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Königsmorde als Ursprung der Demokratie

Im Zentrum der meisten Gründungsmythen steht ein Gewaltakt, dessen traumatische Wirkung erst die menschliche Ordnung stiftet. In seinem Buch "Politische Ursprungsphantasien" macht Philip Manow deutlich, dass das auch für die Gründungsszene der Demokratie gilt.

Von Leander Scholz | 04.05.2012
    Früher war alles einfacher, zumindest aus heutiger Sicht. Da gab es noch Alternativen. Die Welt war gespalten in West und Ost, in Kapitalismus und Kommunismus, in Demokratien und Diktaturen. Wer prinzipiell unzufrieden war, konnte die Seiten wechseln oder wenigstens davon träumen. Heute ist alles anders.

    Unter den Bedingungen der Globalisierung gleichen sich nicht nur die wirtschaftlichen Strukturen immer mehr an. Es scheint auch keine Alter-native zur liberalen Demokratie westlicher Prägung mehr zu geben. Und obwohl man darin einen großen Erfolg des demokratischen Modells sehen kann, könnte es genau dieser Erfolg sein, der dem demokratischen Modell zur Gefahr wird. Denn ein Modell, das keine Konkurrenz mehr hat, zieht auch die Unzufriedenheit auf sich, die ansonsten durch alternative Modelle absorbiert worden wäre. Haben noch vor gut zwei Jahrzehnten viele Intellektuelle leidenschaftlich über den richtigen oder falschen Kommunismus gestritten, ist jetzt nur noch das demokratische Modell als einziger Gegenstand der kritischen Leidenschaft übrig ge-blieben. So sind gegenwärtige Phänomene wie der rabiate Wutbürger nicht nur tatsächlichen Missständen geschuldet, sondern auch dem bemerkenswerten Umstand, dass das demo-kratische Modell inzwischen alternativlos geworden ist.

    Dieser Umstand verändert auch den wissenschaftlichen Blick auf die Demokratie und ihre Geschichte. Während bislang das demokratische Modell in erster Linie im Hinblick auf seine Rationalität und seine politische Leistungsfähigkeit diskutiert wurde, setzt sich gegenwärtig ein kulturwissenschaftlicher Zugriff durch, der konstitutive kulturelle Bedingungen des demo-kratischen Modells betont. Damit erscheint die liberale Demokratie nicht mehr als ein uni-versales Modell, das sich allen anderen Modellen als weit überlegen erwiesen hat und dessen weltweite Ausbreitung daher erstrebenswert ist, sondern als ein Modell, das aus einer kom-plexen Mischung von rationalen, kulturellen und religiösen Elementen besteht und damit nicht ohne Weiteres für eine weltweite Aneignung geeignet ist.

    So hat der Konstanzer Politikwissenschaftler Philip Manow in seinem 2008 veröffentlichtem Buch mit dem Titel "Im Schatten des Königs" den Erfolg der repräsentativen Demokratie aus der spätmittelalterlichen Vorstellung eines doppelten Königskörpers erklärt. Denn bis in die Neuzeit hinein wurde der politisch gefährliche Übergang von einem König zum nächsten dadurch bewerkstelligt, dass der verstorbene König zwei mal bestattet wurde, einmal nämlich als natürlicher Körper und einmal als politisch-theologischer Körper. Indem man den toten König mittels eines Wachsbildes verdoppelte, sollte die Königswürde von einem Träger zum nächsten weitergegeben werden.

    So konnte der jeweilige König sterben, ohne dass die Institution der Monarchie damit in Ge-fahr geriet, bis ein Nachfolger den Thron bestiegen hatte. Diese theologische Verdoppelung sieht Manow auch noch in der aktuellen Vorstellung am Werk, dass das Parlament nicht nur aus gewählten Volksvertretern bestehen, sondern dass die Zusammensetzung der Parla-mentarier auch der Zusammensetzung des Volkes entsprechen soll. So homogen oder heterogen wie das Volk ist, soll auch das Parlament sein. Nach dieser Vorstellung reicht es nicht aus, möglichst kompetente Stellvertreter zu wählen, sondern die Stellvertreter sollen den Wählern ähnlich sein und gerade keine Experten, mit denen sich die Wähler nicht identifizieren können. Wie in der Neuzeit der Königskörper verdoppelt wurde, um seine Ewigkeit zu garantieren, verdoppelt das Parlament den Volkskörper, um ihn als unsterblichen Souverän der Demokratie auszuweisen.

    Im Unterschied zur früheren Untersuchungen zur Geschichte der Demokratie, die sich vor allem mit deren Durchsetzung beschäftigt haben, werden hier die besonderen kulturellen Voraussetzungen eines politischen Modells hervorgehoben, von dem wir uns angewöhnt haben, es als universal zu betrachten. In seinem neuen Buch mit dem Titel "Politische Ur-sprungsphantasien. In "Der Leviathan und sein Erbe" rückt Philip Manow politische Ereig-nisse in den Vordergrund, die möglicherweise stärker zur Prägung unserer demokratischen Ideale beigetragen haben als bislang angenommen. In der Regel assoziieren wir die Durch-setzung der demokratischen Ideale mit den politischen Revolutionen des 17. und 18. Jahr-hunderts, in deren Folge an die Stelle von Monarchien nationale Parlamente traten, die den Volkswillen zu repräsentieren hatten.

    Absolutistische Willkür sollte durch einen rationalen Modus der Entscheidungsfindung ersetzt werden. Als Urszene der modernen Demokratie hat sich die Französische Revolution tief ins kollektive Gedächtnis eingegraben. Mit ihr verbinden wir die Ideale von Freiheit und Gleich-heit, die den Zusammenhalt der demokratischen Gemeinschaft gewährleisten sollen. Der Schock aber, den die Hinrichtung von Karl I. während der Englischen Revolution oder von Ludwig XVI. während der Französischen Revolution auslöste, ist weitgehend vergessen.

    Diesen historischen Umstand nimmt Manow zum Anlass, um eine inzwischen verdrängte Urszene zu rekonstruieren, in der sich das demokratische Ideal aus der Versammlung um den getöteten Monarchen ergibt. Das kulturwissenschaftliche Instrumentarium dazu liefert die Theorie der Urhorde von Sigmund Freud, der davon ausgegangen war, dass am Anfang der sozialen Entwicklung ein mächtiger Urvater über alle anderen wie ein eifersüchtiger Despot geherrscht hat. Um dessen Tyrannei zu beenden, bildete sich eine Gruppe von Gleichgesinnten, die den Urvater erschlug und aus der die Bruderhorde mit ihrem Ideal der Gleichheit hervorging. Damit die Bruderhorde nicht wieder zur Tyrannei zurückkehren konnte, wurde der Mord am Urvater zu einer bindenden Erinnerung und Ermahnung an alle.

    Auch wenn man sicherlich darüber streiten kann, inwieweit dieser Ursprungsphantasie eine historische Dimension zukommt, so korrigiert sie doch die weit verbreitete Vorstellung, dass sich die menschliche Kultur einer Zähmung von gewaltsamen Zuständen zu verdanken hat. Im Gegenteil, im Zentrum der meisten Gründungsmythen steht ein Gewaltakt, dessen traumatische Wirkung erst die menschliche Ordnung stiftet. Dass das auch für die Gründungsszene der Demokratie gilt, macht Manow deutlich, indem er die Königsmorde nicht bloß im Hinblick auf die Vorgeschichte des demokratischen Ideals betrachtet, sondern als eine äußerst wirkmächtige Bedingung für die Versammlung einer Gemeinschaft der Gleichgesinnten ansieht.

    So lässt sich der Losung von der Brüderlichkeit noch eine ganz andere Dimension ablesen, die weit über unser Verständnis von Solidarität hinausgeht und auf einen heute sorgsam verdrängten Zusammenhang von Kultur und Gewalt verweist, den sich das demokratische Ideal zu überwinden vorgenommen hatte. Wenn aber die Versammlung um den toten Königskörper ein entscheidendes Element der demokratischen Gemeinschaft ist, bedeutet das umgekehrt, dass der Absolutismus nicht nur zur äußerlichen Vorgeschichte der Demokratie gehört, sondern von dieser aufbewahrt wird.


    Literaturhinweis:
    Philip Manow: "Politische Ursprungsphantasien. Der Leviathan und sein Erbe",
    Konstanz University Press, Konstanz 2011, 243 S., 24,90 Euro