Dienstag, 23. April 2024

Archiv

Kollektive Antwort auf Anschläge
"Beten kann eine Flucht vor der Verantwortung sein"

Die Schriftstellerin Husch Josten erzählt in ihrem Roman "Hier sind Drachen" von einer Journalistin, die einem Terroranschlag entgeht. Darin geht es auch um die hilflosen Betroffenheitsrituale nach solchen Ereignissen. Es sei merkwürdig, dass Menschen sich im Angesicht von solcher Sinnlosigkeit in ein Gebet stürzten, sagte sie im Dlf.

Husch Josten im Gespräch mit Christiane Florin | 08.06.2017
    Auf einer elektronischen Werbetafel steht "Pray for Manchester auf dem Hintergrund einer britischen Flagge. 22 Menschen wurden bei einem Konzert der US-Sängerin Ariana Grande in Manchester getötet.
    Auf einer elektronischen Werbetafel steht "Pray for Manchester auf dem Hintergrund einer britischen Flagge. (AFP / Ben Stensall)
    Christiane Florin: "Hier sind Drachen" heißt der Roman der Stunde. Er spielt am Tag nach den Anschlägen in Paris, im November 2015 also. Eine Journalistin soll im Auftrag ihrer Redaktion von London nach Paris fliegen, um der verwundeten Stadt eine Story abzuringen. Wegen einer Terrorwarnung muss sie lange auf dem Londoner Flughafen warten, sie kommt mit einem Mann ins Gespräch, der ein Buch von Wittgenstein liest. Terror trifft auf Philosophie, Angst auf Abgeklärtheit. Geschrieben hat diesen Roman Husch Josten. Und mit ihr habe ich vor der Sendung über Rituale der Hilflosigkeit gesprochen. Was kann ein Philosoph wie Wittgenstein in einer solchen Extremsituation leisten?
    Husch Josten: Wittgenstein kann etwas, was vielen von uns abgeht. Er kann sehr gut trennen zwischen dem alltäglichen Sprechbaren und dem metaphysischen Nicht-Mehr-Sprechbaren. Deswegen wird er oft als der Philosoph der Sprache bezeichnet. Er hat zum Beispiel gesagt: "Der Boden des religiösen Denkers ist der schmalste, der sich denken lässt und dennoch lässt sich auf ihm gehen." Ich glaube, dass er uns damit die Relation gegeben hat, sich selbst immer wieder im Hinblick auf etwas Höheres anzusehen und alle Geschehnisse, die uns widerfahren, im Hinblick auf etwas Höheres anzugucken und zu überprüfen, was das mit uns macht.
    Florin: Die Protagonisten Ihres Romans beten nicht …
    Josten: Nein, sie beten überhaupt nicht. Die Protagonistin hat eigentlich überhaupt nichts mit Philosophie und Religion am Hut, bevor sie den Mann trifft, den sie Wittgenstein nennt, weil er Wittgensteins "Tractatus" liest. Er beantwortet ihr im Laufe ihres langen Gesprächs Fragen, die sie gar nicht gestellt hat, die sie aber tatsächlich hatte. Das wusste sie nur nicht.
    Florin: Was ist an denjenigen, die einem Anschlag entgehen, die Zuschauer sind – Voyeure vielleicht manchmal auch – so interessant?
    Josten: Unter Umständen empfindet man sie als Überlebende, die dem Tod von der Schippe gesprungen sind, dem Schicksal ein Schnippchen geschlagen haben. Es gibt davon viele, die in den Medien immer wieder durchgereicht worden sind, die zum Beispiel 9/11 überlebt haben, den Boston-Marathon, die Bombenanschläge in Brüssel, bisweilen sogar alle drei hintereinander überlebt haben. Ich glaube, dass Menschen von außen diese Überlebenden angucken und sagen: Das kann doch kein Zufall sein, da ist doch irgendetwas dahinter, dass ihnen so etwas passiert ist und dass sie dreimal davongekommen sind.
    Florin: Zufall ist ein großes Thema des Gesprächs zwischen der Journalistin in Ihrem Roman und dem, den sie Wittgenstein nennt. Ein anderes großes Thema ist die Suche nach der Geschichte, die noch unerzählt ist. Können Sie sich erklären, warum das Wort Narrativ eine solche Karriere gemacht hat?
    Josten: Ja, das Narrativ hat eine besondere Bedeutung bekommen dadurch, dass man ihm Wunderkräfte zugemessen hat. Also man nehme die Floskeln aller Politiker nach Attentaten, wenn sie sagen: "Lasst uns beten" oder "Das war eine feige Tat". Dann sind das Narrative, in die wir uns stürzen in Ermangelung einer anderen Sprache. Ob das aber nicht nur eine Flucht ist, ist eine interessante Frage.
    Florin: Ja. Oder ob wir nicht Geschehnissen einen Sinn geben. Allein dadurch, dass wir sie erzählen bekommen sie einen Fluchtpunkt, einen Höhepunkt, eine Dramaturgie.
    "Einem Terroranschlag können wir keinen Sinn geben"
    Josten: Einem Terroranschlag können wir keinen Sinn geben. Deswegen stürzen sich so viele Menschen nach einem solchen fürchterlichen Ereignisses in die Religion, in die Anrufung Gottes oder einer höheren Macht, weil das für sie nicht mehr fassbar ist und sie verzweifelt versuchen, jemandem die Sinnhaftigkeit zuzuschreiben. Der Philosoph Armin Wildfeuer hat das wunderbar gesagt: "Ein Gebet ist nicht dazu da, ein Problem zu lösen, sondern ein Gebet ist dazu da zu zeigen, dass ich mein Leben vor und mit Gott führe." Ohne Garantie auf Antwort. Deshalb ist es so merkwürdig, dass wir uns im Angesicht von solcher Sinnlosigkeit dann in ein Gebet stürzen. Meinen wir dann wirklich, wir kriegen eine Antwort? Eine Lösung? Eine Erklärung?
    Florin: Was meinen Sie? Was ist der Grund dafür, dass Leute zum öffentlichen Gebet auf, die ansonsten kein Leben mit Gott führen?
    Josten: Das ist die Rettung in die Erklärung, dass es nicht mehr verständlich ist. Und weil es nicht mehr verständlich ist, muss es von einer höheren Stelle begriffen werden, angenommen werden, gelöst werden. Das halte ich für einen absoluten Irrglauben. Wenn Menschen, wenn Priester, wenn Gläubige nach einem solchen Anschlag beten, dann ist dagegen überhaupt nichts einzuwenden. Natürlich tun sie das. Das tun sind, weil sie auch sonst ihr Leben mit Gebeten füllen, weil sie auch sonst darauf zurückgreifen. Wenn aber Menschen, die damit gar nichts am Hut haben, damit kommen, dann erscheint es mir ein bisschen wie eine Flucht vor der Verantwortung. Sind wir denn wirklich so ohnmächtig? Gibt es nicht doch etwas, was insbesondere Politiker tun könnten, deren oberster Auftrag es ist, das Volk zu schützen? Müssten da nicht doch andere Maßnahmen getroffen als jetzt nur ein Gebet?
    Florin: Sie meinen, das Gebet soll davon ablenken, dass man konkret nichts tun möchte oder dass das, was man müsste, unpopulär wäre?
    Josten: Ja. Ich glaube, dass es ganz wichtig wäre, in einem solchen Fall, wie wir ihn jetzt immer wieder erleben, als Politiker wirklich in den Diskurs mit seinen Bürgern zu gehen.
    Florin: Das Bekenntnis ersetzt das Handeln?
    Josten: Ich würde es nicht so pauschal und für jeden gültig sagen, aber es kommt so ein kleiner, leiser Verdacht auf, wenn das Ritual sofort die Antwort ist. "Lasst uns beten", obwohl vorher gar niemand gebetet hat.
    Florin: Die Journalistin in Ihrem Roman steht innere Kämpfe aus, weil sie einerseits nach der guten Story sucht und andererseits nicht vom Terror profitieren will. Kennen Sie das ungute Gefühl, vom Schrecken zu profitieren?
    Josten: Ja. Ich erinnere mich noch an eine Geiselnahme, über die ich berichten sollte. Da ging es um ein Kind. Es war eine furchtbare Situation. Trotzdem steht man da, hat den Auftrag, das zu machen, möchte eigentlich nicht, aber wird dann in so einen Strudel gezogen.
    Florin: Und wie haben Sie sich entschieden?
    Josten: Ich habe es nach bestem Wissen und Gewissen versucht, so taktvoll und ruhig wie möglich zu schreiben, mit ganz viel viel Rücksicht auf das Kind. Ich bin ganz froh, dass ich das heute nicht mehr machen muss.
    "Haben wir es mit religiös motivierten Taten zu tun? Ich habe da Zweifel"
    Florin: Wenn jetzt nach den Anschlägen von London, Manchester, Berliner, Paris … immer wieder gesagt wird: Wir lassen uns unseren Lebensstil nicht nehmen, wir lassen uns unsere Normalität nicht kaputtmachen, glauben Sie das?
    Josten: Das ist inzwischen ein Narrativ geworden, das seine Bedeutung verloren hat. Am Anfang schien uns das die geeignete Antwort zu sein, weil wir gedacht haben, es handelt sich wirklich um einen Angriff auf unsere Lebensweise. Ich würde das in Frage stellen mittlerweile. Haben wir es wirklich mit ideologisch motivierten Taten zu tun? Haben wir es mit religiös motivierten Taten zu tun? Oder haben wir es nicht einfach mit einer Menge an Terroristen zu tun, die morden, um zu morden? Geht es dabei wirklich darum, die Gesellschaft zu verändern, eine Religion stärker darzustellen als die andere? Ich habe da wirklich meine Zweifel. Wenn man liest ,was viele Soziologen, Therapeuten, Politiker und Philosophen dazu in den letzten Jahren geschrieben haben - woran liegt es, was können wir tun, wo müssen wir hingucken? -, dann wird doch die Ratlosigkeit immer größer.
    Florin: Was kann Ihr Roman, was ein Sachbuch nicht kann? "Terrorismus-Roman" ist die Gattung, entnahm ich dem "Spiegel".
    Josten: Ich würde ihn überhaupt nicht als einen "Terrorismus-Roman" bezeichnen. Aber natürlich spielt Terror darin eine Rolle in Form der Unsicherheit, die uns alle bewegt. Das ist das, worum es mir ging: mit der Unsicherheit umzugehen, die uns alle seit Jahren mehr oder weniger beschäftigt. Wir können noch so sehr sagen, wir sind nicht ängstlich, wir lassen uns unsere Lebensweise nicht vermiesen. Tatsache ist aber doch, dass wir uns alle öfter überlegen: Fliege ich da oder dorthin? Steige ich in den und den Zug? Gehe ich auf dieses Festival – oder lieber nicht? Also die Angst hat einen festen Platz bei uns bekommen. Und das wollte ich ausdrücken. Wir gehen wir damit um? Ich glaube, davon muss man erzählen. Man muss gar nicht immer in diesen kämpferischen Floskeln landen und sagen "So, jetzt aber erst recht", sondern zugeben: Das ist kein Zustand. Wir müssen etwas daran ändern, wir müssen einen Weg finden, diese Unsicherheit – natürlich gibt es nie eine absolute Sicherheit -, auf ein Minimum zu reduzieren, mit allen Mitteln, die wir zur Verfügung haben.
    Husch Josten: "Hier sind Drachen"
    Piper 2017. 160 Seiten, 16 Euro.