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Kommission-Bilanz
"Die EU steht nicht besser da"

Die scheidende EU-Kommission hat nach Ansicht des SPD-Politikers Günter Verheugen die Zeichen der Zeit wohl nicht richtig erkannt. Unter ihrem Präsidenten Manuel Barroso sei der Zustand der EU nicht verbessert worden, sagte der frühere EU-Kommissar im Deutschlandfunk. Im Gegenteil: Die Gemeinschaft befinde sich in mehreren Sackgassen.

Günter Verheugen im Gespräch mit Christoph Heinemann | 31.10.2014
    Günter Verheugen
    Der SPD-Politiker Günter Verheugen hat die scheidende EU-Kommission unter Präsident Barroso im DLF deutlich kritisiert. (dpa / picture-alliance / Grzegorz Momot)
    Eine Sackgasse heiße politische Krise, sagte Verheugen. In Europa gebe es "eine wachsende Unzufriedenheit der Menschen mit den Ergebnissen der europäischen Integration, eine sinkende Integrationsbereitschaft und erste Auflösungserscheinungen, wenn ich an das denke, was in Großbritannien vor uns liegt". Offenbart habe die Europäische Union außerdem "die Unfähigkeit, die Finanz- und Wirtschaftskrise zu bewältigen". Stattdessen seien die sozialen und wirtschaftlichen Unterschiede größer geworden, sagte Verheugen. Drittens sei Europas Rolle in der Welt "in den letzten Jahren noch einmal deutlich schwächer geworden".
    Verheugen sagte weiter, wenn er die Jahre 2004 und 2014 vergleiche, stelle er fest, dass die EU in der Amtszeit von Barroso als EU-Kommissionspräsident "in keiner besseren Verfassung" sei. "Aber es wäre zutiefst ungerecht, wenn man die Krisen, Schwierigkeiten, in der sich die EU befindet, allein dem Präsidenten der Kommission und seinem Kollegium anlasten würden - da haben schon alle ihren Teil dazu beigetragen." Schließlich sei das Risiko sehr groß, "dass euroskeptische Bewegungen in anderen Ländern sehr stark werden und dann der Druck auf einzelne Regierungen wächst".
    Verheugen, der bis 2010 Barrosos Stellvertreter war, kommt zu dem Schluss: "Die ausgehende Kommission hat die Zeichen der Zeit wohl nicht richtig erkannt." Er sei "sehr enttäuscht darüber, dass man nicht eingegangen ist auf die konkreten Vorschläge, die der britische Premierminister vor zwei Jahren schon gemacht hat, als er den Reformbedarf der Europäischen Union angekündigt hat".

    Lesen Sie hier das ganze Interview:
    Christoph Heinemann: Tagelang standen sie kurz davor, heute sind sie einen Schritt weiter: Russland und die Ukraine haben eine gemeinsame Antwort gefunden auf die Frage, wie viel Gas Russland der Ukraine zu welchen Bedingungen liefert. Mit Blick auf Jahreszeit und Temperaturen war Eile geboten, es hat geklappt.
    Am Telefon - und wir greifen gleich den Faden auf, nämlich den Wechsel in der Spitze der Kommission - ist der SPD-Politiker Günter Verheugen, selbst ehemaliger EU-Kommissar. Guten Morgen.
    Günter Verheugen: Guten Morgen!
    Heinemann: Herr Verheugen, vielleicht kurz Ihre Bewertung der Einigung. Sehen Sie es auch als Zeichen einer Deeskalation zwischen Russland und der Ukraine?
    Verheugen: Nein. Die Russen machen einen deutlichen Unterschied zwischen Politik und Geschäft. Das bedeutet nicht, dass wir die politischen Spannungen zwischen Russland und der Ukraine bereits hinter uns haben. Aber jedenfalls bedeutet es, dass sie im Augenblick nicht noch stärker werden.
    Heinemann: Ihr Parteifreund Gernot Erler hat eben bei uns im Deutschlandfunk eine gewisse Orientierungslosigkeit bestätigt in der russischen Außenpolitik: einerseits jetzt Diplomatie oder, wie Sie sagen würden, Geschäft, dann auf der anderen Seite dieses Brusttrommeln mit den Übungsflügen hart an der Grenze. Wie sollte man mit diesem Hü und Hott umgehen?
    Verheugen: Ich glaube, die Erfahrung, die wir mit Russland haben und übrigens früher auch mit der Sowjetunion, ist, dass auf unserer Seite eine feste und klare Haltung notwendig ist. Russland respektiert keine Partner oder keine Nachbarn, die selber nicht wissen, was sie wollen. Ich glaube, wir müssen zunächst einmal klar machen, was ist das, was für uns unverhandelbar ist, und da gibt es ein Prinzip, das muss man immer wieder hochhalten. Jedes europäische Land, jede europäische Nation hat das Recht, in eigener Souveränität zu entscheiden, ob es sich an der europäischen Integration beteiligen will oder nicht. Da hat kein anderes Land ein Vetorecht. Das ist absolut unverhandelbar. Aber es gehört auch dazu, dass man miteinander redet, wenn dabei die Interessen anderer berührt werden, und hier sind in der Vergangenheit Fehler gemacht worden.
    Heinemann: Sie sagten eben sinngemäß, die Russen mögen keine Weicheier.
    Verheugen: Ja!
    Heinemann: Eine feste und klare Haltung. Wirken die Sanktionen?
    Verheugen: Ich glaube schon. Ich bin nicht froh darüber. Niemand kann froh darüber sein. Sie wirken ja nicht nur in Russland, sie wirken ja auch bei uns, wenn Sie sich die Exportzahlen anschauen, nicht wahr. Aber es ist wohl so, dass auf längere Sicht Russland mit diesen Wirtschaftssanktionen nicht gut leben kann. Natürlich! Wenn es zu der Frage kommt, wer kann wem mehr zumuten, wer kann seiner Bevölkerung mehr Opfer und einen größeren Leidensdruck zumuten, dann sind die Russen uns möglicherweise sehr weit voraus. Aber ich hoffe nicht, dass es so weit kommt. Mein Eindruck ist, dass die Sanktionen schon eine gewisse Wirkung haben.
    "Europas Rolle in der Welt ist in den letzten Jahren deutlich schwächer geworden"
    Heinemann: Herr Verheugen, wir wollten eigentlich sprechen - und das wollen wir jetzt machen - über das Stühlerücken in Brüssel. Ein Kommentar vielleicht kurz dazu aus der französischen Tageszeitung "La Croix", einer, der für viele steht: "EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, der neue ab morgen, wird all seine Durchsetzungskraft benötigen, um die EU aus den vielen Sackgassen herauszulotsen, in die Europa sich in den letzten Jahren hineinmanövriert hat." Zwei Beispiele nennt die Zeitung: das schwache Wirtschaftswachstum und - da sind wir wieder - Europas Rolle im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine. Zunächst einmal die Frage: Steckt die Union in Sackgassen?
    Verheugen: Ja, das muss man wohl leider sagen. Wenn ich an das Jahr 2004 denke, in dem Barroso das Steuer übernommen hat, und schaue die Realitäten des Jahres 2014 an, dann ist das eine andere EU heute und sie ist in keiner besseren Verfassung als damals. Ganz im Gegenteil! Aber es wäre ungerecht, zutiefst ungerecht, wenn man die Krisen, Schwierigkeiten, in denen sich die EU befindet, allein dem Präsidenten der Kommission und seinem Kollegium anlasten würde. Da haben schon alle ihren Teil dazu beigetragen.
    Heinemann: Können Sie die Sackgassen benennen?
    Verheugen: Nun, ich denke, an erster Stelle muss man die politische Krise nennen, in der wir sind, die sich darin äußert, dass wir in Europa eine wachsende Unzufriedenheit der Menschen mit den Ergebnissen der europäischen Integration haben, eine sinkende Integrationsbereitschaft und erste Auflösungserscheinungen, wenn ich an das denke, was in Großbritannien vor uns steht. Zweitens natürlich die Unfähigkeit, die Finanz- und Wirtschaftskrise zu bewältigen. Sie hat im Gegenteil dazu geführt, dass die sozialen und wirtschaftlichen Unterschiede in Europa sehr viel größer geworden sind und wir in einigen Ländern eine ökonomische Spirale nach unten haben. Und drittens natürlich die Tatsache, dass Europas Rolle in der Welt in den letzten Jahren noch einmal deutlich schwächer geworden ist. Die war ja noch nie stark, die Europäische Union war nie ein großer außenpolitischer Akteur. Aber das hat sich noch einmal deutlich verschlechtert und es hat sich gezeigt, dass es eben nicht geht, wirtschaftlich stark und politisch unfähig zu sein.
    Heinemann: Glaubwürdigkeit ist ja ein ganz wichtiges Pfund, auch für eine Kommission. Macht sich die Kommission unglaubwürdig als Hüterin der Verträge, also auch des Vertrages von Maastricht, wenn sie Haushaltsentwürfe aus Paris und Rom, die hoch defizitär sind, immer noch, auch nach Nachbesserung, einfach durchwinkt?
    Verheugen: Das ist nicht so einfach zu beantworten. In Ihrer Frage steckt eine sehr deutsche Denkweise. Entschuldigen Sie, wenn ich das so sage. In Ihrer Frage steckt dieses, uns Deutschen offenbar in Fleisch und Blut übergegangene Diktum von Theo Waigel, drei Prozent sind drei Prozent sind drei Prozent. Wahrheit ist natürlich, dass dieser Wachstums- und Stabilitätspakt in einem vernünftigen makroökonomischen Kontext behandelt werden muss, und ich gehöre zu denjenigen, wie auch Jean-Claude Juncker und viele andere, die sagen, der deutsche Dogmatismus in dieser Frage ist einer der Gründe dafür, warum wir da sind, wo wir gelandet sind, und ich halte eine flexiblere, auch langfristigere Betrachtung dieser Frage und der daraus resultierenden Entscheidungen für absolut notwendig. Ich würde an dieser Stelle die Kommission nicht kritisieren.
    "Bin sehr enttäuscht, dass man nicht auf konkrete Reformvorschläge des britischen Premierministers eingegangen ist"
    Heinemann: Hieße verkürzt, was drei Prozent sind, schauen wir mal.
    Verheugen: Nein! Schauen wir mal, wie die Politik des Landes aussieht, um das es geht, welche Entscheidungen sind getroffen worden, die zu welchem Zeitpunkt Konsolidierung ermöglichen. Aber Konsolidierung zu erzwingen, in einem Schritt oder meinetwegen auch in zwei Schritten, durch einen Haushalt, bei dem es wirklich quietscht, solche Politik ist gefährlich, wie wir gesehen haben, politisch und wirtschaftlich gefährlich.
    Heinemann: Apropos Quietschen. Sie haben eben das Referendum in Großbritannien angesprochen. Brechen die Dämme, wenn die Briten Brüssel Adieu sagen würden?
    Verheugen: Das Risiko ist groß, dass es nicht dabei bleibt. Das Risiko ist sehr, sehr groß, dass Bewegungen, euroskeptische Bewegungen in anderen Ländern dann sehr stark werden und der Druck auf einzelne Regierungen wächst. Ja, man sollte auf alle Fälle alles tun, um das zu vermeiden, und da sehe ich eine der zentralen Aufgaben für die neue Kommission. Hier, muss ich leider sagen, hat die ausgehende Kommission die Zeichen der Zeit wohl nicht richtig erkannt. Ich bin sehr enttäuscht darüber, dass man nicht eingegangen ist auf die konkreten Vorschläge, die der britische Premierminister vor zwei Jahren schon gemacht hat, als er den Reformbedarf der Europäischen Union angekündigt hat. Denn das, was Cameron da sagt, worüber die Briten reden möchten, das ist doch ganz vernünftig und richtig.
    Heinemann: Und ich schlage vor, dass wir demnächst überprüfen werden, ob die neue Kommission das besser machen wird.
    Verheugen: Richtig!
    Heinemann: Das war der SPD-Politiker Günter Verheugen, ehemaliger EU-Kommissar. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören!
    Verheugen: Ich danke Ihnen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.