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Yassin Musharbash: "Jenseits"
Im Kopf eines Islamisten

Ein deutscher Dschihadist kämpft in Syrien für den IS, ringt aber mit dem Plan auszusteigen. Eine kryptische Botschaft an seine Eltern ruft Verfassungsschützer und Journalisten auf den Plan. Die Kerngeschichte ist zwar Fiktion, der Rahmen aber harte Wirklichkeit - und erschreckend aktuell.

Von Gerwald Herter | 13.09.2017
    Buchcover: Yassin Musharbash: "Jenseits"
    In seiner sorgfältig recherchierten Geschichte denkt sich Yassin Musharbash in die Motive seiner Protagonisten hinein - und vermittelt, dass es die einzige Wirklichkeit nicht gibt. (imago / Kiepenheuer und Witsch)
    Diese Geschichte wird kein gutes Ende finden. Der IS-Terrorist im Kalifat, seine Eltern in der deutschen Provinz; in Berlin ein Sozialarbeiter, eine Journalistin und ein Verfassungsschützer: Sie alle hätten sich wohl ein anderes Schicksal gewünscht. Mit seinen Protagonisten meint es Yassin Musharbash zwar gut. Er schreibt sich in jeden einzelnen hinein, zeigt ihre Motive, ihr Bemühen um Gewissenhaftigkeit, also auch ihre Skrupel auf - selbst die des Terroristen Gent Sassenthin. Aber weder scheint Terrorismus, noch scheint die Bekämpfung von Terrorismus ein einfaches, ein Gewinnerthema zu sein.
    Verschiedene Realitäten
    Für Musharbash ist es eine vielschichtige Angelegenheit, die sich je nach Standpunkt ganz unterschiedlich betrachten lässt. Eine einzige Wirklichkeit gibt es dabei nicht - und das ist wohl der Kern dieses Buchs.
    "Bei 'Jenseits' im Besonderen war die Idee zu dokumentieren, dass sich ein Fall aus verschiedenen Realitäten zusammensetzt. Die Realität des Terroristen, seiner Familie, der Sicherheitsbehörden, die Realität der Journalisten, die über diesen Fall berichten. Vier komplett unterschiedliche Realitäten, und die würden sich nicht einig werden können darüber, was eigentlich geschehen ist."
    Und so dauert es auch ein wenig, bis die Handlung Fahrt aufnimmt, bis sich die Welten der unterschiedlichen Hauptfiguren soweit verschränkt haben, dass man ahnt, worauf man sich hier einlässt. Wissen wird man es erst am Schluss. Bis dahin baut sich immer mehr Tempo und damit Spannung auf. Auch wie unterschiedlich die Wirklichkeit der Protagonisten ist, wird erst dann in vollem Umfang deutlich.
    Abgründe und Entwicklungen innerhalb einer Gesellschaft
    Der Plot funktioniert, die Geschichte ist spannend. Musharbash geht es allerdings um mehr und auch das erreicht er.
    "Ich bin kein Krimi-Autor, also: Verbrechen geschieht, Kommissar ermittelt, Fall gelöst, hat diese Dimension nicht, aber der politische Thriller guckt in Abgründe und guckt in Entwicklungen innerhalb einer Gesellschaft. Und das finde ich schon wichtig, das war glaube ich der Grund, warum dieses Format mir so gefällt."
    Die eine Gesellschaft findet sich in Rakka, der syrischen Hauptstadt des sogenannten islamischen Staates, der Wahlheimat des Gent Sassenthin. Bevor er dem Ruf des IS gefolgt war, hatte er in Berlin Medizin studiert und als Rettungssanitäter gearbeitet. Die Islamisten machen sich seine Erfahrungen zunutze. Also ist es in Rakka Gent Sassenthins Aufgabe, Dieben die Hände zu amputieren:
    "Der Bruder war mit dem Urteil fertig und nickte ihm zu. Gent legte den Arm des Mannes auf den Holzblock und band ihn fest. Es gab auf beiden Seiten des Blocks Schlaufen eigens für diesen Zweck. Dann nahm er die Axt in seine rechte Hand, legte die Klinge auf den Strich, den er gezogen hatte, hob den Arm mit der Axt soweit er konnte über seine Schulter nach hinten, kniff die Augen zusammen, fixierte den schwarzen Strich, sammelte all seine Kraft in seinem Oberarm und ließ die Axt niederfahren. Der Mann schrie. Ein Kind schrie. Die Hand fiel auf den Boden und änderte sofort ihre Farbe. Leichenfarbe, dachte Gent."

    Die am Arm des Verurteilten markierte Stelle hatte er zuvor desinfiziert und dem Bestraften reicht er nach der Amputation Schmerztabletten. Obwohl sich gerade hier Abgründe auftun, hat Sassenthin doch nicht alles vergessen, was die andere Gesellschaft prägte - die, in der er aufgewachsen war. Irgendwann schickt er deshalb eine kryptische Botschaft an seine Eltern.
    In Deutschland setzt das eine ganz Reihe von Reaktionen in Gang, ob bei Sassenthins Familie, im Berliner Terrorismusabwehrzentrum, also den dort arbeitenden Behörden oder in der Redaktion des "Globus", wo die Journalistin Merle Schwalb arbeitet und eine ganz große Geschichte wittert.
    "Merle Schwalb lebte gerne alleine. Wenn Sie abends oder nachts oder frühmorgens nach Hause kam, musste sie nie darüber nachdenken, ob jemand anderes schon schlief und sie leise sein musste, oder ob eine andere Person sie gerne in Beschlag nehmen würde, auch falls sie in Gedanken noch ganz woanders war; es waren ihre vier Wände, ihre drei Sorgen, ihre zwei Flaschen Weißwein im Kühlschrank, keine Überraschungen, keine Kompromisse, die man unter großem Einsatz von Energie und Selbstdisziplin vereinbart, aber in Wahrheit nicht ernst nimmt und die einen ab dem zweiten Tag schon unfassbar nerven - das alles brauchte sie nicht in ihrem Leben. Sie hatte keine Angst vor dem Alleinsein. Im Gegenteil. Nur einen Nachteil gab es. Dann nämlich, wenn sie sich vollständig in eine Geschichte verkrallte und irgendwann nicht mehr sicher war, ob sie sich noch normal verhielt. Dann wäre ein Korrektiv ganz nett, dachte sie".
    Fiktion und harte Wirklichkeit
    Auch in dieser, der anderen, der deutschen Gesellschaft spielen der IS, Gent Sassenthin und seine Absicht zurückzukehren, eine wichtige Rolle. Der Verfassungsschützer Sami Mushtar wird Merle Schwalb schließlich nach Jordanien mitnehmen, dort will er sich mit Gent Sassenthin treffen und dann nimmt alles seinen Lauf - so überraschend wie abgründig.
    Musharbash hat seine Geschichte sorgfältig recherchiert. Manches stimmt bis ins kleinste Detail, etwa die Nummer des Besprechungsraums im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum der deutschen Sicherheitsbehörden. Dass ein Verfassungsschützer ohne die Begleitung eines seiner Kollegen ins Ausland reist, wäre allerdings sehr ungewöhnlich. Natürlich weiß Yassin Musharbash das, er hat diese Abweichung ganz bewusst in Kauf genommen, wie manches andere auch: Das Magazin "Globus" gibt es nicht, den "Tagesspiegel" oder "Spiegel-Online" schon. Damit erinnert Musharbash seine Leser daran, dass seine Kerngeschichte zwar Fiktion, der Rahmen aber harte Wirklichkeit ist. Durch die Anschläge von Barcelona war auch der Autor daran erinnert worden. Sein Buch hatte er wenige Woche zuvor fertig gestellt.
    "Das ist gruselig manchmal, also ich hab in dem Buch einen Anschlag in Spanien erfunden, den es nicht gibt, und dann passiert der Anschlag in Barcelona. Das ist ein Zufall und kein Zufall. Das ist kein Zufall, weil ich weiß, dass Spanien im Fadenkreuz des IS steht und weil es genug Leute gibt, die in der Lage sind und bereit sind, einen Anschlag dort auszuüben. Also habe ich das vorempfunden. Der Anschlag hätte auch in London stattfinden können, natürlich. Aber es ist ja auch mein Job als Journalist, mit Wahrscheinlichkeiten umzugehen und zu sagen, was kann der IS, was will der IS? Das beeinflusst dann natürlich auch wiederum, was man schreibt."
    Und deshalb erfahren Musharbashs Leser viel über deutsche Behörden, über Medien und nicht zuletzt über den Islamischen Staat, verpackt in einem wirklich spannenden Polit-Thriller, der erschreckend aktuell ist.