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Kohlmeisen-Evolution
Füttern macht die Schnäbel länger

Schon Charles Darwin war fasziniert von den charakteristischen Unterschieden im Erscheinungsbild von Singvögeln - wie etwa die Schnäbel. Das Wissenschaftsmagazin "Science" berichtet nun darüber, wie sich die Schnäbel von Kohlmeisen evolutiv verändern - nämlich durch fütternde Vogelfreunde.

Von Michael Gessat | 20.10.2017
    Eine Kohlmeise steuert am im letzten direkten Sonnenlicht des Tages einen Meisenknödel an.
    Eine Kohlmeise fliegt einen Meisenknödel an: Gutes Füttern durch Vogelfreunde hat mancherorts ihre Schnäbel verlängert. (dpa / Heiko Lossie)
    Als es mit ihrem Forschungsprojekt losging, da habe sich das angefühlt, als betrete sie einen Laden voller leckerer Süßigkeiten, erinnert sich Mirte Bosse vom Institut für Ökologie der Niederlande in Wageningen:
    "Hier am Institut gibt es Langzeitstudien über Kohlmeisen in den Gebieten Veluwe und Oosterhout, die schon über 50 Jahre zurückreichen – das Gleiche bei unseren Kollegen in England. Die haben Aufzeichnungen über die Meisenpopulation im Wald von Whytam: Daten zum Erscheinungsbild, zum Verhalten und zu Umweltveränderungen, ebenfalls seit über 50 Jahren. Außerdem war gerade das Genom der Kohlmeisen sequenziert worden. Und es gab sogar schon diese Snip-Chips; Biochips, mit denen man einfach per Blutprobe die genetische Ausstattung von individuellen Vögeln analysieren kann."
    Die Untersuchung von insgesamt rund 3.000 Kohlmeisen in den drei getrennten Biotopen ergab zunächst ein überraschendes Zwischenresultat: Selbst zwischen den weit voneinander entfernt lebenden Vögeln in Holland und England zeigten sich kaum nennenswerte genetische Unterschiede – mit einer Ausnahme:
    "Das Lustige an unserer Studie ist - wir haben wirklich zunächst nur auf die Unterschiede in der DNA zwischen England und den Niederlanden geschaut. Und nur, weil die dabei signifikant abweichenden Gene für die Schnabelform verantwortlich sind, haben wir dann die Schnäbel der Kohlmeisen angeschaut. Wir wussten vorher überhaupt nicht, dass es da Größen- oder Längenunterschiede gibt. Aber nach dem Hinweis aus dem Erbgut heraus haben wir angefangen, zu messen."
    Längere Schnäbel in England
    Die erste Erkenntnis dabei: Die Schnäbel der britischen Kohlmeisen waren im Schnitt länger als die der Artgenossen in den beiden niederländischen Populationen. Und die zweite Erkenntnis, gewonnen aus den historischen Daten: Die Schnabellänge der Vögel in den englischen Whytam Woods hatte in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich zugenommen.
    Die Schlussfolgerung: Anscheinend gibt es irgendeinen Unterschied in den Lebensbedingungen zwischen den Meisen in England und in Holland, der für diese Auseinanderentwicklung der Vögel verantwortlich ist. Und dieser Faktor ist der Mensch, genauer gesagt, der britische Vogelfreund.
    "In England gibt es eine lange Tradition beim Vogelfüttern, die Briten haben damit früher angefangen als der Rest Europas. Die Engländer geben auch mehr für Vogelfutter aus als der Rest Europas zusammen. Es gibt da also einen klaren Unterschied, wie oft und seit wann die Meisen gefüttert worden sind."
    Meisen füttern macht ihre Schnäbel länger
    Meisen füttern macht ihre Schnäbel länger – das ist nicht bloß eine plausible Spekulation. Mirte Bosse und ihre Kollegen konnten den Zusammenhang sogar nachweisen. Englische Ornithologen hatten nämlich für eine ganz andere Studie Experimente durchgeführt und protokolliert, wie oft Kohlmeisen Futterstellen anfliegen.
    Nun stellte sich heraus: Die eifrigsten Gäste an den Futterstellen hatten die auffällige Genveränderung, hatten längere Schnäbel und hatten einen besseren Fortpflanzungserfolg. Ein schönes Beispiel für Mikro-Evolution – mit einem kleinen, großen Haken: Mirte Bosse und ihre Kollegen haben noch keine Ahnung, warum genau ein längerer Schnabel in England vorteilhaft ist:
    "Ob die Kohlmeisen da besser an die Körner herankommen, oder ob sie die besser zu einem sicheren Ort transportieren können – das müssen wir noch herausfinden."
    Das Kontrollexperiment wird schwierig. Es könnte ja auch sein, dass das durchschnittliche britische Vogelfutter nahrhafter ist als das holländische. Mirte Bosse und ihre Kollegen sind jedenfalls fest entschlossen, die Ursachen der evolutionären Entwicklung von Kohlmeisen zu klären.

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