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Kommentar
Amnestie für geständige Doper

Wer das dreckige Geschäft beenden will, muss Sportler belohnen, die auspacken und gestehen und – vor allem – die Akteure in den mafiösen Netzwerken aufdecken. Anders wird es nie wieder sauberen Sport geben. Das jetzige System fördert nur den Betrug, kommentiert Jürgen Kalwa.

Von Jürgen Kalwa | 07.08.2016
    Julia Stepanowa, russische Leichtathletin (6.7.2016) bei den Europameisterschaften in Amsterdam.
    Kronzeugin Julia Stepanowa deckte den russischen Doping-Skandal auf (Sputnik)
    Die entmutigende Erkenntnis aus Jahrzehnten beachtlicher Anstrengungen im Kampf gegen Doping ist die: Die Zahl der Athleten, die erwischt werden, ist extrem klein. Sie liegt bei einem Prozent. Die Zahl der Sportler, die zumindest anonym zugeben, dass sie mit verbotenen Substanzen hantieren, ist dagegen enorm: rund 40 Prozent.
    Das aufwändige und kostspielige Testsystem ist also – machen wir uns nichts vor – wirkungslos. Alles nur Theater, inszeniert, um die Realität zu verschleiern. Denn im Hintergrund existieren noch immer – und wohl auch immer mehr – zahllose höchst effektive Netzwerke aus Beschaffern, Trainern, Agenten, Ärzten, Funktionären. Nicht zu vergessen die Sponsoren, die das alles kritiklos finanzieren.
    Journalisten und Polizisten decken auf
    Wenn überhaupt mal etwas Licht ins Dunkel kommt, dann nur, weil sich hartnäckige Journalisten und mitunter auch Polizei und Ermittlungsbehörden das Milieu genauer anschauen. Der Sport produziert allenfalls Gerede. Wie den lächerlichen Begriff von der "Null-Toleranz”. Leider machen auch saubere Athleten mit, anstatt ihre Teilnahme zu verweigern. Und Parlamentarier, die mit Steuergeldern Sportförderkompanien und Pro-Forma-Jobs bei der Polizei finanzieren.
    Statt an die Wurzel zu gehen, bringen Männer wie der sehr verdienstvolle Richard Pound, Gründungsdirektor der WADA, solche Ideen ins Gespräch: mehr Geld für die Dopingfahnder. Und mehr und häufigere Tests. Wirklich? Noch mehr Tests? Ehrlich: Das klingt so, als ob man Leuten, die so langsam den Glauben an den Weihnachtsmann verlieren, dadurch entgegentritt, dass man noch mehr Weihnachtsmänner einkleidet und losschickt. Was soll das?
    Vorbild: Südafrika
    Dabei hat Pound – schon 2012 – die viel bessere Idee gehabt. Wenn auch nur bezogen auf den Radsport. Im Rahmen des Falls Lance Armstrong brachte er das Konzept "Truth and reconciliation” ins Gespräch. Eine Wahrheits- und Versöhnungskommission, wie sie nach den Apartheid-Jahren in Südafrika eingerichtet wurde. Man wollte dort, dass die ehemaligen weißen Täter endlich den Mund aufmachen. Dass das alte, brutale System entlarvt wird. Ohne Angst davor, aufgrund der Geständnisse bestraft zu werden.
    Tatsächlich ist der Sport längst exakt an demselben Punkt angekommen. Denn was sonst soll Abhilfe schaffen? Abgesehen von der immer wieder geäußerten, ziemlich frivolen Idee, Doping komplett freizugeben. Dann schon lieber eine Amnestie. Und zwar für alle, die bereit sind auszupacken. Und die dabei wirklich alles aufdecken. Alle Informationen über Hintermänner und Drahtzieher. Über das ganze dreckige Geschäft. Die verraten, welche Substanzen sie nehmen und wie sie einsetzen, um nicht erwischt zu werden. Die die Beschaffungskanäle enthüllen und vielleicht auch mal verraten, was sie das alles kostet.
    Gewiss. Begnadigung für Betrüger hat mit Moral wenig zu tun. Und auch nichts mit den hehren Grundsätzen einer längst verloren gegangenen, naiven Vorstellung von Fairplay. Es hat etwas mit dem simplen Eingeständnis zu tun: dass alle anderen Maßnahmen versagt haben. Und dass man nur mit einem radikalen Neuanfang dem Sport noch eine Chance geben kann. Eine allerletzte. Denn sonst geht dort bald alles den Bach runter.