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Kolumbien auf dem Weg zum Frieden
Die Gärten der Aussöhnung in Medellin

Rund 600.000 Binnenflüchtlinge hat die kolumbianische Stadt Medellin in den vergangenen fünf Jahrzehnten des Bürgerkrieges aufgenommen. Hier versuchen sie der Spirale aus Terror und Gewalt zu entfliehen. Ein Weg, das Erlebte zu vergessen: das Anlegen von kleinen Obst- und Gemüsegärten.

Von Julio Segador | 25.06.2016
    Blick auf Medellin in Kolumbien
    Blick auf Medellin in Kolumbien (dpa / picture alliance / Soeren Stache)
    Claudia Serna unterwegs in der Comuna 8 in Medellín. Die junge Juristin informiert die Bewohner des Stadtteils über die Bürgerversammlung, die am nächsten Morgen stattfinden soll. Die Menschen sorgen sich. Die Stadt will eine weitere Seilbahn bauen, für die Stahlträger müssen Häuschen weichen. Die meisten Bewohner wurden vor Jahren schon einmal vertrieben, mussten ihr Hab und Gut verlassen. Claudia Serna befürchtet, dass sich das Schicksal wiederholt.
    "Die Menschen hier sind Opfer des bewaffneten Konfliktes, aber sie wurden nie richtig entschädigt. Sie bekamen keine adäquaten Wohnungen. Und jetzt droht ihnen, dass sie erneut vertrieben werden. Hier sollen riesige Stahlträger für die Seilbahn gebaut werden. Einige wenige, die alle Auflagen erfüllen, bekommen vielleicht eine neue Wohnung, alle anderen werden mit geringen Geldbeträgen abgespeist."
    Claudia Serna arbeitet für die Nichtregierungsorganisation "Libertad", übersetzt "Freiheit". Sie berät die Bewohner im Viertel juristisch in Menschenrechtsfragen. Dieser Stadtteil in Medellín, der zweitgrößten Stadt Kolumbiens, ist wie eine schwärende Wunde im Fleisch dieses Landes. Keine andere Stadt Kolumbiens hat in den fünf Jahrzehnten des Bürgerkriegs mehr Flüchtlinge aus den Kriegsregionen aufgenommen. Mehr als 600.000 haben Zuflucht gesucht in Medellín. Und in Stadtvierteln wie der Comuna 8 und bei Menschen wie Yisela Quintero manifestieren sich die Folgen von jahrelangem Terror und Gewalt.
    "Ich bin Opfer der brutalen Vertreibung. Drei bewaffnete Gruppen vertrieben mich. Die Guerilla, Paramilitärs und das Militär. Früher wohnte ich an einem wundervollen Ort, in Cocorná, 80 Kilometer von hier entfernt. Ein spektakulärer Ort, den ich im Blut trage."
    "Sie entrissen mir mein Lebensprojekt"
    Vor 16 Jahren wurde Yisela gezwungen, ihre geliebte Heimat in den Bergen einzutauschen gegen die Comuna 8 in Medellín: eine dicht bewaldete Region mit kristallklarem Wasser und guter Luft gegen ein riesiges Armenviertel, mit erdrückendem Smog, vielerorts ohne Strom und fließend Wasser.
    "Sie entrissen mir mein Lebensprojekt, sie entwurzelten mich aus meiner Heimat. Das schmerzt bis heute. Ich hatte Gewohnheiten, die ich hier sehr vermisse. Es waren die Vögel, die mich jeden Tag weckten. Die Luft war rein. Man ging aus seiner Haustür und befand sich inmitten unberührter Natur. Hier in der Stadt wecken einen die lauten Autos auf. In dieser Betonwüste leben zu müssen ist sehr hart."
    Eine labyrinthartige, zusammengewürfelte städtische Wüste, in der paramilitärische Verbände das Sagen hatten, in der Gewalt regierte. Und in der der Staat nicht präsent war. Bis sich vor einigen Jahren die kriminellen Banden im Viertel nach internen Kämpfen gegenseitig schwächten, sich schließlich zurückzogen. Es war die Stunde von Yisela und vielen anderen mutigen Bürgern der Comuna 8.
    "Damals stand ich vor der Wahl: Entweder beklage ich weiter die schlimme Vergangenheit oder ich raffe mich auf. Und ich und die anderen hier hatten das Glück, das nicht alle haben: Wir waren am Leben! Und wir waren uns einig, dass wir dieses Leben behalten wollten. Daher nahmen wir uns als Comuna 8 diesen Raum.
    Unser jetziges Gemeindezentrum war die ehemalige Folterwerkstatt der Paramilitärs. Ein fürchterlicher Ort. Wir spürten die negative Energie, die von hier ausging, nahezu körperlich. Aber Schritt um Schritt hat unsere Gemeinschaft diesen Raum hier ausgefüllt."
    Symbole der Hoffnung
    In der Comuna 8 sind es kleine Obst- und Gemüsegärten, gepflanzt auf verschlungenen Terrassen an den steilen Hängen des Armenviertels, die der Hoffnung und dem Lebenswillen der Menschen Ausdruck geben. "Pinares del Oriente", heißt die kleine Siedlung vielsagend, "Der Nadelwald aus dem Osten". Rund 40 Familien kümmern sich um die Schrebergärten. Nachbarn, die für Yisela Quintero inzwischen zu engen Freunden geworden sind. Die gemeinsame Zeit in den Gärten hat sie nahegebracht.
    Erst beim Hacken, Säen, Anpflanzen und Ernten konnten viele über ihr Schicksal, über ihr Leid sprechen. Sie weinten gemeinsam, sie hoffen jetzt gemeinsam. Viele Jahre kannten Yisela Quintero und ihre Freunde nichts anderes als den Bürgerkrieg. Die Todesschwadronen der Guerilla vertrieben sie aus ihren Heimatdörfern. Die Gemüsegärten in Medellín, die Yisela Quintero nun zusammen mit ihren Freunden angelegt hat und die sie an ihre Heimat erinnern, stehen für einen neuen Optimismus in ihrem Leben.
    "Mit den Gärten konnten wir unsere Wunden heilen. Es war sehr wichtig, denn dadurch war es uns möglich, zerstörtes Gewebe in den Familien wiederaufbauen. Für uns ist wichtig, dass wir das Geschehene nicht vergessen. Aber jetzt können wir zurückblicken ohne Schmerz. Wenn wir vergessen würden, hätten die Täter gewonnen. Aber unser Gemeinschaftshaus und die Gärten stehen für Versöhnung. Wir haben uns dadurch mit uns selber versöhnt."