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Kollektivgeschichte geht vor Individualgeschichte

Der Pulitzer-Preisträger Edward P. Jones ist in der afroamerikanischen Welt zu Hause. In "Hagars Kinder" sind vierzehn Erzählungen versammelt, die sich durch Beharrlichkeit und psychologischer Genauigkeit auszeichnen. Dazu gehört auch, dass Jones sich nie mit einer Hauptfigur begnügt, sondern am liebsten ein ganzes Geflecht von Personen miteinander verstrickt.

Von Marli Feldvoß | 18.08.2008
    Mit seinem ersten Roman "Die bekannte Welt" hat Edward P. Jones nicht nur den Pulitzerpreis gewonnen, sondern auch sein literarisches Terrain abgesteckt. Gemeint ist die "afroamerikanische Welt", die, wie ihr Protagonist Henry Townsend überzeugend beweist, einschlägige Lehren aus der eigenen Unterdrückung gezogen hat. Hinter dessen Anspruch, ein "besserer Master als alle Weißen zu sein", steckt die bittere Ironie, deren Grausamkeit womöglich noch zu übertreffen. Lange vor Jones' opulentem Roman-Ausflug ins neunzehnte Jahrhundert, als es im amerikanischen Süden tatsächlich schwarze Sklavenhalter gab, hatte er bereits den gegenwartsbezogenen Erzählband "Im Labyrinth der Stadt" herausgebracht. Vierzehn Geschichten aus seiner Heimatstadt Washington, auf die mit "Hagars Kinder" nun weitere vierzehn nachfolgen.

    Was die "Moral" anbelangt, da braucht man sich nur die Titelgeschichte "Hagars Kinder" vorzunehmen. Wenn Miss Agatha darin lamentiert, dass "sie" ihren Ike umgebracht hätten und Tante Penny kontert: "Ein farbiger Jugendlicher weniger. Eine Schande vor Gott, wie sie mit Hagars Kindern umspringen." dann ist das nur die halbe Wahrheit. Wahr ist, dass in jenem Jahr in der "Murder-Capital" Washington D.C. insgesamt sechsundsechzig Menschen ermordet wurden, was der Ich-Erzähler keineswegs verschweigt. Die "Chocolate City" weist bekanntlich einen schwarzen Bevölkerungsanteil von 66 Prozent sowie ein starkes soziales Gefälle und die dazu gehörigen Spannungen zwischen Schwarz und Weiß, Arm und Reich, auf. Eine Mutter mag klagen so viel sie will, es ändert nichts an der Tatsache, dass ihr Ike ein Junkie und das schwarze Schaf der Familie war. Aber auch dieser Ike gehört zum Kindersegen der biblischen "Aunt Hagar", wie sie bei Autor Jones genannt wird. Tante Hagar, die Mutter Ismaels, Stammvater vieler Völker, war eine Sklavin.

    Die vierzehn Erzählungen - fünf davon waren bereits im New Yorker abgedruckt - führen erneut die Kunst des afroamerikanischen Autors Edward P. Jones vor Augen, mit Beharrlichkeit und psychologischer Genauigkeit seine Biografien zu entwickeln. Dazu gehört auch, dass er sich nie mit einer Hauptfigur begnügt, sondern am liebsten ein ganzes Geflecht von Personen miteinander verstrickt. Kollektivgeschichte geht vor Individualgeschichte, trotzdem erhält jeder sein unverwechselbares Gesicht. "Von meiner Mutter hatte ich die breite Nase geerbt, eine weit geöffnete Blüte in meinem Gesicht ... " Doch die schwarze Identität ist kein Geschenk des Himmels, darüber lässt Autor Jones keinen Zweifel. Für ihn ist Amerika auf Rassentrennung gegründet, daran werde auch ein Barack Obama wenig ändern. Hagars Kinder sind alle von Süden gen Norden in die verheißungsvolle Metropole Washington D.C. aufgebrochen, um dort ihr Glück zu suchen. Das Mädchen-Trio Miss Agatha, Tante Penny und die Mutter des Erzählers aus der Titelgeschichte hat es nach einem traumatischen Erlebnis aus Alabama weggetrieben, andere aus South Carolina, Mississippi, Tennessee: "In Washington behandeln sie Farbige wie Könige und Königinnen, weil da der Präsident wohnt. Würden sie in einer Stadt, wo der Präsident jeden Abend seinen Hut an den Nagel hängt, seinen Hund streichelt und neben der Präsidentengattin schnarcht, Farbige etwa schlecht behandeln?" In Washington kann man reich werden, aber auch nachts ausgesetzte neugeborene Babys in den Bäumen finden. Erwartung und Enttäuschung liegen oft eng beieinander. In den Rahmengeschichten "Ein Wimpernschlag Gottes" und "Der Wandteppich" verfolgt Jones zwei Paare, die es in ganz verschiedene Richtungen verschlägt. Ruth und Aubrey wird der Stadtmoloch und die Kinderlosigkeit in die Entfremdung treiben; das frisch vermählte Paar Anne und George findet erst in letzter Minute und im allerletzten Absatz wieder zueinander. Sie werden es schaffen, sie werden erwachsen - in Washington.

    Edward P. Jones: Hagars Kinder, Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Hans-Christian Oeser, Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg, 2008, 432 Seiten, gebunden, Euro 19.95