin und jetzt Professorin für Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften an der Beuth Hochschule Berlin in ihrem Vortrag. Und damit sind sie vielleicht ein Beispiel für die Autoindustrie, der dieser Wandel noch bevorsteht. Zumindest, wenn das aktuelle politische Ziel erreicht werden soll und bis zum Jahr 2030 wirklich 50 Prozent der neuproduzierten Fahrzeuge batteriebetrieben sein werden:
"Unsere Studien haben klar gezeigt, dass die Innovationsstärke der Branche wesentlich davon abhängt, dass das Produktionswissen in den Produktentwicklungsprozess integriert werden kann. Und das setzt eben voraus, dass nicht nur Innovationszentren in Deutschland bleiben, sondern auch relevante Anteile der Produktion in Deutschland erhalten bleibt, damit aus der räumlichen Nähe dieser Integrationsprozess wirklich gelingen kann."
Warnt Dr. Martin Schwarz-Kocher, Industriesoziologe am wirtschaftsberatenden IMU-Institut Stuttgart davor, Produktion und Know-how der Autoindustrie komplett ins billigere Ausland zu verlegen. Die gut ausgebildeten Facharbeiter und -Arbeiterinnen müssten bereits jetzt in den Wandlungsprozess eingebunden und schnellstens qualifiziert werden. Sabine Pfeiffer:
"Wir haben heute natürlich Digitalisierung an allen Arbeitsplätzen und ein Facharbeiter, der bei Daimler in der Montage steht oder Instandhalter ist, der kann auch SPS-Programmierung und der kann cnc-Programmierung und der ist mit dem PPS-System am Arbeitsplatz vertraut. Also das heißt, wir haben ganz viel jetzt schon mit Digitalisierung zu tun. Man kann mit diesen Menschen in die Zukunft gehen."
Und dass dieses Wissen genutzt und ausgebaut wird, sei existenziell für die Zukunft des Industriestandortes Deutschland und für unsere Gesellschaft überhaupt:
"Wenn wir am Ende funktionierende Gesellschaften haben wollen, dann brauchen wir auch nachhaltiges Wirtschaften, brauchen wir auch Unternehmer, die regional Verantwortung übernehmen und nicht nur sagen, die Globalisierung erfordert eben ein Downgrading, was Tarifgebundenheit, was Löhne usw. angeht. Das fällt uns alles irgendwann auf die Füße und dann auch letztlich einer Wirtschaftspolitik wieder auf die Füße",
beschwört die Nürnberger Professorin Sabine Pfeiffer eindringlich.
Unterstützung seitens der Politik wichtig
Wichtig sei neben der Aus-und Weiterbildung und dem Verbleib von Innovationswissen in den Werken eine Politik, die die Wirtschaft selbstbewusst beim Transformationsprozess begleite. Und: man dürfe eben nicht die gleichen Fehler machen, wie man sie in den ostdeutschen Betrieben gemacht habe. Historiker Christian Rau:
"Man kann in Bezug auf Bischofferode, glaube ich, sehr gut lernen, wie wichtig das Thema Kommunikation mit den Betroffenen ist. Die Thüringer Landesregierung hat gedacht, na ja, wenn alles am Boden liegt, kann es ja eigentlich nur besser werden. Und man hat mit den Betroffenen vor Ort relativ lange nicht kommuniziert.
Das erste Mal, dass man mit denen direkt wieder kommuniziert hat, das war 18 Monate nach der Schließung des Kaliwerkes. Und da hat sich schon gezeigt, dass ein sehr großes Misstrauen sich aufgebaut hatte gegenüber der Politik. Und die Landesregierung war da ziemlich geschockt, das hatte sie nicht erwartetet."
Die Beispiele aus dem Schwarzwald oder aus Thüringen zeigen allerdings auch, dass Regionen sich durchaus neu erfinden und Strukturwandel langfristig überleben können:
"In Bischofferode leben heute genau soviele, wie damals im Kaliwerk gearbeitet haben, 2.000 Menschen etwa. Es haben sich viele mittelständische Betriebe, kleine Betriebe angesiedelt, die natürlich bei Weitem nicht diese Dimension an Arbeitsplätzen geschaffen haben, wie wir sie 1989/90 da noch hatten. Das ist ja völlig klar. Aber der Eindruck, wenn man da durchfährt, ist ein recht moderner Standort."