Donnerstag, 28. März 2024

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Kolja Mensing: "Fels"
Die dunklen Seiten der Liebe

Beiläufig erzählte die Großmutter des Schriftstellers Kolja Mensing ihm von Albert Fels; einem Juden, der im Haus der Familie lebte und Anfang des Zweiten Weltkriegs verschwand. Die Großmutter dazu: "Man weiß ja, was damals passiert ist". Mensing wollte es genau wissen. Und begab sich auf Spurensuche.

Kolja Mensing im Gespräch mit Dina Netz | 11.12.2018
    Ein heimgekehrter Kriegsgefangener strahlt als er am Hauptbahnhof in Hamburg am 22.09.1949 von seiner Frau abgeholt wird.
    Für "Fels" recherchierte Kolja Mensing eine "dunkle Kammer" seiner Familiengeschichte. Im Bild: Ein heimgekehrter Kriegsgefangener wird 1949 in Hamburg am Bahnhof von seiner Frau abgeholt (dpa)
    Dina Netz: Die Verlobungsgeschichte seiner Großeltern hat Kolja Mensing immer wieder gehört – sie ist geradezu ein romantischer Topos in seiner Familie. Darin kommen eine Flasche Eierlikör, zwei Zahnputzbecher, eine Armbanduhr und ein genau verabredetes Ritual über eine räumliche Trennung hinweg vor. Und wie diese romantische Verlobung gibt es viele Anekdoten, die seine Großmutter immer wieder erzählte. Eines Tages bleibt Kolja Mensing jedoch an einem Namen hängen: an dem Namen Albert Fels. Der Jude Albert Fels lebte im Haus des Onkels der Großmutter und verschwand plötzlich. "Man weiß ja, was damals passiert ist", kommentiert die Großmutter bloß. Weiß man das wirklich? Kolja Mensing jedenfalls wollte es genauer wissen und hat über seine Recherchen ein Buch geschrieben, das schlicht "Fels" heißt. Kolja Mensing, Literaturredakteur bei der "Lesart" von Deutschlandfunk Kultur: Was hat Sie an dieser beiläufigen Erwähnung von Albert Fels so gepackt, dass Sie seiner Geschichte nachgegangen sind?
    Buchcover: Kolja Mensing: „Fels“
    Buchcover: Kolja Mensing: „Fels“ (Buchcover: Verbrecher Verlag, Foto: Nane Diehl)
    Kolja Mensing: Auf jeden Fall der zeitliche Rahmen. Meine Großmutter hat mir erzählt, dass dieser jüdische Mann, der im Haus ihres Onkels wohnte, also nebenan, dass er Anfang des Krieges aus dem Dorf verschwunden sei. Sie hat mir auch erzählt, wie das damals passiert ist: Dieser Albert Fels war ein schwerer Trinker, und meine Großmutter erzählte mir, dass er sich wieder einmal viel zu sehr betrunken habe und ins Delirium gefallen sei, und dann eben - so sagte sie - Anfang des Krieges, Anfang der 40er-Jahre in eine sogenannte Landesheil- und Pflegeanstalt in der Stadt Osnabrück eingeliefert worden sei. Und, sagte sie: "Dann weiß man ja, was passiert ist." Und was in dieser Bemerkung für ein Hallraum aufgeht, ist ja klar. Man denkt natürlich sofort an die Euthanasie, an dieses Programm der Nationalsozialisten, der Versuch, psychisch kranke Menschen umzubringen, zu ermorden.
    Das war tatsächlich Anfang der 40er-Jahre, und jüdische Patienten waren die ersten, die diesem Euthanasie-Programm zum Opfer gefallen sind. Das hat mich natürlich gereizt, also der Widerspruch, der in dieser einfach nebenher gesagten Bemerkung liegt: "Man weiß ja, was passiert ist." Gleichzeitig weiß man es natürlich überhaupt nicht genau. Das hat mich gereizt. Ich wollte also mehr rausfinden über diesen Albert Fels, über den meine Großmutter mir ein bisschen was erzählen konnte, aber so richtig viel eben auch nicht.
    Welche Rolle spielte Albert Fels für die Familie?
    Netz: "Man weiß ja, was damals passiert ist." Dieser Satz hat Sie selbst also sehr gereizt. Aber warum hat eigentlich aus Ihrer Familie damals niemand nachgefragt? Denn das Leben von Albert Fels war ja immer sehr eng mit dem Ihrer Familie verbunden gewesen. Warum ließ man ihn so einfach verschwinden?
    Mensing: Das musste ich natürlich erst mal rausfinden, wie eng der mit unserer Familie eigentlich verbandelt war. Meine Großmutter hatte mir erzählt, dass Albert Fels als Knecht für ihren Onkel und auch schon für ihren Großvater gearbeitet hatte. Und sie hat auch beschrieben, unter welchem Umständen er da im Haus nebenan gelebt hat. Er hat nämlich in einer Kammer auf der Diele geschlafen, also da, wo auch die Tiere untergebracht sind, so waren tatsächlich Knechte und Mägde früher untergebracht. Und das erste, was ich herausfand, war, dass er vielleicht wie ein Knecht da gelebt hat, dass er aber auf gar keinen Fall ein Knecht war, sondern ganz im Gegenteil eine ganz wichtige Rolle in diesem Familienunternehmen gespielt hat.
    Albert Fels ist 1870 geboren, er ist Ende des 19. Jahrhunderts in das Dorf meiner Großmutter gekommen und hat dort ein kleines Unternehmen übernommen von einem jüdischen Händler, Viehhändler und Schlachter, hat dort also selbst ein Unternehmen gegründet und hat in dieses Unternehmen hinein den Großvater meiner Großmutter hineingeholt. Das heißt, die beiden haben dieses Unternehmen gemeinsam gegründet, der Fels war eigentlich Unternehmer. Und er ist durch Schicksalsschläge – durch eine Scheidung, die ihn viel Geld gekostet hat, – aus diesem Unternehmen rausgeflogen und hat sich dann anstellen lassen. Der war also bei dem Großvater meiner Großmutter angestellt und später auch bei ihrem Onkel. Er ist aber - und das stimmt, was meine Großmutter mir erzählt hat - dort offenbar wie ein Knecht behandelt worden, was auch damit zu tun hat, dass er Jude war.
    Ein Opfer des Dorfes
    Netz: Wenn man das nun alles weiß, was Sie über Albert Fels herausgefunden haben, fragt man sich umso mehr: Warum hat damals niemand nachgefragt? Er war Jude, deshalb hat es niemanden interessiert?
    Mensing: Die Geschichte, die ich am Ende herausgefunden habe, werde ich Ihnen nicht verraten, weil das wirklich erst auf den letzten Seiten des Buches genau geklärt wird. Aber Albert Fels ist unter Umständen ums Leben gekommen, die nichts mit dem Euthanasie-Programm zu tun haben und die tatsächlich auch nichts mit dem zu tun haben, was wir im engeren Sinne unter Holocaust oder Schoah verstehen. Er ist nicht in einem Konzentrationslager gestorben, er ist auch eben kein Opfer der Euthanasie geworden.
    Was wirklich passiert ist, hat mir meine Großmutter auch nie richtig erzählt, das habe ich ganz am Ende erst rausgefunden. Aber klar ist, dass Albert Fels ein Opfer dieses Dorfes ist. Und natürlich hatte in den 40er-Jahren erst mal überhaupt niemand Interesse, darüber zu sprechen, wie ein Jude in einem Dorf ums Leben kommt und was mit ihm passiert ist. Und nach dem Krieg ist die Antwort ganz einfach, da hatten die Leute ein schlechtes Gewissen oder sie hatten Angst, dass sie möglicherweise im Nachhinein noch zur Verantwortung gezogen werden. Darum hat nie jemand darüber gesprochen und darum ist eine andere Geschichte entstanden, die eben besser funktioniert. Man weiß ja, was passiert ist.
    Netz: Niemand hat über ihn gesprochen - welche Quellen haben Sie, Herr Mensing, nach so langer Zeit und einem Weltkrieg überhaupt noch zur Verfügung gehabt, um etwas über Albert Fels herauszufinden?
    Mensing: Das fand ich wirklich ganz, ganz spannend, dass man über das Leben der jüdischen Bevölkerung auf dem Lande im 19. Jahrhundert tatsächlich einiges herausfinden kann. Das hat mit einer verwaltungstechnischen Geschichte zu tun. Es war so, dass im 19. Jahrhundert Steuern eingetrieben wurden durch die deutschen Staaten von jüdischen Einwohnern. Aus diesen Steuern wurden die Landesrabbiner bezahlt. Und diese Steuerlisten gibt es noch. Und das war wirklich total spannend, man konnte einfach sehen, in welchen Verhältnissen dieser Albert Fels aufgewachsen ist, nämlich in sehr, sehr ärmlichen Verhältnissen. Dann hat sein Vater, der war auch Viehhändler und Schlachter, der hat dann so einen kleinen sozialen Aufstieg erlebt, ist von einem kleinen Dorf in eine größere Stadt gezogen, hat sich selbstständig gemacht – also, das ließ sich alles ganz gut nachvollziehen. Und gleichzeitig hatte ich natürlich die Geschichten meiner Großmutter und musste die immer gegen das Archivmaterial abgleichen. Und das hatten Sie vorhin erwähnt, dazu kommen die eigentlichen Familiengeschichten, die Geschichten über diese heimliche Verlobung meiner Großeltern mitten im Krieg, also romantische Geschichten, wo ich dann auch wiederum versuchen musste zu klären: Wie gehört das eigentlich zusammen und wie passen sie zu der Fels-Geschichte? Warum hat sie eigentlich Fels damals erwähnt?
    Wie passen der 2. Weltkrieg und Romantik zusammen?
    Netz: Und wie passen sie dazu? Denn Ihr Buch ist ja eins über Albert Fels, der steht auf dem Titel, aber eben doch auch nicht nur. Diese Geschichte Ihrer Großeltern, wie sie ihre romantische Liebesgeschichte mitten im Zweiten Weltkrieg auslebten, nimmt auch einen großen Platz ein. Wie passt das denn nun zusammen?
    Mensing: Ich glaube, dass dieser Fels wie so eine Art Schlüssel ist, den meine Großmutter mir in die Hand gegeben hat, um in die dunklen Kammern hineinzuschauen, die hinter diesen auf den ersten Blick romantischen Familiengeschichten stecken. Meine Großmutter hat wirklich ihr ganzes Leben lang immer wieder diese Geschichte von der heimlichen Verlobung im Krieg erzählt, von der heimlichen Liebe, von der großen Liebe ihres Lebens. Und klar, da war die ganze Zeit so etwas da, dass man dachte: Wie kann das denn eigentlich sein, dass man so romantische Geschichten erzählt, und dann ist da gleichzeitig der Zweite Weltkrieg, wie passt das zusammen? Und meine Großmutter hat eigentlich immer gesagt: Na ja, das eine war eben privat und das andere ist politisch. Und sie hat sich über das andere auch unterhalten, aber für sie gehörte das nicht zusammen. Dadurch, dass sie mir die Geschichte von Albert Fels erzählt hat und wir angefangen haben, durch diese Geschichte noch einmal über sie und ihre Kindheit und Jugend in den 30er- und 40er-Jahren zu reden, dadurch ist uns vielleicht zum ersten Mal gelungen, auch darüber zu sprechen, dass so ganz privat das alles nicht war. Meine Großmutter hat noch mal erzählt, dass sie eigentlich eine begeisterte Anhängerin der nationalsozialistischen Ideologie war. Sie war natürlich beim BDM und sie war beim Reichsarbeitsdienst und hat das ganz toll gefunden. Sie fand diese Aufbruchsstimmung, die da unter den Mädchen und jungen Frauen in ihrer Umgebung herrschte, die fand sie toll, großartig. Sie hat mir dann erzählt, was zum Beispiel ihr Lieblingslied war in dieser Zeit, "Es zittern die morschen Knochen der Welt". Das ist so eine fast blutrünstige…
    Netz: Ein finsteres Nazilied, genau…
    Mensing: Ein finsteres Lied, ein Nazilied, was so eine Art Hymne bei der HJ und auch im Reichsarbeitsdienst war, wo eben davon erzählt wird, wie die alte Welt in Stücke zerfällt und junge Menschen eine neue Welt schaffen, junge Menschen, die man sich dann mit Hakenkreuzflaggen in der Hand vorstellen muss. Für meine Großmutter war das ein Lied, wo diese ganze Aufbruchsstimmung ihrer Liebe drin war. Sie hat natürlich gedacht, weil sie sich verliebt hat, beginnt eine neue Welt. Und dafür im Nationalsozialismus, in der nationalsozialistischen Ideologie einen Rahmen zu finden, dass das funktioniert hat, das war für mich total verblüffend. Und da wären wir eben ohne Fels nicht hingekommen.
    Ein Buch über dunklen Seiten der Liebe
    Netz: Das heißt, Ihre Großmutter hat Ihnen, dem Enkel, das muss man ja vielleicht mal explizit dazusagen, denn diese Geschichte kannte ja offenbar die Generation dazwischen noch gar nicht, hat Ihnen gegenüber vielleicht doch die Notwendigkeit gesehen, auch, zumindest in Andeutungen, über die eigene Schuld zu sprechen? Kann man so weit gehen?
    Mensing: Ich glaube, es war ihr auf jeden Fall wichtig, sagen wir: auch die dunklen Seiten dieser Geschichte aufzuzeigen. Und das ist auch was, was ich am Ende gelernt habe aus den Gesprächen mit ihr. Ich glaube, dass am Ende mein Buch vielleicht doch kein Buch über den Nationalsozialismus ist, sondern ein Buch über die Liebe und die dunklen Kammern, die dunklen Seiten der Liebe.
    Es ist ja so, dass wenn man über eine vergangene Liebe erzählt oder über die große Liebe seines Lebens - es gibt ja immer Geschichten, die man auch anderen Leuten erzählen kann, kleine Anekdoten, an die man sich gern erinnert. Ich glaube aber, dass jeder von uns, der wirklich große Liebe erlebt hat, auch irgendein Geheimnis hat, was mit dieser Liebe zu tun hat, was er unbedingt für sich behält, was er vielleicht gar nicht teilen will. Das kann nur eine Erinnerung an irgendeinen Popsong sein, den man damals gehört hat oder so. Man weiß, das ist so aufgeladen für einen, das will man gar nicht teilen.
    Diesen Moment gab es bei meiner Großmutter auch: Als meine Großmutter vor drei Jahren gestorben ist, musste meine Mutter ihr Haus ausräumen und hat dabei das geheime Liebesversteck meiner Großmutter gefunden: ganz hinten in einem Schrank eine Schachtel, in der eine Ausgabe von "Mein Kampf" lag. Die "Mein Kampf"-Ausgabe, die mein Großvater und sie zu ihrer Hochzeit im Januar 1945 geschenkt bekommen haben. Dieses Buch, das hat sie immer gesagt, das gibt es nicht mehr, das ist weg, das haben wir verbrannt, bevor die Engländer kamen. Nein, das hat sie aufbewahrt, weil es eben für sie mit der großen Liebe ihres Lebens verbunden ist. Und mit der großen Liebe ihres Lebens ist eben diese ganze Dunkelheit und Finsternis des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs verbunden. Und das ist auf eine Art unvorstellbar und auf eine andere Art ist es mir zumindest durch die Erzählungen meiner Großmutter ein Stück näher gerückt.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Kolja Mensing: "Fels"
    Verbrecher Verlag, Berlin. 176 Seiten, 16 Euro.