Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Politische Ernüchterung
Wer wann etwas bewegen kann

Der Parteienforscher Franz Walter geht in seinem aktuellen Buch "Rebellen, Propheten und Tabubrecher" der Frage nach, wann ein politischer Funke zündet. Dazu beleuchtet er die Geschichte des 20. Jahrhunderts und insbesondere die Sozialdemokratie.

Von Ulrike Winkelmann | 11.12.2017
    Die Polizei geht im September 2010 mit Wasserwerfen gegen Gegner des Bahnprojekts Stuttgart 21 vor.
    Die Polizei geht im September 2010 mit Wasserwerfen gegen Gegner des Bahnprojekts Stuttgart 21 vor. (picture alliance / dpa / Uwe Anspach)
    Wenige Politikwissenschaftler verfolgen das politische Alltagsgeschehen so lebhaft und können es so thesenfreudig mit historischem Wissen rückkoppeln wie Franz Walter. Sein Aufsatzband rafft manches zusammen, was an anderer Stelle schon erschienen ist, aber er eröffnet auch neue Ausblicke vom Berg des Stoffes, aus dem das 20. Jahrhundert gemacht ist, auf das 21. Jahrhundert.
    Walter sieht nicht nur Systeme am Werk - aber auch nicht nur große Männer. Er fragt nach beidem: nach den Menschen, die etwas Neues bewirkt haben, und danach, unter welchen Umständen ihnen das gelungen ist.
    Franz Walter ist stets auf der Suche nach der sozialen Bewegung. Wann zündet ein politischer Funke? Und: wer lässt ihn zünden?
    Dazu stellt er etwa einen Großredner der Jugendbewegung von 1913 vor, den Pädagogen Gustav Wyneken. Walter erzählt von Eberhard Koebel, einem Jugendführer der Weimarer Republik. Er zieht dann den Bogen hin zur Jugendrevolte der 60er Jahre, zu ihren oft widersprüchlichen Gurus, und schließlich darüber hinaus.
    Trends und Theorien
    Ein Gegensatz tut sich bei sozialen Bewegungen fast immer auf: Einerseits der Anspruch, Herrschaft abzuschütteln - andererseits die Begeisterung für Führungsfiguren, die meist noch nicht einmal demokratisch legitimiert sind, die einfach heller strahlen, bessere Worte finden als die anderen.
    In der Literatur, schreibt Walter, überwiege die Kritik an den pathologischen, unzweifelhaft gefährlichen Zügen von Gesellungsformen, die aus einem Meister und seinen Jüngern bestehen...
    "Andererseits hat man zuletzt weder publizistisch noch wissenschaftlich allzu sehr auf positive Möglichkeiten kleiner Kadergruppen, und geistig homogener Zirkel auch nur geschaut. [...] Die Energie, die in diesen Zirkeln freigesetzt wurde, die Werteverbindlichkeit, [...] haben gerade in besonderen historischen Situationen ungewöhnliche Leistungen hervorgebracht."
    Walter versucht stets, die noch nicht beleuchtete Seite eines politischen Kapitels zu finden, den noch unbedachten Aspekt an den unzähligen gängigen Annahmen hervorzuholen, die den politischen Kosmos gestalten. Sein Hang, kultur- und sozialwissenschaftliche Trends und Traditionen so leichthändig wie unbeirrt zu demontieren, hat Walter unter Kollegen an der Universität Göttingen übrigens nicht unbedingt beliebt gemacht. Er ist kein großer Theoretiker, das Methoden-Kapitel spart er sich stets, und nein, streng verfolgte Gesetzmäßigkeiten und Messgrößen sucht man bei ihm vergebens.
    In wenigen Absätzen räumt Walter mit den liebsten Selbstbildern seines eigenen Milieus auf.
    "Und auch die Zuschreibung 'Intellektueller' hat mittlerweile ihre frühere Aura eingebüßt. Besonders erregt jedenfalls zeigt sich das Publikum nicht mehr, wenn in einer Veranstaltung oder Sendung ein Diskutant als Intellektueller, Querdenker, kritischer Mahner angekündigt wird. Die Pose des 'J’accuse', welche die Intellektuellen in den Zeiten Émile Zolas bevorzugt einnahmen, war irgendwann in den 80er Jahren, spätestens mit der Installation von Internetforen abgenutzt. Im Netz schließlich stieß man Tag für Tag millionenfach auf zornige, chronisch anklagende User."
    ... welche leider im Regelfall auch keine Aufklärer mehr sind.
    Die Experten übernehmen
    Zur Deutung der zusehends komplexer werdenden Problemlagen seien jedoch ohnehin keine rundum belesenen Geisteswissenschaftler mehr gefragt, schreibt Walter in seinem Band "Rebellen, Propheten und Tabubrecher". Es sei eben kein Zufall, dass großer Bürgerprotest in den vergangenen Jahren - ob gegen einen Stuttgarter Tiefbahnhof, Stromtrassen oder Rheinbrücken - vor allem von Ingenieuren, von Technikern, von Chemikern getragen wurde, kurz, von...
    "...Experten, die sich zur Avantgarde des Vetos aufgeschwungen hatten."
    Es sind solche schnellen, blinkenden Assoziationen, die Walter in seinen Aufsätzen selbst herstellt - oder subtil ermöglicht. Sein Kapitel mit den Porträts konservativer Politiker - hier sucht er sich unter anderem Heinrich Brüning und Karl Carstens aus - wäre langweilig, wenn Walter nicht so schriebe, dass sich sofort aktuelle, stets mehr als bloß originelle Querbezüge anbieten. Wer hätte Konrad Adenauer bisher schon unter "Schuldenkönig" verbucht?
    Walter schreibt: Brüning, erfolgloser Reichskanzler bis 1932,
    "... machte keinerlei Hehl daraus, wie sehr er die kommunalpolitischen Granden der Großstädte für ihre bedenkenlose Ausgaben-, ja Schuldenpolitik verachtete, auch hier: Adenauer vorweg, der in Köln besonders fröhlich und sorglos Kredite aufnahm und sie dann in der Krise nicht zurückzahlen konnte."
    Das Kernthema: Die Sozialdemokratie
    Und doch ist im Abschnitt über den demokratischen Sozialismus deutlich, wieviel stärker Walter in seinem, nämlich dem sozialdemokratischen Element schreibt - oder besser: im Zustand der andauernden Verzweiflung eines Sozialdemokraten über den Untergang der Sozialdemokratie. Kein Kapitel macht das deutlicher als das über die ostsächsische Stadt Freital, heute bekannt als ein Hort der Rechtsextremisten. Welch ein Kontrast zur Geschichte der Gegend, schreibt Walter, die einst eine Hochburg der Arbeiterbewegung war. Sie
    "... gehörte zu den fortschrittlichsten Pionierregionen einer hochdifferenzierten Industrieproduktion."
    ...samt Arbeiterchören und Turnerclubs, Wohlfahrt für alleinerziehende Mütter und Kleinrentner, günstigen Mieten, und, "Herzstück" des Freitaler "Kommunalsozialismus": einer guten Gesundheitsversorgung durch verbeamtete Ärzte.
    Selbst der Nationalsozialismus konnte den Sozialdemokraten von Freital nicht den Garaus machen, zeichnet Walter nach - dazu brauchte es im Anschluss die SED. Die Kommunisten hievten statt der überlebenden Sozialdemokraten lieber eben-noch-gewesene Nazis auf die Posten, um sich Gehorsam und Linientreue zu sichern. Nach dem Untergang der DDR hätten selbst die Neugründer der SPD-Ost in Freital "von der imposanten Geschichte der Freitaler SPD nie ein Wort gehört". Als diese neue SPD
    "…. Anfang 1990 ihren ersten Wahlkampfstand in der Stadt aufstellte, wurde sie ausgebuht, als ‚rote Schweine‘ beschimpft."
    Bei den ersten freien Wahlen bekam sie kaum zehn Prozent.
    Franz Walters Aufsätze zu lesen heißt, sich immer schon auf die nächste überraschende Wendung, die nächste Umkehrung einer vertrauten These oder einer umlaufenden Vermutung freuen zu können - und sich gleichzeitig von der Tragik anstecken zu lassen, dass die aufrechten Kämpfer für mehr Freiheit, mehr Gleichheit und mehr Solidarität in den letzten 150 Jahren immer nur so kleine und so kurze Chancen hatten, Politik zu machen.
    Franz Walter: "Rebellen, Propheten und Tabubrecher. Politische Aufbrüche und Ernüchterungen im 20. und 21. Jahrhundert"
    Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, 397 Seiten, 35 Euro.