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Kohlfahrt
Norddeutsche Geselligkeit mit Kassler und Pinkel

Sie sind eine norddeutsche Spezialität: Kohlfahrten. Ab dem ersten Frost bis in den März ziehen in Niedersachsen und Bremen Menschen mit Bollerwagen, Schnaps und Spielutensilien über die Felder, um schließlich in einem Gasthof Grünkohl mit Kassler und Pinkel zu verzehren. Hennig Hübert hat an einer Familienkohlfahrt rund um das Dorf Stenum teilgenommen.

Von Henning Hübert | 23.03.2014
    Männer ziehen einen Bollerwagen über einen Feldweg.
    Mit vollgepacktem Bollerwagen durch die norddeutschen Felder. (dpa - Andreas Heimann)
    "Für die zehn Personen Grünkohl satt bitte!" Jede Kohlfahrt hat ein Ziel: die große dampfende Schüssel mit dem grün-braunen Wintergemüse, angereichert mit jeder Menge Wurst und Fleisch. Der Koch Markus Lamprecht rührt im Traditionslokal Backenköhler in Stenum alle zehn Minuten den großen Bottich mit Grünkohl um.
    "Das ist ein Oldenburger Gemüse. Das muss seinen Frost haben wegen der Süße, ist klar. Grob gehackt, vorblanchiert. Und dann wird der angesetzt mit Schmalz, Zwiebeln, Wurstresten, da kommen Pinkelstücke rein wegen dem Fett. Senf, Piment, Salz, Pfeffer und dann ist es Geschmackssache. Kommt zum Schluss die Grütze rein, eine Stunde, einmal kochen lassen, das war es. Ich mach den gerne ein bisschen herzhafter, Kollegen beschweren sich immer, ich mach den zu fett. Aber ich bin der Meinung, das ist Geschmackssache zum Schluss."
    Bevor wir in dem mehr als 100 Jahre alten Gasthof bedient werden, haben wir eine lange Wanderung vor uns.
    Familienkohlfahrt mit Kindern
    "Also, ich begrüße euch alle zur heutigen Familienkohlfahrt mit Kindern! Wir werden jetzt einen schönen Marsch machen, quer durch Feld und Wiese."
    Eine Wanderung rund um das Dorf Stenum in der Gemeinde Ganderkesee, gelegen zwischen Bremen und Oldenburg. Wir sammeln uns am Rand des Naturparks Wildeshauser Geest. Leicht hügelig ist es hier, mal geht es durch Eichenwald, mal über offenes Land an Windrädern vorbei. Eine Kohlfahrt, das ist eine Gruppenwanderung, gerne mit leichter Verkleidung, der Bollerwagen immer vorneweg. Der ist vollgepackt mit Getränken und Spielen. Bei uns teilen sich drei Familien in zwei Mannschaften auf.
    "So, bevor wir losgehen, kriegt jeder ein Brezel in einer bestimmten Farbe."
    "Ich hab keinen Hunger."
    "Ne, die müsst ihr auch nicht essen."
    Die Organisatorin, Kirsten Biermann, legt jedem ein rotes oder ein blaues Band mit Brezel um den Hals.
    "Die Brezel zeigt erst mal, in welchem Team ihr seid. So, und jedes Kind darf sich gerne einen Erwachsenen aussuchen, mit dem es gerne in einem Team sein möchte. So dann sind wir Team blau, ihr seid Team rot. Goti, und Jasper ist auch Team rot, wollt ihr zusammen? Ok, sehr gut."
    Mit dem Bollerwagen durch die Wildeshauser Geest
    Am Anfang wird Strecke gemacht. Die Kinder wechseln sich ab mit dem Bollerwagenziehen. Auf malerische Alleen rollen wir vorbei an backsteinernen Reetdach-Häusern mit stets akkurat gepflegten Gärten. Wir haben Glück mit dem Wetter: Die Sonne lacht und es ist frühlingshaft warm. Die Wildeshauser Geest ist der größte Naturpark Niedersachsens. Es gibt Moor und Sanddünen, aber auch idyllische Flusstäler durchziehen ihn.
    "Diese Landschaft hier ist anders als die Marsch. Nicht so flach, hat so kleine liebliche Hügel. Und das sind die Ausläufer der Eiszeit. Über die Wesermarsch sind die Eisschollen noch rüber geschoben, haben alles platt gemacht. Und hier haben wir schon die ersten Überbleibsel an Geröll, was hier liegen geblieben ist. Deshalb hier diese liebliche Dünung am Rand der Wildeshauser Geest, so heißt diese Region hier. Ganderkesee, Delmenhorst. Nach Westen geht es dann nach Oldenburg und eben Wildeshausen."
    Pausen mit Spiel und Schnaps
    An einer Wegkreuzung stoppt Karsten Dähnhart. Alle spielen jetzt mit beim Teebeutel-Weitwurf.
    "Jeder einzelne Beutel wird vermessen. Der weiteste Beutel bekommt zehn Punkte, weil wir zehn Leute sind. Der Zweitweiteste neun Punkte usw. Die Gruppe mit den meisten Punkten hat das Spiel gewonnen."
    "So. Hinter die Linie!"
    Der Faden kommt in den Mund, die Hände müssen auf den Rücken. Dann: Schwung holen aus dem Stand. Die leichten Teebeutel baumeln hin und her. Wenn sie trocken statt nass sind, ist diese Disziplin besonders schwer, gerade bei Gegenwind.
    "Lachen, Team blau hat genau einen Zentimeter geschafft."
    "Komm los, Papa!"
    "Übergetreten!"
    "Quatsch! Wir sind nicht so!"
    "Ein Punkt für rot! Bitte sammelt die Teebeutel wieder ein!"
    Bevor der Bollerwagen wieder anrollt, wird getrunken.
    "Also wir haben Fränkische Pflaume, Kleinen Waldi, den Sahnetraum, wer ist für Teufelszeug. Kinder Cola, Fanta?"
    "Wer möchte alles Cola?"
    "Ich will auch Cola. 2:41 Und prost! Ausgetrunken!"
    Kohlfahrt als Reaktion der Arbeiter
    Für die Organisatorin Kirsten Biermann ist es schon die vierte, - damit aber auch letzte Kohlfahrt dieser Saison. Vorher war sie schon mit Arbeitskolleginnen unterwegs. Entstanden sind die Kohlfahrten im Oldenburger Land Ende des 19. Jahrhunderts - als Reaktion der Arbeiter auf die Versammlungsbeschränkungen durch die Bismarckschen Sozialistengesetze. Die stundenlangen Wanderungen an der kalten, frischen Luft sind aus Norddeutschland bis heute nicht wegzudenken. Kirsten Biermann hat auf der Kohlfahrt mit ihren Arbeitskolleginnen zum Beispiel auch gebosselt. Da werden dann abwechselnd zwei Kugeln den Weg entlang um die Wette geschleudert. Immer wieder kommen neue Spiele hinzu.
    "Das Prinzip ist einfach oft ein sportlicher Wettkampf. Sehr häufig hat es auch so einen leicht obszönen Charakter. Das haben wir heute natürlich ausgelassen bei unserer Familienkohlfahrt. Es geht da zum Beispiel um Spaghetti in Makkaroni stecken. Oder zwischen den Beinen einen Stift baumeln haben und den in einen Glas-Flaschenhals hinein zu bugsieren. Solche Spiele haben wir heute bewusst nicht genommen."
    Beim nächsten Stopp geht es um Reaktionsschnelligkeit.
    "Schneid ihn an, Jasper."
    Eine Walnuss kullert durch ein schräges Rohr Richtung Boden und rollt weiter über den Weg. Jetzt muss man die Nuss mit einem Hammer treffen und zerdeppern.
    "Punkt für Team rot."
    Es werden außerdem noch Streichhölzer durch einen Strohhalm gepustet, Chipsdosen zwischen den Knien so gedrückt, dass die Deckel möglichst weit wegfliegen. Und Kekse gekaut, um danach - was fast unmöglich ist - mit trocknem Mund zu pfeifen. So vergehen drei Stunden an der frischen Luft wie im Flug. Auch der Jüngste in der Gruppe, der fünfjährige Friedrich, hat durchgehalten:
    "Weil, wenn man Spiele macht, ist das auch gut. Wenn man wandert, zum Beispiel eine Kohlfahrt, und nur geht, dann wird einem langweilig, echt, dann wird einem einfach langweilig."
    Je näher wir zum Restaurant im Dorf Stenum kommen, desto häufiger treffen wir andere Kohlfahrten. Hinter einer Gruppe junger Frauen naht ein Bollerwagen mit Männern, jeder Wanderer hat eine Pilsflasche in der Hand.
    "Wir arbeiten zusammen, sind eine Firma. Wir wollen tatsächlich nur Spaß haben. Ist die Zweite dieses Jahr. Wir hatten die Erste schon, und da war das so gut, da haben wir gesagt, he, wir müssen die zweite organisieren, haben wir die zweite organisiert, und ja alle acht, die wir sind, haben Durst. Wir haben kein Motto, wir treffen uns und es hat gepasst.
    "Und heute Abend wird gegessen und getanzt, oder nur getanzt?"
    "Gegessen und getanzt und getrunken."
    "Kohl, Kassler, Kochwurst, Pinkel, Bauchspeck und ein bisschen Senf auch."
    Oldenburger Pinkel und anschließend Tanz
    An diesem Abend kocht Markus Lamprecht noch mal für insgesamt 600 Personen Grünkohl mit Pinkel. Diese heiße Knackwurst wird auf Platten in mehrere Säle des Restaurants getragen:
    "Hier im Oldenburger Land, hier gibt es die Fleischpinkel. Und im Bremer Land gibt es ja die Grütz-Pinkel. Die Grütz-Pinkel ist in Bremen wesentlich fettiger."
    So sehr, dass die Wurst, an der Spitze angepiekt, eben lospinkelt.
    "Schmeckt, bin ich der Meinung, ein bisschen intensiver. Die Oldenburger, da ist der Fleischanteil etwas höher, gröber. Reines Schweinefleisch, das ganze Kohlessen ist eine Schweinerei. Ich glaube, so eine halbe Kelle, dann ist man schon satt. Man isst ja noch Salzkartoffeln, Bratkartoffeln. Da geht gar nicht so viel. Also so ein Teller, danach ist meistens Schluss. Ist echt schweres Essen. Im Sommer sollte man das nicht essen."
    Bis zu 90 Kohlfahrt-Gruppen bekocht Markus Lamprecht an einem Abend. Schätzungsweise 8.000 Portionen hat er zwischen Oktober und März aus seinem Bottich geschöpft. Ein Kessel, der speziell beschichtet ist und auch an der Seite wärmt, sodass nichts anbrennt. Jetzt, im März aber, sind die Vorräte erschöpft.
    "Kohlfahrt kenn ich ja gar nicht. Ich mach ja seit Jahren schon keine Kohlfahrt mehr außer im Freundeskreis einmal, aber da ist die Saison vorbei, da wird das schon wieder warm draußen. Dieses Essen ausgeben und währenddessen find ich echt spannend, bringt Spaß. Kollegen veralbern. Bin eigentlich traurig, dass es zu Ende ist."
    Die Familien gehen satt nach Hause, noch bevor es in den Sälen des Stenumer Restaurants laut wird. Hunderte Männer und Frauen tanzen bis Mitternacht. Irgendwie müssen die Wanderer die Kalorien ja wieder loswerden.