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Matthias Dell
Der Spiegel - Kulturrecherche mangelhaft

Viele Kulturschaffende beschäftigen sich damit, wer ab 2020 die Berlinale leiten könnte. Im "Spiegel" ist dazu allerdings kaum Neues zu lesen, findet Kolumnist Matthias Dell. So sei Journalismus weit entfernt von dem, was er in Sonntagsreden über sich selbst erzähle.

Von Matthias Dell | 22.02.2018
    Kosslick spricht vor Journalisten und hält das Programmheft der Berlinale in die Höhe.
    Keine ganz neue Frage: Wer folgt auf Berlinale-Chef Dieter Kosslick? (dpa/Britta Pedersen)
    Wie oft haben wir gerade im "Spiegel" darüber gelesen, dass Angela Merkel das Land einschläfert. Dass sie keine Kontroversen führt, rhetorisch zaghaft agiert, die Auseinandersetzung über inhaltliche Positionen scheut.
    Das mag alles stimmen, aber es ist nur die halbe Wahrheit. Denn es ist nicht allein Angela Merkel, die debattenfaul ist, es gibt genügend Journalisten, die ebenfalls keine Lust auf Auseinandersetzung haben. Gerade im "Spiegel".
    Dort schrieb ein festangestellter Redakteur namens Martin Wolf zu Beginn der gerade laufenden Berlinale einen Text über den Streit, der Ende letzten Jahres über die Zukunft des größten deutschen Filmfestivals entbrannte. Da hatten 79 Regisseure und Regisseurinnen eine Petition veröffentlicht, die für eine Erneuerung des Festivals warb. Die sich eine "herausragende kuratorische Persönlichkeit" an der Spitze wünschten.
    Wer kommt nach 18 Jahren Kosslick?
    Hintergrund der Erklärung war die Tatsache, dass der Vertrag des derzeitigen Intendanten Dieter Kosslick im Jahr 2019 ausläuft. Kosslick ist dann 18 Jahre im Amt und 70 Jahre alt, es hatte aber auch schon Wortmeldungen von ihm gegeben, in denen er sich ein wie auch immer geartetes Weitermachen vorstellen konnte.
    Ich habe mich an dieser Debatte beteiligt. Ich will nicht behaupten, im Besitz der Wahrheit zu sein. Aber ich fand es zum einen nicht ehrabschneidend, dass nach 18 Jahren jemand anderes die Leitung der Filmfestspiele übernimmt und dass ein Mann im Rentenalter, der länger Berlinale-Leiter war als Helmut Kohl Bundeskanzler, seinen Ruhestand genießen kann.
    Und ich fand es vor allem anregend, darüber nachzudenken, ob nicht nach Kosslick einmal eine Person das größte deutsche Filmfestival leiten könnte, die das Kino liebt und kennt. Auch wenn mir klar ist, dass jemand mit dem begrenzten Filmverständnis von Kosslick die deutschen Verhältnisse in Sachen Kino vermutlich adäquat abbildet. Und dass ein Festival wie die Berlinale ganz andere Zwänge kennt als eine Liebhaber-Veranstaltung von Zelluloid-Freaks.
    Ein Text wie in einem Anzeigenblatt
    Der "Spiegel"-Text von Martin Wolf fand das nicht. Der fand, dass eher das Filmfestival von Cannes ein Problem habe, weil dort viel weniger Leute viel weniger Filme gucken können. Das war Wolfs einziges Argument, über das man natürlich streiten kann. Was der Text ob seiner Kürze allerdings nicht wirklich zuließ – ich zumindest hatte den Wunsch der Filmemacher nach einer Entschlackung nicht so verstanden, dass die Berlinale künftig kein Publikumsfestival mehr sein sollte, zu dem Kosslick sie ausgebaut hatte. Aber gut.
    Vor allem hat mich an dem Artikel gestört, dass in ihm nichts Neues stand. Dass das größte deutsche Nachrichtenmagazin einen Text druckt, der einfach eine zwei Monate alte Kontroverse zusammenfasst wie ein kostenloses Anzeigenblatt, das seinen Platz mit Informationen aus zweiter Hand füllt. Und dass Wolf das auch noch schlecht gelaunt tat, mit spürbarer Unlust an einer Auseinandersetzung. Dass er die Filmemacher gegeneinander ausspielte, die die Erklärung unterschrieben und von denen sich manche nach der Veröffentlichung von ihrer Unterschrift in gewisser Weise distanziert hatten. Dass er einen der Regisseure ohne Begründung als Intriganten bezeichnete.
    Viele offene Fragen
    Dabei hätte es so viele Fragen gegeben, denen ein Medium wie der "Spiegel" mit seinen immer noch luxuriösen Möglichkeiten, der Zeit zur Recherche hätte nachgehen können. Etwa: Wie sieht denn die Struktur der Berlinale nach 17 Jahren Kosslick im Detail aus? Was ist denn die wahre Geschichte des veröffentlichen und bald wieder zurückgezogenen Offenen Briefs einer ehemaligen Berlinale-Mitarbeiterin, die Kosslick rassistischer und sexistischer Schmierigkeiten bezichtigte? Wieso unterschreiben Leute eine Erklärung, die sie danach nicht so gemeint haben wollen? Wer sind denn die Kandidaten, mit denen Kulturstaatsministerin Monika Grütters gerade spricht? Wie sieht das Verfahren zur Suche genau aus?
    Bei jeder Neubesetzung eines politischen Postens würde der "Spiegel" versuchen rauszufinden, welche Personen in Frage kommen, würde aus Hinterzimmergesprächen zitieren, Szenen des Zusammentreffens beschreiben.
    "Der Spiegel" zeigt sich politikerfürchtig
    Hier aber: Fehlanzeige. Frau Grütters macht das schon. Wir werden es von ihr erfahren. So bescheiden und politikerfürchtig ist die vierte Gewalt, als die gerade der "Spiegel" sich selbst empfindet, selten. Sie ist dann eigentlich gar keine vierte Gewalt, sondern hat eine unoriginelle, kaum argumentierte Meinung.
    Der Fall mag spezifisch sein, nur ein Beispiel, aber er zeigt gerade im Detail, wo Journalismus weit entfernt ist von dem, was er in Sonntagsreden über sich selbst erzählt. Gerade im "Spiegel". So lässt sich nur feststellen: Wenn Martin Wolf in den Spiegel schaut, müsste er ehrlicherweise Angela Merkel sehen.