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Zwischengeschichten
Im Zeitalter von Populismus, Postfaktischem und Politikberatung

Es ist in diesen Tagen besser, keine Reden zu halten, sondern um sie herumzukommen, indem man Geschichten erzählt. Vielleicht Zwischengeschichten, deren Fäden nach außen weisen. Welche neue Erzählform könnte das in Zeiten der Diskussion um das Postfaktische leisten? Vielleicht eine Zwischengeschichte über das Recht?

Von Kathrin Röggla | 05.03.2017
    Die österreichische Autorin Kathrin Röggla
    Die österreichische Autorin Kathrin Röggla (dpa / picture alliance / Peter Roggenthin)
    Am 10. und 11. März 2017 findet im Deutschlandfunk der Kölner Kongress zum "Erzählen in den Medien" statt. Die Essayistin, Hörspiel- und Theaterautorin Kathrin Röggla hält dort den Eröffnungsvortrag, der hier vorab präsentiert wird: "Zwischengeschichten" - Gedanken im Zeitalter von Populismus, Postfaktischem und Politikberatung.
    Die postfaktische Gesellschaft soll es also sein, in der wir jetzt gelandet sind. Das will man glauben oder eben nicht: Es ist in diesen Tagen jedenfalls besser, keine Reden zu halten, sondern um sie herumzukommen, in dem man sich Geschichten erzählt. Ja, die gute alte Fiktion, die für mich gar keine gute alte Fiktion ist, weil sie mir immer verdächtig war, weil sie ein zu leicht verfügbarer Möglichkeitsraum in einer unmöglich gewordenen Gesellschaft darstellt. Und außerdem selbst umgeben ist von 1.000 politischen, wirtschaftlichen, unternehmerischen Fiktionen, die strategisch von PR-Beauftragten und Politikberatern entworfen werden, um politische, wirtschaftliche, unternehmerische Durchschlagskraft zu erzeugen.
    Wie es heißt, um Bewegung in die Sache zu kriegen, um über eine spektakuläre Schlagzeile dem öffentlichen Urteil eine andere Richtung zu verpassen. Wir werden darin jedenfalls permanent eingeübt, diese Fiktionen für bare Münze zu nehmen, auch wenn wir gleichzeitig den Erzählvorgang spüren, die Intentionalität, die in der Narration liegt, allzu klar erkennen. Insofern ist es mit dem Geschichtenerzählen doch nicht so einfach, zumindest, es rauszukriegen aus dem, was man öffentliche Narration nennt.
    Jeder literaturwissenschaftlich begabte Mensch wird mir nun entgegenhalten, dass literarische und gesellschaftliche Fiktionen ohnehin zwei Paar Schuhe sind, anders funktionieren. Eben, weil die gesellschaftlichen immer auf ihre Realitätsmacht aus sind, dazu stets manipulativ. Ihnen wohnt ein instrumenteller Charakter inne, sie dienen der Legitimation von diesem und jenem. Aber diese Trennschärfe hilft uns nicht weiter, denn es ist ein regelrechter Verkehr zwischen dem Realen und dem Fiktiven in Gang gekommen. Und natürlich geht es bei den Realfiktionen und sich selbst realisierenden Fiktionen immer um Realitätsmacht.
    Ja, letztendlich realisieren sich Fiktionen immer auf irgendwelchen Märkten. Es ist die Wahrheit des Ökonomen, die da entsteht. Sie ist insofern an Nachfrage orientiert. Etwas muss als wahr gewollt sein. Und sie ist an Machtfragen entlang aufgespannt. Es macht natürlich etwas aus, wer die Fiktionen entwirft und steuert.
    Vielleicht gehört ja auch selbst die Rede von der postfaktischen Gesellschaft dazu, mit der man sich heute andauernd beschäftigen muss. Wie soll man sich die vorstellen? Als riesigen Verschiebebahnhof der Wahrheit? Als Markthalle der alternativen Fakten, ein neues böses, ganz und gar unfröhliches Anything Goes, weil es von den Mächtigen, den Bullshittern und den narzisstisch Gestörten diktiert wird, in deren Reden sich ohnehin nur die Wahrheit verschiebt, bis die Erde wieder eine Scheibe ist. Oder Donald Trump mit 76 Prozent Falschaussagen Präsident werden kann.
    Vielleicht sind für die Welt des Postfaktischen auch nicht einmal mehr die Myriaden von Politikberatern und PR-Büros notwendig, die ich mir vorstelle, wie sie mit Social Bots und Algorithmen hantierend diese neuen Realitäten bauen, die man irgendwann einmal die "reinste Fiktion" geschimpft hatte, kurze Zeit später schon als "Fingtion" in den "Fictitious Times" bezeichnete und heute nur noch salopp Narrative nennt, als würde in ihnen noch ein Anschein einer Realitätsmöglichkeit stecken. Ja vielleicht, weil sich das so schön nach postmodernem Realitätsbegriff anhört und den dazugehörigen Geruch nach Harmlosigkeit verbreitet.
    Aber es ist eben nicht die Postmoderne, in der wir uns bewegen, zu gezielt und interessengeleitet erscheinen diese neuen Fiktionen. Ihre Dramaturgie erreicht höchstens Twitterlänge und bezieht sich nur ungefähr auf die dahinterliegenden Erzählungen, nur noch zu ahnen, zu brutal ihr Takt, das Kalkül des Bullshittings läuft auf eine zu hohe Frequenz hinaus - eine Politik des Überrumpelns, die zu dem Gefühl passt, permanent von der Wirklichkeit überholt zu werden.
    Es geht um Effekt
    Es ist insofern gar nicht mehr die Kunst des politischen Fingierens, die der Dokumentarfilmemacher Michael Moore in seiner Oskar-Preisrede attackiert hatte - er bezog sich damals auf den Irakkrieg. Heute überrumpelt man die Welt mit ständig neuen Behauptungen, die eigentlich gar nicht mehr verhehlen, dass sie erstunken und erlogen sind. Man hält sich mit Falsifzierungen auch gar nicht auf - es geht nur noch um den Effekt beziehungsweise den Affekt.
    Und insofern kann man heute schon spekulieren, dass die Rede über das Postfaktische sich auch bald erledigt haben wird, denn sie bezieht sich ja noch irgendwie ex negativo auf Fakten, um die es im Zeitalter der Followers eigentlich nicht mehr gehen kann. Die Epoche der Gefolgschaften, der Facebook-Affirmationen und Twitter-Verlautbarungen, denen man sich immer nur anschließen kann. Followers sind bereits immer im Wahren, und sie sind immer hinterher.
    Das alles umgibt die literarische Fiktion und stellt sie infrage. Und während rund um einen Geschichten und Gegengeschichten entworfen werden: Die Geschichte vom Helden, der von Protagonist und Antagonist, von der Intrige, der geheimen Kartellbildung oder von den Dreien, die sich zusammensetzen in Autobahnraststätten und das ganze Land verdealen. Die Geschichte des Betrugs, die von der Verschwörung - der Rechtspopulist unterliegt immer einer Verschwörung, gefälschte Wahlen gibt es plötzlich überall, es sei denn, man gewinnt sie, und selbst dann, solange man nicht 100 Prozent hat, müssen sie gefälscht sein. Die Fabel des Verrats et cetera. Die Konstruktion politischer Narrative hält sich immer noch streng an Shakespeare oder an Macchiavelli, allerdings in geschreddeter, verkürzter Form. Selbst wenn sie durch Social Media und Onlineforen gehen, selbst wenn sie nur noch durch Algorithmen erzeugt werden, über Meinungsroboter.
    Es sind Narrative, die notgedrungen wenig mit den Fiktionen von Ingeborg Bachmann, A. L. Kennedy, Denis Johnson, David Foster Wallace zu tun haben, um einmal höchst disparate Positionen aus meiner eigenen Lesebiografie herauszugreifen, die aber alle etwas eint: Sie haben vermutlich mehr Zwischengeschichten entworfen. Geschichten, die sozusagen noch unterwegs sind und nicht immer schon angekommen, die niemals ganz im sozialen Hier und Jetzt landen können, sondern immer darüber hinausragen, und uns insofern auch Zeit verschaffen, Momente des Aufatmens - denn sie können und wollen nicht in ihrer Zeit aufgehen.
    Zwischengeschichten entwerfen
    Ja, möglicherweise gilt es gerade heute, eine Zwischengeschichte zu entwerfen, eine Maulwurfsgeschichte, die mehrere Ausgänge hat, die vielleicht mehr Fiction ist als Story. Die ein Gängesystem freilegen könnte zu anderen Geschichten hin, vielleicht ein Gängesystem, das dieses unselige identitäre Spiel unterbricht, wie wir es derzeit in allen Medien erleben.
    "Ich als sächsischer Braunkohlegebietsbewohner", "Ich als österreichische Schriftstellerin", "Ich als biodeutscher Hertha-Fan" - ein Spiel, in dem die Identitäten jetzt wieder mehr und mehr in ihre Nationalitäten zurückgepfiffen werden, nachdem sie sich zwei Jahrzehnte lang auf Ausdifferenzierungswiesen tummeln durften. Es muss eine Geschichte zwischen den Stühlen des Dokumentarischen und Fiktiven werden, denn nichts ist heute so sehr verschlungen wie diese beiden Bereiche, eine Geschichte, die mit ihren Kontexten arbeitet. Und eine zwischen dem Mündlichen und dem Schriftlichen, eine Geschichte, die ein Dilemma zeigen könnte, denn das Dilemma ist die interessantere Handlungsverknotung als der Konflikt, vielleicht, weil es näher an der so oft beschworenen Alternativlosigkeit wohnt, die uns quält, und die nur in kriegerischen Konflikten auflösbar scheint.
    Die plötzlich wahrgenommene, harte Selbstwidersprüchlichkeit einer politischen Handlung wirkt auf mich immer noch interessanter als die manipulative Widersprüchlichkeit zwischen antagonistischen Positionen, vielleicht, weil sie innen und außen noch verbindet, etwas, das in der Welt der Bullshitter natürlich anachronistisch anmuten wird, was aber gerade deswegen nicht aufgegeben werden sollte.
    Sind wir wirklich dabei, das Subjekt zu verabschieden, das noch Gewissenskonflikte mit sich herum trägt und Dinge in sich aushandelt? Nicht auszudenken, in welchen Rahmen wir da geraten würden. Diese innere Aushandlung ist doch der letzte aufklärerische Rückzugspunkt, unabdingbar für einen gesellschaftlichen Frieden. Sie sehen, wie diese Fragen nicht von der politische Kartografie unserer Zeit zu lösen sind.
    Immer Fäden, die nach außen reichen
    Klar ist jedenfalls, bei diesen Zwischengeschichten wird es sich um solche handeln, die mir als Autorin niemals ganz zur Verfügung stehen, bis zum Schluss nicht und darüber hinaus, denn es werden sich sicher nur unfertige Geschichten ergeben können, solche, die noch lange nicht mit sich fertig sind, denn sie enthalten immer Fäden, die nach außen reichen. Aussagen wie die von Slavoj Žižek: "Eher können wir uns den Weltuntergang vorstellen als den Untergang des Kapitalismus" müssen in ihnen herumgeistern.
    Ja, es ist gar nicht mehr so einfach mit dem Verhältnis von Fiktion und Realem, etwas ist da in Bewegung gekommen, das auch den Zeitablauf jeder Erzählung, das Verhältnis zur sogenannten Echtzeit miteinschließt. Jene Echtzeit, die angeblich heute immer herrscht, also uns beherrscht und die mit den 22 Sekunden Durchschnittshaltedauer einer Aktie korrespondiert. Die maßgebliche Zeit, die natürlich unbedingt durchkreuzt gehört, weil ihr nichts Reales mehr anhaftet - sie ist mehr Ideologie als gelebte Erscheinung.
    Nicht erkennbare Zwischenfiguren
    Vielleicht brauchen diese Zwischengeschichten auch Zwischenmenschen als Figuren, vielleicht müssen wir Schriftsteller alle ein weinig wie der Filmemacher Jean-Luc-Godard werden, der nie die Figuren filmte, sondern immer nur den Raum zwischen den Figuren.
    Und wären diese Zwischenfiguren möglicherweise wiedererkennbar wie die Heldenfiguren in der Poetik des Aristoteles? Die normalen Figuren, also unsere Alltagsfiguren, sind nämlich nicht wiedererkennbar, weil sie immer schon bekannt sind, wie wir uns auch immer bekannt sein müssen. Wir müssten uns die eigene Wiedererkennbarkeit auch erst wieder mühsam erarbeiten, die den Moment des Erstaunens und der Überraschung mit sich trägt.
    Genau, ich will auf jene Anagnorisis hinaus, die Wiedererkennung, ein literarischer Moment, in dem die Helden wie Odysseus oder Orest plötzlich bei ihrem Namen genannt werden von ihren Ehefrauen, ihren Schwestern, nachdem dies eine Weile nicht geschehen konnte. Etwas, das mir zumindest immer als sehr verrätselt erschienen ist. Ich habe mich stets gefragt: Warum sollen die sie nicht erkennen? Ist Homers Penelope blind, oder Goethes Iphigenie? Ja, von Homer bis Goethe zog sich diese Blindheit und ihre Aufarbeitung. Sie hat sozusagen Jahrhunderte auf dem Buckel. Nur heute ist sie nicht mehr vorstellbar, ich vermute, aus eben genanntem Grund.
    Unser derzeitiges gesellschaftliches Figurenkonzept wirft nur überdeutliche, stets an ihren Alleinstellungsmerkmalen erkennbare Figuren heraus, permanente Marktteilnehmer mit den klaren Konturen von Waren. Sie sind so sehr sie selbst, dass das Prinzip des Wiedererkennens nicht aufgehen kann. Dazu bräuchte es einen Spielraum des zwischenzeitlichen Verborgenseins. Gleichzeitig geht ihnen etwas ab, was absolut wichtig für eine Figur wäre, nämlich Gegenwärtigkeit.
    Die Möglichkeit, hier und jetzt zu sein - und nicht immer schon woanders, wie beispielsweise jene Studentinnen und Studenten, von denen ich an einer amerikanischen Universität hörte: Sie seien nicht in ihrem Handy, nicht an ihrem Tisch und nicht in ihren Gedanken, sondern überall gleichzeitig. Und hätten doch ständig das Gefühl, etwas zu verpassen. Präsenz würde ja auch eine gewisse Konfliktfähigkeit erfordern. Und die ist ja auch nicht mehr da.
    "Wenn zwei sich kloppen, das ist Drama", hat Einar Schleef einmal gesagt, als würde er hineinreichen in das Herz des Theaters. Das ist lange her, heute kann man es vermutlich aus eben genannten Grund abhaken. Wer immer bereits bekannt ist und gleichzeitig nirgendwo da ist, wird sich auch nirgendwo mit anderen kloppen können. Er kann allerdings auch nicht sagen: "Manche Bücher hätte ich wirklich schon früher lesen können." Aber genau das muss ich gleich tun.
    Hätte ich beispielsweise jenes Buch über die "Kulturen der Empathie" des Literatur- und Kulturwissenschaftlers Fritz Breithaupt von der Indiana University Bloomington früher gelesen, dann hätte ich nicht so lange über die Anagnorisis rätseln müssen. Ich hätte die Verbindung von Empathie, Ich und Szene anders verstanden. Ich hätte kapiert, dass es ganz logisch ist, den Helden nicht wiedererkennen zu können. Dass so ein Erkennen eine gewisse Zeitlichkeit braucht, die uns nicht mehr zur Verfügung steht. Dass erst gewisse Konstellationen vorhanden sein müssen, die wir gerade dabei sind zu verlieren. Die Blindheiten der antiken Helden haben sich verschoben, es herrscht jetzt sozusagen permanente Gleitsicht - denn das ist unser Problem - Nähe und Distanz zur selben Zeit.
    Ich erfahre von Breithaupt, dass wir die Szene und die Erzählung brauchen, um Empathie zu entwickeln. Umgekehrt stellen diese Narrationen ständig Empathien her und wieder ab. Das ist nämlich nichts Feststehendes, kein Zustand, der unbewegt bleibt. Aber was passiert, wenn die Narration nur noch rudimentär und instrumentell vorhanden ist, wenn sie sozusagen auf Twittergröße schrumpft? Empathie braucht, fährt Fritz Breithaupt unterdessen fort, nicht nur die Produktion von Ähnlichkeit, sondern auch von Unähnlichkeit, da wir erst verstehen müssen, dass es sich bei anderen Personen um andere Personen handelt, es gibt Grenzen zwischen uns.
    Und gerade deswegen, weil ich den anderen als den anderen erlebe, kann ich überhaupt Empathie empfinden. Würden wir in eins fallen, würde allenfalls Panik entstehen. Empathie ist ein Medium der Übersetzung zwischen mir und dem anderen. Sie erscheint wie eine Form des Gedankenlesens. Es ist in seinem Buch diesbezüglich folgerichtig viel die Rede von Spiegelneuronen und komplizierten imaginativen Prozessen, Irrtümern, Übertreibungen von Ähnlichkeiten beispielsweise, die auch deutlich machen, wie ambivalent Empathie sein kann.
    Doch wenn Empathie Kommunikation als Gemeinschaftskitt ablöst, wie Breithaupt meint, erhalten wir eine ziemlich heikle Angelegenheit. Und es ist kein Wunder, dass sein gerade eben erschienenes Nachfolgebuch "Die dunkle Seite der Empathie" heißt. Dass sich Macht immer narrativ legitimiert, dass Parteinahme mit Empathie verbunden ist, darf man bei all diesen Überlegungen nicht außer Acht lassen.
    Jede Form der Fiktion benötigt mitfühlende Leser
    Unabhängig davon, ist es ja eher wieder so weit, dass wir Kleists Kant-Krise wiederbeleben dürfen. Und bejammern, dass alle Menschen mit unterschiedlichen Brillen auf die Welt blicken und wir uns insofern alle nur missverstehen können. Dass zu vieles zwischen uns steht - und eines vor allem: die Medien. Unsere Medienblasen, in denen wir uns vorwärtsbewegen, die Echoräume des Internets, die uns so gar nicht gut abgrenzen lassen von dem da draußen, treiben tiefe Risse in die Gesellschaft. Unsere Weltinterpretation erscheint narzisstisch rückgekoppelt, ob wir nun Intellektuelle sind oder AfD-Wähler. Man könnte auch unser Anagnorisis-Problem also umdrehen: Wir können einander nicht wiedererkennen, ganz einfach, weil wir viel zu viel beschäftigt mit uns selbst sind. Jede Form der Fiktion benötigt Leser und Leserinnen, die sich mitbewegen wollen, mitfühlen wollen.
    Was machen wir jetzt diesbezüglich mit dem Einar Schleefschen Satz "Wenn zwei sich kloppen, das ist Drama"? Müssen wir damit etwas machen? Aber ja! Der Konflikt ist das handlungsantreibende Moment schlechthin. Der Theaterregisseur und Autor Einar Schleef hat das allerdings in Zeiten formuliert, in denen man meilenweit von Social Bots und den sich eben nicht widerstreitenden Algorithmen entfernt war.
    Vielleicht war es auch damals schon nicht mehr so ganz eingängig, jedenfalls erschien es mir in den letzten 15 Jahren nicht plausibel, weil ich frei nach Richard Sennett, Niklas Luhmann und Konsorten schon aus soziologischer Sicht über ausdifferenzierende Verantwortungsbereiche, Verantwortungsdelegationen und dergleichen die Unmöglichkeit der direkten Austragung eines Konflikts gesehen habe.
    Dieser erschien mir insofern unrealistisch, ja, rein warenförmig. Schon alleine die Konfliktpartner und Kontrahenten waren doch nicht mehr in einer Szene unterzubringen, nicht in der einen Gerichtsverhandlung, nicht in der einen Situation im Geschäftsführungszimmer. Insofern hielt ich seine szenische Nichtaustragung für angemessen. Jetzt, in Zeiten, in denen auch der Ruf nach Konfliktaustragungen wieder stärker wird, weil auch die Konfliktlinien angeblich wieder stärker sichtbar werden, der soziale Frieden mehr und mehr deutlich beendet wird, wendet sich das Blatt.
    Heute, in einer Situation drastischer Veränderung gesellschaftlicher Kontexte, liegt allerdings eher die Vermutung nahe, dass uns provozierte Konflikte beschäftigen werden, Konflikte, die über Konflikten liegen, Deckerzählungen, Ersatzschauplätze oder manipulativ eingesetztes Konfliktmaterial.
    Das Zeitalter des rechtspopulistischen Zündelns ist ja schon länger eröffnet. Blindwütige Ausschlussverfahren und Bedrohungsszenarien dienen dazu, überhaupt so etwas wie Fronten zu produzieren, die auf verworrenen Interessenskonflikten beruhen. Das Prinzip "Teile und herrsche" durchzieht auch taktisch alle gesellschaftlichen Situationen wie ein mechanistischer Vorgang. Es wird diesbezüglich schwieriger werden, echte Konfliktlinien herauszuarbeiten. Es werden sich mehr die vielen sich scheinbar widersprechenden Einzelkonflikte zeigen, die keine Frage mehr zulassen, welcher jetzt der "wahre", der "eigentliche", der "sprechende" wäre, sondern mehr wie eine Tektonik aussehen. Eine, die systemisch aufzulösen wir meilenweit von Bertolt Brecht oder Heiner Müller entfernt sind.
    Der Rechtskonflikt macht Karriere
    Interessanterweise macht derzeit eine Form Karriere: der Rechtskonflikt. Das juristische Paradigma wurde wieder eröffnet, im allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs wie auch im literarischen Feld. Nicht nur bei dem Juristen und Schriftsteller Ferdinand von Schirach streitet man wieder vor Gericht, auch bei Juli Zeh wird er thematisiert. Warum das Juristische so sehr gesucht wird, hängt sicher mit seiner vermeintlichen Verbindlichkeit zusammen. Darüber lässt sich Politik noch erzählen, das ist im vermeintlich postideologischen, postdemokratischen Zeitalter etwas, an dem festzuhalten überhaupt noch möglich ist, eine Art letzter gesellschaftlicher Verbindungskitt, wenn alle anderen entfallen.
    Man kann sich aufs Grundgesetz berufen, wenn es auch sonst keine Utopien gibt. Und es werden darüber gesellschaftliche Riten sichtbar. Da gibt es Verfahren, die den Namen noch verdienen, dazu können implizit durchaus philosophische Fragen gestellt werden, ethische moralische, um das mal nach unten zu deklinieren. Und auch, wenn die Wahrheit niemals darüber ganz hergestellt werden kann, so fungiert sie doch als Bezugsgröße. Hier finden wir noch die Residuen der Aufklärung.
    Wahrheit ist literarisch betrachtet zwar eine ganz anders gelagerte Kategorie, aber es ist interessant, wo da Verbindungslinien bestehen. In der Literatur wird Wahrheit vermutlich weniger grundsätzlich philosophisch zu betrachten sein, sondern mehr pragmatisch, dynamisch, irgendwo aufgeknüpft zwischen den Begriffen der Gerechtigkeit und dem Kohärenten, wie man sehr schön an dem eben erschienenen Gespräch des südafrikanischen Schriftstellers J. M. Coetzee mit der britischen Psychotherapeutin Arabella Kurtz unter dem Titel "Eine gute Geschichte" sehen kann. Während Coetzee sie mehr mit dem Gerechtigkeitsbegriff verbindet, steht für Kurtz Wahrheit mit der Frage nach Heilung in Kontakt. Die Wahrheit einer Sache zu enthüllen, diene für ihn, so Coetzee, immer dazu, eine universelle Gerechtigkeit herzustellen oder aber auch ein besseres Leben führen zu können. Der Gerichtsprozess verbindet beides, Recht ist darin normativ gesetzt, es bildet einen scheinbar feststehenden Rahmen in einer wackelig gewordenen Welt.
    Ich habe mich lange Zeit um diesen Rechtsdiskurs herumgedrückt, weil er so schwierig zu fassen ist. Zu abstrakt, zu unsexy für ein Buch und schon gar für einen Theaterabend. Es sei denn, man möchte wie in dem Drama und TV-Film Terror von Ferdinand von Schirach im Genre landen. Der hohe juristische Abstraktionsgrad wird dann von einer klassischen Protagonisten-Antagonisten-Situation sinnlich aufgewogen, zentriert sich um sich darin ergebende moralische Fragen. Reduziert wird der Prozess auf eine geringe Zahl von Verhandlungen, wenn schon nicht die eine, vermeintlich entscheidende.
    Dass es im realen Gericht des internationalen und nationalen Strafrechts oder gar des öffentlichen Rechts eigentlich um eine Vielzahl daran vorbeigehender Fragen geht, um zahlreiche Akteure, Teilverantwortlichkeiten, Nebenklageverfahren und sehr unterschiedliche juristische Mittel. Dass vieles sich über Jahre hinzieht und eine politische Sichtweise des Gerichts wünschenswert wäre, habe ich selbst erst nach einiger Zeit verstanden, obwohl es mit dem NSU-Prozess eigentlich auf der Hand liegt.
    Man muss vorsichtig mit dem Recht umgehen
    Es hat meinem anfänglichen Zögern recht gegeben. Man muss vorsichtig umgehen mit dem Recht. Es wäre einfach falsch, dieses in einer einzelnen strafprozessartigen Anordnung zuzuspitzen oder gar in einem höchst unwahrscheinlichen Szenario wie bei von Schirach zu platzieren. In seinem Stück wird die klassische wie perfide Frage nach der Aufrechenbarkeit von Menschenleben gestellt, also die berühmte Bundeswehrfrage, die stets auf einem Haufen von tatsächlich stattfindenden Aufrechnungen ruht. Das Stück suggeriert, dass mit dieser Fragestellung das Problem zentral gefasst wird. In Wirklichkeit wiederholt man nur seine mediale Dämonisierung. Es ist eben keine Zwischengeschichte, sondern steckt im gesellschaftlich Narrativen fest.
    Wie könnte also eine Zwischengeschichte, die das Recht thematisiert aussehen, frage ich mich? Vermutlich bedarf es etwas Fragilerem. Handlung im Zeitalter der Angst kann schon mal nur eine Bewegung durch räumliche Konstellationen sein, die zerbrechlich sind. Durch ein permanentes Außen, das das panisch aufrechterhaltene Innen konterkariert und bedroht. In meinem Schreiben waren dafür beispielsweise der Konjunktiv oder Stellvertreterfiguren hilfreich, verschobene Zeitlichkeiten und Referenzen auf abwesende Figuren. Analog zu der Hinterzimmerstruktur politischer Konferenzen, zu den Dolmetsch- und Protokollschichten, die mich bei meiner Recherche zu dem Theaterstück "Die Unvermeidlichen" fasziniert haben, könnte es darin diese "Vier-Augen-Gespräche" zu acht, zu zehnt geben, zum einen, weil Protokollmenschen dabei sein müssen, weil es Dolmetscher braucht und Sicherheitsmenschen, Geisterfiguren, die nicht tatsächlich da sind und doch anwesend. Zum anderen, weil eben nicht alle gleichermaßen sprechen, es sind nicht alle gleichermaßen handlungsbevollmächtigt, wir haben längst begonnen, Unterscheidungen diesbezüglich zu treffen beziehungsweise die Sichtbarkeiten neu einzuteilen.
    Ja, analog zu dem, was sich im Realen in dem heute typischen Staatenkonflikt schlechthin zeigt, den hybriden Kriegssituationen mit unklarer Grenz- und Beteiligungslage, könnten die fiktiven Territorien mit dieser Überlappung arbeiten, die die Frage nach Beteiligung aufwirft. Die Figuren sind nicht nach klaren Aktionsradien einzuteilen. Sie infizieren, affektieren, beeinflussen einander, wer was wirklich macht, ist erst einmal nicht so klar herauszufinden.
    Der Schauplatz der Literatur könnte aber auch umgekehrt ein durch heute üblich gewordene Selbstmanagementprozesse bestimmtes Innen sein, das gleichzeitig riesengroß und riesenklein ist. "Being John Malkovich" - ich erinnere hier kurz an den großartigen Film von Spike Jonze von 1999 - ist heute weniger durch ein Bürohaus mit Zwischengeschoßen darstellbar, sondern vielleicht mehr durch einen abstürzenden Heißluftballon, der die Welt gar nicht draußen zu halten mag, oder einen durchgedrehten Müllschlucker. Denn diese Grenze zwischen dem Außen und dem Innen ist eine aufgelöste, heimtückisch gewordene Linie.
    Ja, von Infektionen und Affektionen wird zu sprechen sein, von Übertragungsraten und Rahmenwechsel, und wenn es gelingt, wird es gar nicht so furchtbar kompliziert sein, wie es jetzt klingen mag, sondern verdammt einleuchtend. Es ist an der Zeit, die Dringlichkeit der Form wieder zu befragen, nachdem man sie als allzu modern verabschiedet hat. So schwer dies theoretisch zu beschreiben ist, so plausibel wird ihre Erscheinung sein. Die Kategorie des Einleuchtenden, Plausiblen, Dringlichen, aus der auch etwas wie die viel beschworene Relevanz folgen kann, wird zumindest mich in der nächsten Zeit beschäftigt halten.
    Ja, Dringlichkeit, Plausibilität, Eindeutigkeit, Deutlichkeit, Relevanz, das sind die magischen Begriffe, die mich mehr und mehr beschäftigen. Und es wird logischerweise die Frage nach der Form sein, die jegliche Überkomplexität mit einem Schlag wegwischen kann. In der einleuchtenden Form kann man jede Menge Konstellationen verstecken, sie schafft den sinnlichen Zusammenhang, der den Prozess des Verstehens weiterträgt und ihn im Sinne Gadamers in statu nascendi belässt.
    Sicher, für den Schreibprozess hilft es erst einmal wenig. Ich weiß jetzt schon, rückblickend wird mir die Rede vom Juristischen als komplizierten Apparat, trocken und mühevoll, weitverzweigt, dann plötzlich unsinnig erscheinen.
    Aber noch stochere ich im Trüben und weiß, ich muss durch diesen Haufen an Komplexität durch, will ich etwas über diese Welt sagen. Das ist die Wegstrecke, der berühmte Marathonlauf, den wir Literaten durchzuführen haben. Der Eingang in einen Stoff verläuft selten nur durch eine Tür. Und wenn doch, verzweigt sich der Gang gleich danach. Und dann sind es die Maulwürfe, die mir begegnen werden und mir vielleicht wie Reiseführer durch das Reich der Zwischengeschichten erscheinen. Dann werde ich mich vermutlich am weitest möglichen Punkt der Reden aufhalten, die man heute zu halten unterlassen sollte.