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Kommt die Stunde der Radikalen?

Kalt ist es hier in Pozarevac. Ein eisiger Wind weht von der Donau herüber, nur in den kleinen, verqualmten Cafés der schäbigen Fußgängerzone kann man sich ein wenig aufwärmen - wenn man wenigstens ein bisschen Geld hat. Radmíla, eine Frau um die fünfzig mit einer dicken, schon deutlich abgetragenen Winterjacke und schadhaften Zähnen, hat keines.

Von Norbert Mappes-Niediek | 27.12.2003
    Als die an die Macht gekommen sind, haben sie alle Firmen verkauft, alles kaputt. Alles haben sie zerstört.

    Auf das Christkind oder nur auf einen verkleideten Weihnachtsmann wartet man hier in der Innenstadt von Pozarevac vergeblich. Immerhin wird heute eine Art Johannes der Täufer erwartet: Tomislav Nikolic. Er kämpft um die Wählerstimmen, die eigentlich seinem politischen Messias gebühren würden: dem Radikalen Vojislav Seselj, der seit Februar in Den Haag in Untersuchungshaft sitzt. Seselj ist der formale, Nikolic dagegen der faktische Spitzenkandidat der radikalen Partei, die überall außerhalb Serbiens als "extrem nationalistisch" qualifiziert wird. Radmila hofft, dass sie es schaffen.

    Wenn die Radikalen kommen, hoffen wir, dass es besser wird. Die sind als einzige ehrlich. Hier war ja die Aktion gegen die Verbrecher, und niemand von denen haben sie drankgekriegt wegen Machenschaften oder wegen dem Mord, gar nichts. Die sind am ehrlichsten!

    Es ist nicht das erste Mal, dass man hier einen Messias erwartet. In Pozarevac wurde einst Slobodan Milosevic geboren, ebenso seine Frau Mira Markovic, hier lernten die beiden jungen Gymnasiasten einander kennen.

    Tomislav Nikolic kommt heute tatsächlich nach Pozarevac. Hier muss er niemanden aufputschen. Schon im letzten Monat, bei den gescheiterten Präsidentenwahlen, hat er erschreckend gut abgeschnitten. Beruhigend wie ein guter Hausvater stellt sich Nikolic vor seine Anhänger: Wir haben alles im Griff, ist seine Botschaft, fürchtet euch nicht, alles wird gut. Das Paradies, das er verheißt, hat wenigstens organisatorisch große Ähnlichkeit mit dem Pozarevac der siebziger Jahre, als in Belgrad noch Tito regierte, als hier die Fußgängerzone errichtet wurde und die heruntergekommenen Häuser rechts und links noch neu waren. Es gab nur eine Partei, die man lieben oder auch hassen konnte, aber immerhin wusste jeder, wo oben war und wo unten.

    Wir gehen in die Dezemberwahlen mit dem großen Erfolg der Novemberwahl im Rücken. Wir haben große Ambitionen, wir wollen allein eine Regierung bilden, denn es ist liegt ja auf der Hand, dass es zur Abwertung der größeren Partei zu Lasten der kleineren kommt, wenn wir mit anderen Parteien zusammen gehen und eine Koalition bilden. Niemand will dann die Verantwortung übernehmen, jeder sagt, das war der andere. Deshalb wollen wir die Regierung allein bilden. Wenn wir es gut machen, dann wird das Volk das zu schätzen wissen. Wenn wir keinen Erfolg haben, dann verstecken wir uns nicht und übernehmen die Verantwortung. Es ist offensichtlich, dass jetzt die Zeit für die Radikalen gekommen ist, dass die Zeit so schwer ist, dass die Menschen in so großer Zahl für die Radikalen stimmen.

    Tomislav Nikolic ist alles andere als ein eifernder Hetzer. Er will nur Ordnung, nur klare Verhältnisse. Die großen Probleme lassen sich alle mit Ehrlichkeit und einem gesunden Menschenverstand lösen.

    Leben und leben lassen, jedem das Seine, jeder auf seine Art, und oben drüber die Partei - die patriarchalischen Toleranzformeln der Tito-Zeit verfangen in der Not noch immer. Wehe nur dem, der das Gleichgewicht stört - wie die Kroaten, die sich Anfang der neunziger Jahre selbstständig gemacht haben und denen der gerechte Zorn der Radikalen noch immer gilt, ganz unbeeindruckt von der Versöhnung, die der kroatische und der serbisch-montenegrinische Präsident vor wenigen Monaten feierlich begangen haben.

    Jahrhunderte lang haben die Kroaten immer wieder Völkermord an den Serben verübt und sich große Gebiete unter den Nagel gerissen, in denen die Serben in der Mehrheit waren. Alle Serben haben sie vertrieben, und noch immer wurden sie von der internationalen Gemeinschaft niemand dafür bestraft. Es ist völlig egal, wer da in Kroatien regiert, das interessiert uns überhaupt nicht. Wir haben hier Wahlen in Serbien, in Kroatien soll gewinnen wer will.

    Serbien ist drei Jahre nach Sturz des Slobodan Milosevic, ein gutes halbes Jahr nach dem Mord an Premierminister Zoran Djindjic ein trauriges, verunsichertes, enttäuschtes, ein gespaltenes Land. Die Radikale Partei mit ihren einfachen Wahrheiten hat gute Chancen, morgen bei der Parlamentswahl die stärkste Kraft zu werden. Tomislav Nikolic ist dabei, die vielen radikalen Sprüche seines Messias zu einer Art neuen Common sense glatt zu bügeln - genau zu dem also, was die verwirrten Serben brauchen.

    Man muss schon bis nach Pozarevac reisen, um von dieser Stimmung eine Ahnung zu bekommen. Studiert man allein die Wirtschaftsdaten und holt sich dazu in den politischen Instituten von Belgrad die Analysen ab, so staunt man einfach nur. Serbien, erfährt man dort, hat in den letzten drei Jahren enorm viel geschafft. Es gibt keine Inflation mehr. Das Land ist nicht mehr international isoliert, Kredite und Hilfsgelder fließen. Erste, wichtige Privatisierungen sind unter Dach und Fach gebracht. Das Pro-Kopf-Einkommen hat sich verdrei- bis vervierfacht, und was ein Arbeitnehmer heute nach Hause bringt, reicht inzwischen fast für den nötigsten Lebensunterhalt. Das sind die Erfolge. Serbien hat sie in kurzer Zeit spur- und restlos verdaut und ist wieder ebenso hungrig wie zuvor.

    Diese Aufholphase ist schon wieder vorbei. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, besonders unter Jugendlichen - neue Arbeitsplätze entstehen nur sehr, sehr langsam. Die Industrieproduktion geht schon wieder deutlich zurück - vor allem, weil serbische Produkte der Konkurrenz der Importeure kaum standhalten können. In diesem Jahr wird schon kaum noch Wirtschaftswachstum erwartet. Die korrigierte Vorhersage von einem Prozent Wachstum wird inzwischen für zu optimistisch gehalten.

    Die Erwartungen sind riesig. Smederevo, das riesige Stahlwerk an der Donau mit seinen immer noch 8.500 Arbeitsplätzen, unweit von Pozarevac, ist an US Steel verkauft worden - eine gelungene Privatisierung, wie jeder Fachmann sagen würde. Aber zunächst einmal haben die Arbeiter gegen ihren neuen Arbeitgeber sechs Wochen lang gestreikt. Sie wollten nicht länger für 33 Dinar pro Stunde arbeiten, ihren neuen, höheren Lohn, den sie erst im August ausgehandelt hatten. 33 Dinar sind 49 Euro-Cent. Jetzt bekommen sie 47 Dinar, knapp 70 Cent - ein guter Lohn, der allerdings immer noch nicht zum Leben reicht. Bei allem Fortschritt bleibt zu den Erwartungen der Serben eine Lücke, die niemand schließen kann.

    Morgen findet, ein Jahr vor der Zeit, die Parlamentswahl statt, die der im März ermordete Zoran Djindjic immer verhindern wollte. Die Regierung ist schon seit dem Sommer mehr oder weniger am Ende. Die Koalition aus 18 Klein- und Kleinstparteien, Gewerkschaften und Organisationen, die unter der Führung
    von Djindjic im Oktober 2000 die Macht erobert hatte, hat sich in Rekordzeit zerstritten. Djindjic tat seinerzeit nich alles, um seine bröckelnde Reformkoalition über die Zeit zu retten - oder fast alles; jedenfalls setzte er sich wiederholt auch über Beschlüsse des Verfassungsgerichts hinweg.

    Als erster brach Vojislav Kostunica heraus, der als letzter jugoslawischer Präsident direkter Nachfolger von Milosevic geworden war. Als nächste folgte die so genannte Gruppe 17 - eigentlich ein Gremium von Fachleuten, das die frühere Opposition gegen Milosevic beraten hatte, das aber, wie alles und alle in Serbien, selbst in die Politik drängte und sich zur Partei erklärte. Als dann im November eine der vielen Kleinstparteien dem Djindjic-Nachfolger Zoran Zivkovic die Gefolgschaft aufkündigte, waren die Neuwahlen nicht mehr zu vermeiden.

    Der Reformprozess war ohnehin schon weitgehend zum Stillstand gekommen - jedes Gesetzesvorhaben musste unter etlichen verfassungsrechtlichen Verrenkungen über die Hürden getragen werden. Profitiert haben von dem tödlichen Streit vor allem die Radikalen. Ihr Anführer Vojislav Seselj, der heute in Den Haag in Untersuchungshaft sitzt, war in den neunziger Jahren eine Art serbischer Schirinovski - eine Figur, die der allmächtige Milosevic mit einer Bewegung seiner Hand wie ein Jojo aufsteigen
    und abstürzen lassen konnte.

    Seit der große Puppenspieler weg ist, tanzen die Marionetten ganz alleine weiter. Die Sozialisten des Slobodan Milosevic,
    die ihren angeklagten Führer wieder als Spitzenkandidaten aufgestellt haben, dürfen morgen gerade noch mit den fünf Prozent rechnen, die sie brauchen, um wieder ins Parlament zu kommen. Die Radikalen, nun von niemandem mehr in Schach gehalten, haben ihre Nachfolge angetreten und vereinigen die Anhängerschaft des alten Regimes mit dem neuen Frust über die zerstrittenen Reformer. Dass sie stärkste Partei werden, steht außer Frage. Dass sie aber
    die Macht in Belgrad übernehmen, muss trotzdem noch als unwahrscheinlich gelten. Noch immer ist das Reformlager stärker als die Reaktion.

    Das Reformlager - soweit man davon noch sprechen kann - umfasst drei größere Parteien:

    - die "Demokratische Partei Serbiens" von Vojislav Kostunica,
    - die G-17-Gruppe unter Miroljub Lábus und dem früheren Nationalbank-Gouverneur Maldjan Dinkic und
    - Djindjics Demokratische Partei, die mit dem Gesicht des populären Verteidigungsministers Boris Tadic in den Wahlkampf zieht.

    Hinzu kommen die vielen Kleinstparteien, die sich zu Bündnissen
    zusammengeschlossen haben, um die Fünf-Prozent-Hürde zu überwinden. Die Namen ihrer Anführer sind weit bekannter als die der Parteien. Jeder weiß, dass sie irgendwie wichtig sind, aber keiner weiß warum. Über eine sachlich begründete Hausmacht verfügen vor allem noch die ethnischen Minderheiten der bosnischen Muslime aus dem Sandschak und der Ungarn aus der Vojvodina, die sich zu einer Liste zusammengeschlossen haben.

    Nur noch Ausdruck von Zersplitterung und Orientierungslosigkeit sind Listen wie die von Nebojsa Covic, dem glücklosen Kosovo-Beauftragten der Regierung, oder die so genannten "Liberalen" des Polizeiministers Dusan Mihajlovic, der sich zu allem
    Überfluss noch einen vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag angeklagten Polizeiführer mit auf die Liste geholt hat.

    Die Partei G-17, die Aussichten auf den dritten Platz hat, und
    die Studentenbewegung Ótpor, die ebenfalls eine Liste aufgestellt hat, kokettieren beide mit ihrem Anti-Parteien-Image und unterhalten unter gleichem Namen noch ein Wirtschaftsforschungsinstitut beziehungsweise eine
    demokratische Nichtregierungsorganisation, um in der Öffentlichkeit mit ihren Namensvettern verwechselt zu werden.

    Der neue starke Mann Serbiens in dieser Konstellation ist, sozusagen ex negativo, Vojislav Kostunica - soweit nach dem morgigen Tag irgend jemand noch stark genug ist, das Land zu regieren. Kostunica, ein langjähriger Dissident, baut vor der Wahl noch einmal das Pathos des Regimewechsels auf, das sich in den letzten Jahren so grausam verbraucht hat.

    Statt dass man Institutionen und einen wirklichen Rechtsstaat geschaffen hätte, eine sozial verantwortliche Wirtschaft, dass man abgerechnet hätte mit der Korruption, ist genau das Gegenteil passiert. Die Institutionen wurden abgebaut, statt eines Rechtsstaats haben wir einen Parteienstaat, statt Teilung der Macht eine Vereinheitlichung der Macht, statt Entschlossenheit bei der Abrechnung mit dem Verbrechen erleben wir dessen Ausbreitung. Das sind die Unterschiede zwischen unserer Demokratischen Partei Serbiens und der bisherigen Regierung.

    Einfache Gegensätze also, für alle leicht fasslich - und auch vor dosierter Demagogie scheut der 59-jährige Politologie-Professor nicht zurück:

    Im Jahr 2000 im September haben wir den Bürgern Serbiens versprochen, dass wir in sehr kurzer Zeit eine neue Verfassung schaffen. Das wäre das erste sowohl symbolische als auch tatsächliche Zeichen für einen Bruch mit dem Milosevic-Regime gewesen. Aber die serbische Regierung hat das nicht gewollt, weil das die Ausschreibung von Parlamentswahlen bedeutet hätte, und sie wollte eben noch ein bisschen länger an der Macht bleiben.

    An eine neue Verfassung, für die es eine Zweidrittelmehrheit gebraucht hätte, war schließlich nicht mehr zu denken, seit Kostunica im Sommer 2001 auf Opposition umgeschaltet hatte. Von einem Reformlager mag Kostunica heute nicht mehr sprechen. Da hilft es auch nicht, wenn man die programmatischen Gemeinsamkeiten zwischen der Djindjic-Partei und der Kostunica-Partei aufzählt: Demokratisierung, Übergang zur Marktwirtschaft, Mitgliedschaft in der Europäischen Union als Fernziel. Von einer neuen Koalition, einem neuen Anlauf zur Gemeinsamkeit, will Kostunica nichts wissen:

    Es ist schwierig, für eine solche Politik die Verantwortung zu übernehmen, schwierig, dem Volk, das mit dem gegenwärtigen Stand sehr unzufrieden ist, dann zu erklären, dass die Unterschiede zwischen uns nicht so wichtig sind.

    Immerhin lehnt der kommende Mann Serbiens eine Zusammenarbeit mit den Radikalen ab - auch wenn er die Gelegenheit nutzt, das Djindjic-Lager und die Extremisten auf eine Stufe zu stellen und von "zwei Regimen" zu sprechen, mit denen er brechen wolle:

    Was wir der Demokratischen Partei für die Zeit von 2000 bis 2003 vorwerfen, können und müssen wir natürlich auch den radikalen vorwerfen, die ja volle zehn Jahre auf diese oder jene Weise Serbien dominiert haben und damit verantwortlich sind für den Zustand des Landes. Ich will, dass auf eine Art die Wahlen am 28. Dezember 2003 eine Art Bruch sind mit beiden früheren Regimen, dem bis zum Jahr 2000 und dem bis zum Jahr 2003.

    Was die demokratischen Parteien in Serbien eigentlich entzweit, ist nicht leicht auf einen Begriff zu bringen: Es ist vor allem ihre gemeinsame Geschichte, die lange leidvolle Zusammenarbeit, die gemeinsam ausgestandene Verzweiflung in den Milosevic-Jahren, die die Oppositionellen nicht vereint, sondern immer wieder gegen einander aufgebracht hat. Immer wieder glaubte dieser oder jener vorpreschen oder einen taktischen Deal mit dem Regime schließen zu müssen, immer wieder rief der andere "Verrat!" Und bei allen wuchs über die Jahre der Wunsch, für die harte Zeit der neunziger Jahre in der Zukunft umso reicher belohnt zu werden - mit Gestaltungsmacht und mitunter auch mit persönlichen Einkünften. Zoran Djindjic hielt die Koalition mit Charisma, taktischem Geschick und auch mit einiger Skrupellosigkeit nur notdürftig zusammen. Sein gewaltsamer Tod am 12. März schmiedete die Reste des Bündnisses noch einmal zusammen - wenn auch nicht den schmollenden Kostunica, der sich auf keiner Trauerfeier blicken ließ und kaum ein bedauerndes Wort für den ermordeten Widersacher fand.

    Djindjics Nachfolger Zoran Zivkovic übernahm das Vermächtnis des ermordeten Premiers, vorgezogene Neuwahlen in jedem Fall zu vermeiden. Heute glauben seine Anhänger, dass das ein Fehler war: Zivkovic hätte im Frühjahr die Schocksituation in Serbien ausnutzen und gleich Neuwahlen ausschreiben sollen, statt ruhig zuzusehen, wie die Koalition doch zerbricht und Kostunica wieder an Boden gewinnt. Das eigentliche Problem aber liegt tiefer. Eine Person an der Spitze, die unbeirrt einen klaren Weg geht, fand sich nach Djindjics Tod nicht wieder.

    Es sind allerdings nicht nur die persönlichen Zerwürfnisse zwischen den Mächtigen, die eine entschlossene Figur an der Spitze hätte überbrücken müssen. Die Koalition, die vor drei Jahren das Regime stürzte, bestand nun einmal nicht nur aus pro-westlichen Reformern, wie Zoran Djindjic einer war.

    Djindjic wollte nach dem legendären 5. Oktober 2000, als das Volk sich erhob, die Gunst der Stunde nutzen, die Anhänger des alten Regimes aus den Schlüsselpositionen verdrängen, die nach wie vor gefährlichen Polizeitruppen auflösen - ein Konzept, das er nicht voll durchsetzen konnte, das aber, wie seine Ermordung dann zeigte, das richtige gewesen wäre. Kostunica zog nicht mit. Für Djindjic war der 5. Oktober eine Revolution, und die brachte für ihn ihre eigenen Gesetze hervor. Für Kostunica dagegen hatte bloß ein regulärer Machtwechsel stattgefunden, wenn auch mit etwas Nachhilfe durch das Volk.

    Immer wenn Djindjic einen Milosevic-treuen Polizeichef oder Betriebsführer absetzen wollte, verwies Kostunica auf das geltende Arbeitsrecht. Die gesetzlichen Bestimmungen jetzt endlich einmal treu anzuwenden - das war für ihn die eigentliche Revolution.

    Unsere Demokratische Partei Serbiens hat gemeint, dass man die Reformen im gesetzlichen Rahmen durchführen muss und dass jede andere Art von Veränderung schädlich sein kann. Die Regierung und die Demokratische Partei haben gedacht, dass ihr Weg der schnellere wäre. Später hat sich dann gezeigt, dass ihr Weg der langsamere war, denn alles was über den Bruch von Gesetzen geschehen ist oder über das Versäumnis, vernünftige Anti-Korruptions-Gesetze zu schaffen, hat gar kein Ergebnis gebracht. Die Demokratische Partei hat die Demokratische Partei Serbiens bezichtigt sie sei legalistisch, eine Partei also, die das Recht beachte. Ich habe das als Kompliment genommen. Denn wenn die Demokratische Partei Serbiens legalistisch ist, dann ist die gegenwärtige Regierung offenbar antilegalistisch.

    Legalistisch oder revolutionär - das ist ein Gegensatz von gestern: Vom revolutionären Aufbruch ist nichts geblieben; was Serbien heute braucht, aber nicht hat, sind funktionierende Institutionen - da sind sich inzwischen alle Reformparteien einig.

    Endgültig klar ist das geworden nach dem Attentat: In kürzester Zeit verschaffte sich die Regierung Respekt, verhaftete 10.000 Gauner und Mafiosi, die ein Jahrzehnt lang unverfroren mit ihren dicken Limousinen durch die zunehmend elenden Städte gerast waren. Ein Ruck ging durch das Land und für kurze Zeit sah es so aus, als könnte Serbien mit seinen Problemen fertig werden. Heute sind die allermeisten wieder frei - sogar etliche von denen, die seit Anfang der Woche für den Mord am Premierminister vor Gericht stehen.

    Schon zu Lebzeiten des ermordeten Premiers, endgültig aber danach, hat sich ein ganz anderer Widerspruch nach vorne geschoben: Die einen wissen und sagen offen, dass Serbien einen steinigen Weg vor sich hat, und die anderen machen glauben, dass es auch leichter ginge. Am deutlichsten wird das, wenn es um die Zusammenarbeit mit dem Haager Kriegsverbrechertribunal geht. Den Haag versteht unter "Zusammenarbeit", dass Angeklagte unverzüglich ausgeliefert werden, Belgrad dagegen, dass man darüber verhandelt.

    Dass die Verhaftung und Auslieferung mutmaßlicher Kriegsverbrecher eine absolute Voraussetzung für jede Annäherung Serbiens an die EU ist, wird in Belgrad gern verdrängt. Der Wind hat sich gedreht - in der Lücke zwischen dem fernen Ziel und dem Erreichbaren hat sich wieder die Illusion breit gemacht. Von Opfern, einem leidvollen Weg mit einem erstrebenswerten Ziel, traut sich in diesem Wahlkampf schon niemand mehr zu sprechen. Auch die Djindjic-Partei nicht: Den Mann, der die Milosevic-Auslieferung organisierte, hat sie kaltgestellt.

    Wie es weitergeht mit Serbien, wird sich bei der morgigen Wahl wohl noch nicht entscheiden. Die Europäische Union wird die Regierung in Belgrad weiter unterstützen, ohne sie mit so strengen Bedingungen zu quälen wie etwa die kroatische oder die im Kosovo. Zu groß ist die Furcht vor dem großen backlash, zu groß die nicht ganz unrealistische Angst, dass eines Tages doch die Radikalen an die Macht kommen und alle Bemühungen, den Balkan näher an Europa heranzuführen, wieder vereiteln könnten.